GESTERN - HEUTE - MORGEN: Von den Anfängen des Darwinismus 2. Die ideologischen Wurzeln

de Bertrand Louart*, 22 avr. 2009, publié à Archipel 170

Mit der Veröffentlichung von «Die Entstehung der Arten » (EdA) im Jahre 1859 versucht Darwin die «Natürliche Theologie » (1803) von Paley zu widerlegen. Er vermischt in seinem Buch, wahrscheinlich ohne es selbst zu merken, Wissenschaft und Ideologie. Er will in erster Linie nicht das Leben, so wie es ist, verstehen, sondern ein anti-theologisches Werk schaffen.

Die Verzerrungen durch die vorwiegend ideologischen Motivationen Darwins sind vielfältig, aber einfach zu erkennen, wenn man die ganz spezifische Perspektive, in der die EdA verfasst wurde, in Betracht zieht. Sie stammen alle von Quellen, die er benutzte, um den Mechanismus der natürlichen Auswahl zu ergründen: im Wesentlichen Paley, Malthus und Smith.

Die Theologie William Paleys (1743-1805) verherrlicht die Natur in einer Weise, dass sie seiner Idee Gottes entspricht; und diese gilt es zu widerlegen. Darwin vertauscht die Erklärung von der Entstehung der Arten, wie Paley sie 1802 vorgeschlagen hat: An die Stelle Gottes als schöpferische Kraft setzt er den blinden und unpersönlichen Mechanismus der natürlichen Auswahl; ansonsten belässt er die Ausdrücke, die Logik und die Rhetorik der «Natürlichen Theologie», im besonderen die Idee, dass die Organismen sich an ihre Lebensbedingungen anpassen.

«Beim Lesen der Natürlichen Theologie fiel mir die frappierende Ähnlichkeit von Struktur und Argumentation zwischen Darwin und Paley auf. (Obwohl Ersterer natürlich die Erklärung umkehrte). […] Die Argumentationsweise Darwins, seine ausgewählten Beispiele, die Worte und selbst der Rhythmus seiner Sätze sind vielleicht unbewusst durch diesen Autor beeinflusst. Einige Beispiele dieses entscheidenden Zusammenhangs: 1. Paley wie auch Darwin beziehen sich auf Vergleiche zwischen künstlich und natürlich und ziehen daraus Schlüsse. […] 2. Beide Autoren benutzen die gleichen Beispiele. […] 3. Darwin verwendet oft die Logik von Paley, manchmal um sie gegen seinen Vorgänger auszuspielen. […] 4. Paley diskutiert zahlreiche Themen, die später für Darwin von zentraler Bedeutung sind. […] Dieser Einfluss und das Bedürfnis, das System von Paley umzustürzen, hat die Karriere von Darwin überdauert.» - S.J. Gould, La structure de la théorie de l’évolution1.

Paley und Darwin haben die gleiche Konzeption vom Lebewesen, das einer Maschine ähnlich sei. Die ganze Rhetorik Paleys dreht sich um diese Idee: die Existenz von «lebenden Maschinen» ist der Beweis dafür, dass diese durch einen «obersten Ingenieur» geschaffen wurden.

Weltliche Vorsehung Dieser göttlichen Vorsehung setzt Darwin eine «weltliche Vorsehung» entgegen: den Zufall von Mutationen und die natürliche Auslese. Er ließ sich von der künstlichen Selektion der Tierzüchter inspirieren. Aber statt von einer bewussten Absicht in der Tierzucht zu reden, geht er auch hier von einem reinen Mechanismus aus. Malthus liefert ihm dazu den Motor; der Kampf ums Überleben (struggle for life) im Zusammenhang mit Nahrungsmittelknappheit.

«Es ist die Doktrin von Malthus, angewendet auf das ganze Tier- und Pflanzenreich. Jede Art bringt viel mehr Individuen auf die Wel, als überleben können; als Konsequenz wiederholt sich der Kampf ums Überleben unaufhörlich, und es folgt daraus, dass jedes Wesen, das sich auf vorteilhafte Weise etwas verändert, größere Überlebenschancen hat; dieses Wesen ist also Objekt einer natürlichen Selektion.» - EdA, Verlag GF.

Der Pastor Robert-Thomas Malthus (1766-1834) vertrat in seinem Buch Essay on the principle of population (1798) die Idee, dass die menschliche Bevölkerung einen geometrischen Zuwachs habe, die Nahrungsmittel hingegen bloß einen arithmetischen. Er schloss daraus auf die Notwendigkeit einer Restriktion der Geburten bei jenen, die ihre Nachkommen nicht durchfüttern konnten, d.h. die ärmsten Schichten der Bevölkerung. Es handelt sich um eine pseudowissenschaftliche Rechtfertigung einer ultraliberalen Konzeption, welche die Abschaffung der Sozialhilfe für Mittellose fordert (Poor Laws) und welche die Lebensmittelknappheit und den Wettbewerb, die durch das junge kapitalistische System geschaffen wurden, als «natürliche Phänomene» bezeichnet. Bei Malthus gibt es eine Art phantasmatischer Angst vor dem gemeinen Volk und seiner unkontrollierten Vermehrung, die in Wirklichkeit eher politische und ökonomische, denn ökologische und biologische Gründe hatte: Die große Landflucht durch die erzwungene Privatisierung des Gemeindelandes (enclosures) und die schnelle Industrialisierung Englands.

Das Problem ist auch, dass die «Multiplikationen» von Malthus nur auf dem Papier existieren; ein numerisches Modell vor der Zeit, d.h. ein intellektuelles Konstrukt, geschaffen mit dem Ziel, eine These zu illustrieren und zu belegen, also eine Fiktion ohne jeglichen Realitätsbezug zur Natur. Darwin weiß dies (UdA, Verlag GF): Die Lebensbedingungen beeinflussen die Fruchtbarkeit; wenn sie einschränkend sind, ist ein Geburtenrückgang zu verzeichnen und nicht bloß eine Zunahme der Sterblichkeit. In seinem Buch Philosophie zoologique (Verlag GF) widerspricht Lamarck Malthus: Die kleinen Tiere, die sich schnell vermehren, sind zahlreich und leben nur kurz; sie werden von größeren aufgefressen, die sich langsam vermehren, weniger zahlreich sind und länger leben; es gibt also einen relativen Überfluss in allen Etappen der Nahrungsmittelkette. Dort wo Darwin nur isolierte Individuen im Überlebenskampf sieht, begreift Lamarck, was im 18. Jahrhundert die Ökonomie der Natur in ihrer Komplexität und ihrer Vielfalt genannt wurde, als eine Art ökologisches Gleichgewicht unter verschiedenen Arten.

Gould bemerkt, dass die natürliche Auswahl der «unsichtbaren Hand» in dem Buch des Moralisten Adam Smith (1723-1790) «Der Reichtum der Nationen» (1776) gleicht, in dem er beschreibt, dass der Markt die Fähigkeit hat, sich selbst zu regulieren. Nach Smith sucht jedes Individuum sein eigenes Interesse, die beste Art und Weise, sein Kapital einzusetzen und seine Arbeitskraft zu verkaufen. Die Vernetzung und der unverfälschte Wettbewerb unter all diesen privaten Interessen im Rahmen des freien Marktes sollte zur größtmöglichen Produktion von Reichtum und Glück für alle führen; der Staat sollte sich möglichst wenig einmischen, den unbegrenzten Rahmen für Produktion und Transport schaffen, den Privatbesitz schützen und die öffentliche Sicherheit garantieren.

Gedankenexperiment Als Smith die Theorie des ökonomischen Liberalismus entwickelte, existierte um ihn herum nichts Derartiges. Es handelt sich hier wiederum um ein Gedankenexperiment, einen imaginären Neuentwurf über die Ökonomie in seiner Zeit, um die liberale Ideologie zu propagieren. Eine Fiktion, die leider in der Zeit Darwins zur Realität wurde, aufgrund der Politik und unglaublich brutalen Gesetzen der herrschenden Klasse Englands (enclosures, Repression der Ludditen 1812, Abschaffung der Sozialhilfe für Arme 1834…). Mit dieser Vision der Ökonomie als purem automatischem Mechanismus, theoretisierte Smith in Wirklichkeit die Zerstörung aller sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die nicht bloß auf wirtschaftlichen Interessen beruhen. Die Vielschichtigkeit von sozialen Verbindungen (Eltern, Nachbarn, Berufsverbände mit ihrer traditionellen Solidarität, gegenseitige Hilfe,…) wird in England anfangs des 19. Jahrhunderts - im wirtschaftlichen, industriellen und kolonialen Aufschwung - zu «kaltem Zins, zu harten Geldstücken» (Marx) reduziert.

Die englische herrschende Klasse schaffte, was kein Despot vor ihr jemals erträumte: Sie konfiszierte die Mittel für eine unabhängige Überlebenswirtschaft eines Teils ihrer Bevölkerung, um diese zu zwingen, in den Minen und Fabriken zu arbeiten. «Aber die Arbeit ist nichts anderes als diese menschlichen Wesen, aus denen jede Gesellschaft besteht, und die Erde ist das natürliche Milieu, in der jede Gesellschaft existiert. Diese in den Mechanismus des Marktes einzuschließen, bedeutet, die Substanz selbst der Gesellschaft den Marktgesetzen zu unterordnen.» (K. Polanyi, La grande transformation, 1944). Ökonomie und Technik bloß Privatinteressen und Marktkonkurrenz überlassen, werden zu einer autonomen Größe; sie werden von der Gesellschaft nicht mehr kontrolliert, sondern folgen ihrer eigenen Logik, der sich die Gesellschaft schlecht oder recht anpassen muss.

Für Gould ist die natürliche Selektion die ökonomische Vision von Smith, übertragen auf die Natur: Im Überlebenskampf bestehen nur Individuen, die über die vorteilhaftesten und nützlichsten Organe verfügen. Eine Vision der Lebewesen und der Natur, die von einem engen Utilitarismus beherrscht wird, in der nur die am besten Angepassten überleben (survival of the fitness).

Es ist bemerkenswert, dass sich Gould, wie auch andere Darwinisten, kaum daran störten, dass der Mechanismus der natürlichen Selektion weniger auf der Beobachtung der Natur beruht, sondern vielmehr auf Spekulationen von Theologen und Moralisten – anders gesagt von Ideologen – , die das Fundament der kapitalistischen und industriellen Ökonomie theoretisieren. Gould und andere reden sich mit erfundenen und schrägen Argumenten heraus: Der Ultraliberalismus könne in der Gesellschaft aus moralischen Gründen nicht funktionieren. Man könne die Schwachen und Nutzlosen nicht eliminieren. In der Natur hingegen, die «amoralisch» sei, fände dies statt, sie schrecke vor keinem Massensterben zurück, um die Fähigsten auszuwählen. Er scheint die Konsequenzen der industriellen Revolution Ende des 19. Jahrhunderts völlig zu ignorieren, die in England und Irland wie auch in den Kolonien große Armut und Hungersnot hervorbrachten und mehrere Millionen Menschen dahinraffte. Er übergeht Projekte und Verwirklichungen der Eugenik und des wissenschaftlichen Rassismus (A. Pichot, La société pure, 2001) und auch, was sich heute in den sogenannten Entwicklungsländern abspielt…

Gott ersetzen Darwin sprach von einem System mechanischer Zwänge, das gewissermaßen automatisch, blindlings und unpersönlich die Anpassung von Lebewesen an ihre Existenzbedingungen produzieren würde und in der Folge auch die Einordnung der Arten dank Differenzierung ihrer Anpassungsfähigkeit. Dieses System ist nach logischen Gesichtspunkten einleuchtend; aber es handelt sich um eine rein intellektuelle Konstruktion, mit dem Ziel, ganz bestimmte Tatsachen auszuleuchten: in erster Linie den Ursprung der Anpassung der Arten. Es ist also nicht die Beobachtung der Natur in ihrer ganzen Komplexität und Vielfalt, die diese Theorie hervorgebracht hat, sondern das System der natürlichen Selektion wurde mit dem Ziel geschaffen, die göttliche Macht zu ersetzen; erst anschließend bemühte sich Darwin, dieses System mit Tatsachen zu untermauern und, wenn es sich aufdrängte, auch mit Verzerrungen.

Es geht aber keineswegs darum, zu behaupten, dass die natürliche Selektion nicht existiere, und dass sie für die Anpassung der Arten überhaupt keine Rolle spiele. Aber sie ist nicht der wichtigste Mechanismus für die Evolution der Lebewesen, wie dies Darwin meinte. Sie reduziert sich nicht nur auf die Anpassung, wie das schon Lamarck herausgefunden hatte, als er die Klassifizierung der Wirbellosen (etwa 80 Prozent der Tierwelt) erstellte.

* B. Louart ist Redakteur von Notes & Morceaux choisis, Bulletin critique des Sciences, des technologies et de la société industrielle, im Verlag La Lenteur, Paris. Diese Artikelserie ist die Vorbereitung eines Buches mit dem Titel L’autonomie du vivant, in dem die Ideen und Analysen dieses Artikels eingehender behandelt werden.