GESTERN - HEUTE - MORGEN: Was ist der Wert? Über das Wesen des Kapitalismus

de Christian Höhner (Kooperative Haina), 6 nov. 2004, publié à Archipel 119

Seit einigen Jahren interessieren sich einige Mitglieder des EBF für kritische Theorie. Es fanden mehrere Seminare zum Thema Arbeit, Warengesellschaft und Kapitalismus in Frankreich und Deutschland statt. In den vorangegangenen Ausgaben des Archipel wurden bereits einige Artikel zu diesen Themen veröffentlicht.

Die ersten Werttheoretiker waren die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie: Adam Smith und David Ricardo. Sie gingen davon aus, dass die Arbeit, die benötigt wird, um ein Produkt herzustellen, den Wert einer Ware bildet. Die vergangene, verausgabte Arbeit liegt demnach gewissermaßen in der Ware und verleiht ihr so die Eigenschaft, Wert zu besitzen. Die Frage, warum überhaupt Produkte in den Waren produzierenden Gesellschaften eine Wert-Eigenschaft erhalten, konnten und wollten sie nicht beantworten. Das tat dann ein Kritiker des Waren produzierenden Systems namens Karl Marx. Auch bei ihm führt der Weg zum Wert über die Analyse der Ware. Was ist nun so Entscheidendes an der Ware zu entdecken?

Gegenüber einem Produkt zeichnet sich eine Ware per Definition dadurch aus, dass sie gegen eine andere Ware getauscht werden kann. Die Ware, z.B. ein Hammer, besitzt also nicht nur die Eigenschaft, dass er aus Holz und Eisen besteht und dass man mittels eben jenes Hammers Nägel in die Wand schlagen kann. Als Ware besitzt der Hammer «die Eigenschaft», tauschbar zu sein. Was ist damit gemeint?

Um beim Beispiel zu bleiben: Ein Hammer soll gegen eine Flasche Bier getauscht werden. Nun sind Hammer und Bier zwei völlig verschiedene Dinge für völlig unterschiedliche Zwecke. Ihre Unterschiedlichkeit mag zwar für denjenigen, der Bier trinken oder einen Nagel in die Wand schlagen will, von Bedeutung sein. Für den Tausch als logische Operation ist ihre konkrete Nützlichkeit ­ungeeignet. Denn: Beim Tauschakt geht es ja be­kann­termaßen um den Tausch von Gleichem oder Gleichwertigem. Wenn dem nicht so wäre, würde man bedenkenlos sein Auto gegen ein Stück Butter tauschen. Jedes Kind weiß, dass das Auto wertvoller ist. Offensichtlich ist es nicht die qualitative Eigenschaft (also die konkrete, sinnliche Natur) der Ware, die den Tausch möglich macht. Bier, Hammer, Auto müssen also irgendetwas besitzen, das sie untereinander gleich und damit vergleichbar macht.

Was ist das Gleiche an einem guten Bier und einem robusten Hammer?

Beide existieren nur, weil Menschen Energie zu ihrer Herstellung verausgabt ­haben. Dabei geht es aller­dings nicht um die kon­kreten Tätigkeiten, die die Herstellung von Bier und Hammer erfordern, denn als solche sind sie völlig verschieden. Gleich und vergleichbar werden sie nur, wenn von ihrer konkreten Natur abgesehen (abstrahiert) wird. Es geht dann nicht mehr um den konkreten Vorgang des Bierbrauens bzw. Hammerherstellens, sondern darum, dass überhaupt Energie verausgabt wird. Marx verwendet dafür auch den Begriff der abstrakten Arbeit. Abstrakte Arbeit - so Marx - vergegenständlicht sich in der Ware und bildet deren Wert. Um den Wert einer Ware betrachten zu können, muss also von der gesamten konkreten Erscheinung des Hammers abgesehen werden. Was man dann in den Händen hält, ist ein recht seltsames abstraktes Häufchen verausgabter menschlicher ­Energie.

Die Ware besitzt also einen Doppelcharakter. Sie ist einerseits ein konkretes, sinnliches Ding. Andererseits ist sie ein ab­strak­tes, rein quantitatives Wert-«Ding».

Exkurs: Gebrauchswert

Marx nennt die konkret-sinnliche Gestalt der Ware: den Gebrauchswert. Bei Marx ist der Gebrauchswert noch eine überhistorische Kategorie. Tatsächlich ist der Gebrauchswert dem Diktat des Werts gleich mehrfach unterworfen. Zum einen wird nur das hergestellt, was sich auch verwerten bzw. indirekt über die Verwertung realisieren lässt. Zum anderen beherrscht das Verwertungsdiktat den Produktionsprozess selber. Maschinerie wie Produkt sind unter dem Gesichtspunkt der Verwertung organisiert. Es ist der Produktion wie dem Produkt anzusehen, dass es unter dem Diktat abstrakter betriebswirtschaftlicher Effektivität organisiert ist.

Allgemeiner ausgedrückt: Der Gebrauchswert ist nur die Konkretion der Ab­strak­tion des Werts. Der Gebrauchswert gibt nur in einem abstrakten Sinn Nützlichkeit an: Nützlichkeit überhaupt . Z.B. eine Bombe ist auch ein sinnlich-konkretes Ding mit einer gewissen Nützlichkeit. Spätestens mit den Skandalen in der Lebensmittel­industrie dürfte klar sein, dass die Aussage von Marx, dass die Brötchen in der feudalen Gesellschaft genauso schmecken wie im Kapitalismus, nicht aufrechtzuerhalten ist. Der Gebrauchswert ist nicht überhistorische Konstante, sondern neu zu bestimmen als der Ware zugehörig.

Wie aber ergibt sich die Größe des Werts?

Dass die Zeit hierbei eine Rolle spielt, die zur Verausgabung menschlicher Energie an einer Ware notwendig ist, scheint einleuchtend. Nun gibt es da ein Problem: Der Hersteller eines Autos wird zum Beispiel nicht auf den Gedanken kommen, langsamer zu arbeiten, um den Wert seines Fahrzeuges zu erhöhen - was übrigens auch nicht passieren würde. Er muss sich nämlich mit seiner Konkurrenz und deren wissenschaftlich-technischem Vermögen, Autos herzustellen, messen. Allgemein kann man also sagen, dass sich die Größe des Werts aus der Größe der abstrakten Arbeitszeit in Abhängigkeit von der durchschnittlichen gesellschaftlichen Produktivität ergibt.

Wir wissen dank Marx zwar jetzt, dass die ab­strakte Arbeitszeit in Abhängigkeit von dem Standard der Produktivität die Größe des Werts festlegt. Wie kann man jedoch diese Größe genau ermitteln? Ganz einfach: gar nicht. Es gibt zwar Stechuhren und Arbeitsplätze, wo die Einhaltung der Zeitvorgaben überwacht wird. Aber es gibt einfach keine Mess­instrumente, die die ab­strakte Arbeitszeit oder gar den durchschnittlichen Standard der Produktivität irgendwie messen könnten.

Trotzdem gibt es Preise an jeder Ware, wie man sich im Supermarkt überzeugen kann. Das liegt daran, dass Wert und Preis nicht identisch sind. Der Wert - so könnte man sagen - ist die eiserne Richtschnur, um die herum der Preis zirkuliert.

Wer legt fest, welche Ware welchen Wert erhält?

Die Antwort ist so einfach wie verwirrend: die Waren selber. Das Irrsinnige dieser Feststellung sticht geradezu ins Auge. Dinge haben per se keinen eigenen Willen und erst recht können sie keine Entscheidungen treffen. Und trotzdem verhält es sich gewissermaßen so. Warum aber?

Indem die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer tagtäglichen Praxis ihre Produkte gegeneinander tauschen, setzen sie ihre Tätigkeiten einander gleich. Dieses Gleichsetzen verleiht den Produkten die gespenstische Eigenschaft, Wert zu besitzen. Gespenstisch ist diese Eigenschaft, weil es den Produkten von Natur aus nicht zusteht, Wert zu besitzen. Der Wert einer Ware, z.B. eines Diamanten, ist auch durch eine atomare Analyse nicht zu ermitteln. Da sind nur Kohlenstoffatome.

Wir haben es also mit einer Paradoxie zu tun: Der Wert ist da und auch wiederum nicht. Die Dinge besitzen nicht von Natur aus Wert, erst durch die Tauschpraxis der Menschen kommt der Wert in die Welt. Das Verhalten der Menschen wird so paradoxerweise zu einer «Eigenschaft» eines Dinges; es «fährt» in die Dinge hinein und «beseelt» die Warenkörper, die sich nun scheinbar zu anderen Waren «verhalten» können. Das soziale Verhältnis von Menschen verkehrt sich zu einem verdinglichten Verhältnis von Sachen. Dieses Verhältnis von Dingen kann natürlich nur ein schein bares sein, aber es handelt sich um einen realen Schein, der sich erst verflüchtigt, wenn sich die Menschen nicht mehr in dieser spezifischen Art und Weise gesellschaftlich aufeinander beziehen.

Warenfetischismus

Marx nennt das Unvermögen, nicht anders als über die «Produkte der menschlichen Hand» gesellschaftlich aufeinander Bezug nehmen zu können, Warenfetischismus. Die mystisch-fetischistische Basis der aufgeklärten Warengesellschaft findet eine Analogie im Reich der Religionen. «Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu ­finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand», sagt Marx im 1. Band des «Kapitals». Ob Totem, Naturgötter, Gott oder die Ware: Die gesellschaftliche Synthese erfolgt nicht in der Form eines unmittelbaren gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses, sondern indirekt durch unbewusste, gemeinsame Bezugnahme auf etwas scheinbar «Äußerliches», das scheinbar unabhängig vom bewussten Treiben der Menschen den gesellschaftlichen Zusammenhang wie eine Matrix strukturiert. Diese Matrix erscheint nicht als durch die Menschen gemachtes Verhältnis, sondern als ein quasi-natürliches bzw. naturgesetzliches. Aber dieses Naturgesetzliche ist nichts weiter als die eigene gesellschaftliche Form , in welcher sich die Menschen in der Warengesellschaft aufeinander beziehen. Und so reicht es nicht, sich dieser unbewussten Form einfach bewusst zu werden. Vielmehr muss sich die Form der gesellschaftlichen Praxis der Menschen zueinander verändern, so dass die Vermittlungsprozesse zwischen Mensch-Mensch und Mensch-Natur in bewussten Kommunikationsprozessen vollzogen werden.

Warentausch auf dem Weg zum…

Nun könnte es in der Natur des Menschen liegen, zu tauschen. Auch wenn der Mainstream der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften davon ausgeht, ist der Warentausch in den vormodernen Gesellschaften nicht das Vergesellschaftungsprinzip gewesen. Wenn überhaupt getauscht wurde, so handelte es sich um ein randständiges Phänomen. Die vormodernen Gesellschaften funktionierten als Subsistenzwirtschaften und diese verfügten über verschiedenste Formen der Verteilung von Produkten, z.B. durch persönliche Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnisse. Es zeichnet erst die kapitalistische Gesellschaft aus, dass das Tauschen zum einzigen Prinzip des «Stoffwechselprozesses des Menschen mit der Natur» wird.

Wie wird aber das Prinzip des Tauschens zum allgemeinen Prinzip gesellschaftlicher Vermittlung? Historisch betrachtet war der Tausch so lange randständiges Phänomen, wie die Menschen über eigene oder gemeinsame Mittel zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse verfügten. Erst die gewaltvolle Trennung der Menschen von diesen Mitteln machte Kapitalismus und damit die Verallgemeinerung des Tauschprinzips möglich. Erst im Kapital vollendet sich die Logik des Tauschens. Um das zu verstehen, müssen wir uns nochmals dem Wert zuwenden.

Die Wert-Eigenschaft der Dinge entsprang einem spezifischen unbewussten Verhältnis der Menschen. Ein soziales Verhältnis wurde zu einer Eigenschaft einer Sache. Diese Wert-Eigenschaft ist das Ergebnis einer realen Abstraktion als logische Bedingung des Tauschaktes. Um sinnlich verschiedene Dinge gleich und damit ver­gleich­bar zu machen, muss gerade von ihrer Sinnlichkeit abgesehen werden. So verwandeln sich sinnliche Gegenstände zu abstrakten Wert-Dingen, die nichts weiter darstellen als Arbeitsprodukte überhaupt , in denen menschliche Energie überhaupt verausgabt wurde. Der Wert ist also der gemeinsame Nenner der Waren - verausgabte, vergegenständlichte oder auch geronnene menschliche Energie - über den sich die Waren aufeinander beziehen können.

Der Wert - seinem abstrakten Wesen entsprechend - kann nun in verschiedenen Formen und Aggregatzuständen auf der sinnlichen Oberfläche der gesellschaftlichen Praxis erscheinen . Er kann u.a. in der Gestalt von Waren oder in der von Geld erscheinen . Im Geld erscheint der Wert als praktischer Vermittler zwischen verschiedenen Waren. Ein Beispiel: Ein Bäcker stellt Brötchen her, um sie gegen Geld zu tauschen. Mittels jenes Geldes tauscht der Bäcker all die Dinge ein, die er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse benötigt. Hier erscheint das Geld als relativ harmloses und sinnvolles Instrument: Hergestellte Waren werden gegen Geld und dann wieder gegen Waren getauscht, die dann konsumiert werden sollen; Ware – Geld – Ware. Der Wert schlüpft ge­wisser­ma­ßen zuerst in das Kostüm einer Ware, dann in das des Geldes, um sich schließ­lich wieder in eine Ware zu verwandeln. Dieses vermeintlich idyllische Bild einfacher Warenproduzenten hat allerdings nichts mit Kapitalismus zu tun.

…Kapital

Was ist nun Kapital? Dafür ist es notwendig, die Bewegung Ware – Geld – Ware in ihre einzelnen Segmente zu zergliedern und neu zusammenzusetzen: Geld – Ware – mehr Geld. Diese Bewegung ist Kapital. Im Unterschied zu Ware – Geld – Ware, wo zumindest noch am Anfangs- und am Endpunkt die Ware steht und das Geld nur vermittelnd zwischen beide Waren tritt, hat sich der Wert in seiner Ausdrucksform Geld selber zum Ausgangs- und Endpunkt der Bewegung des Kapitals gemacht, wobei die Bewegung Geld – Geld nur «Sinn» macht, wenn sich das Geld vermehrt. Der Wert ist zu seinem eigenen Ziel geworden, seine eigene sinnstiftende Instanz, er heckt sich selber als Selbstzweck. Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse sinkt zu einem bloßen Mittel herab, zu einem notwendigen Übel. Die «Maschine» Kapital ist also ein selbstbezüglicher Automatismus, oder wie Marx es nennt: das automatische Subjekt. Alle menschlichen Bedürfnisse und die damit verbundenen Interessen können sich nur noch verwirklichen, wenn sie innerhalb der Kapitalbewegung gewissermaßen als Kollateralschaden abfallen. Die Produktion der Waren ist zum notwendigen Übel geworden, um aus Geld mehr Geld zu machen. Da der Gesellschafts- und Naturbezug der Menschen in der Warengesellschaft nur im Rahmen der selbstzweckhaften Bewegung des Werts (Kapital) erfolgt, der Wert aber eben von diesem Bezug absieht, weil er nur sich selbst und seine Selbstvermehrung kennt, sinken die Menschen zu bloßen Exekutoren der Bewegung des ­Kapitals herab. Die Menschen werden zu Funktionsträgern bzw. zu Charaktermasken eines sie beherrschenden Automatismus, der nichts weiter ist als ihre eigene verrückte, unbewusste, gesellschaftliche Vermittlungsform.

Christian Höhner

Kooperative Haina

Dieser Artikel ist auch in «Streifzüge» Nr. 30, April 2004 (Wien), erschienen