INTERNATIONALER APPELL: Die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl

de Nicolas Furet (Radio Zinzine), 4 juin 2005, publié à Archipel 127

Beinahe zwanzig Jahre nach der Explosion eines Reaktors im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl ist die - noch immer provisorische - Bilanz überaus beunruhigend, und das in mehreren Bereichen: Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft in den verseuchten Gebieten, aber auch vom politischen und wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, sowohl in der Ukraine und in Belarus, als auch in Europa und der restlichen Welt, wo von den Lobbies der Atomindustrie eine gezielte Desinformationspolitik betrieben wird.

Nach der Verseuchung durch die «Wolken von Tschernobyl», die von den «kompetenten» Stellen systematisch geleugnet wurde, schufen eine Handvoll Bürgerinnen und Bürger in Frankreich ein Laboratorium, das vollständig unabhängig die Verseuchung der Umwelt und der Nahrungsmittel untersucht, die CRIIRAD (Commission de Recherche et d’Information Indépendante sur la Radioactivité – Unabhängige Forschungs- und Informationskommission über Radioaktivität) *. Seit 18 Jahren ist diese Kommission in Frankreich tätig und immer häufiger auch im Ausland.

Heute arbeitet die CRIIRAD an einem ambitiösen Projekt: Die Schaffung eines unabhängigen Laboratoriums in Belarus, dem am stärksten von der radioaktiven Verseuchung betroffenen Land. Direktorin des Labors soll die Kinderärztin Galina Bandashevskaia werden, die Frau von Juri Bandaschewsky, Spezialist für Atompathologie, ehemaliger Direktor und Gründer des medizinischen Instituts von Gomel. Er wurde am 13. Juli 1999 verhaftet und am 18. Juni 2001 nach einem skandalösen Prozess von einem Militärgericht zu acht Jahren Haft, Beschlagnahmung aller seiner Güter und Berufsverbot bis fünf Jahre nach Verbüßung seiner Strafe verurteilt.

Wofür? Offiziell dafür, Bestechungsgelder angenommen zu haben von Eltern, die ihre Kinder in seinem Institut behandeln lassen wollten, eine Anschuldigung, von der sich herausstellte, dass sie den Zeugen unter Druck entrissen wurde. Sein eigentliches Verbrechen ist natürlich viel schwerwiegender:

Die Arbeiten von Dr. Bandaschewsky über den Gesundheitszustand der Bevölkerung von Gomel, eine der am stärksten verseuchten Regionen, werfen die bestehenden Lehren über radioaktive Verstrahlungen, die aufgrund von Beobachtung der Bevölkerung von Hiroshima und Nagasaki erstellt wurden, über den Haufen. Auf der Grundlage von Untersuchungen von verstorbenen Kindern und Erwachsenen und einem Vergleich seiner Ergebnisse mit denen des Instituts Belrad von Professor Nesterenko, stellte Bandaschewsky eine Verbindung her zwischen den Missbildungen bei Kindern und dem Grad ihrer Verstrahlung, insbesondere mit Cäsium 137. Die Beweise häufen sich über die Wirkung von Cäsium 137, das sich besonders im Herz und in den Nieren ansammelt und Immunsy-stem, Blutkreislauf, Drüsenfunktion und Fortpflanzungsorgane verändert. Dies wurde auch von Rosa Gonscharova vom belarussischen Institut für Zellforschung bestätigt, die Versuche an mit verseuchten Nahrungsmitteln gefütterten Tieren durchführte. Diese Erkenntnisse stellen bisher gebräuchliche Begriffe wie «kleine Mengen» oder «verträgliche Mengen» völlig in Frage. Wenn nämlich erwiesen ist, dass sich Cäsium 137 in gewissen Organen ansammelt, so wären die zur Zeit angewendeten Messungsmethoden trügerisch, denn sie geben eine durchschnittliche Verseuchung in einem Körper an. Eine kleine Menge, und noch eine kleine Menge, x-Mal absorbiert, ergibt schließlich eine hochprozentige Akkumulation. Das ist sicherlich einer der Hauptgründe dafür, dass zur Zeit 80 Prozent der Kinder, die in verseuchten Zonen leben, ständig krank sind. In gewissen Gegenden sind es alle Kinder.

Diese Erkenntnisse sind natürlich wissenschaftliche Bomben, die alle aufgrund der Studien von Hiroshima und Nagasaki begründeten Theorien in Frage stellen. Doch auf diese stützen sich die Atomfanatiker von der Internationalen Atomenergiebehörde und leider auch die Experten der Weltgesundheitsorganisation, zwei UNO-Behörden, die seit 1959 durch einen Vertrag verbunden sind. Dieser Vertrag verhindert eine seriöse und unabhängige Arbeit der WHO in Bezug auf die Folgen nuklearer Verseuchung. Professor Baverstock von der WHO führte 12 Jahre lang, von 1991 bis 2003, einen internen Kampf, bis schließlich anerkannt wurde, dass Teile der ukrainischen und der belarussischen Bevölkerung in Folge der Explosion von Tschernobyl von Schilddrüsenkrebs befallen wurden. Seither – und das ist typisch für Fanatikerkreise, denen teilweise die Augen aufgehen – spricht man nur mehr von Schilddrüsenkrebs, um besser zu verschleiern, dass die Folgen von Hiroshima und Nagasaki fast nichts gemein haben mit der Explosion von Tschernobyl, deren Konsequenzen unvergleichlich viel schlimmer sind. Sie sind heute aufgrund der lang anhaltenden schädlichen Wirkung gewisser radioaktiver Elemente und die mögliche genetische Übertragung der Verseuchung noch nicht abschätzbar.

Das unverzeihbare Verbrechen Bandaschewskys ist also folgendes: Wenn die Internationale Gemeinschaft seine Arbeiten überprüfen würde und sich die Ergebnisse bestätigten, müssten an die acht Millionen Menschen aus der Ukraine und aus Belarus evakuiert werden, die sonst einschließlich ihrer Nachkommen zu einem langsamen Tod verurteilt sind. Dies nicht zu tun käme einer unterlassenen Hilfeleistung für gefährdete Menschen gleich, einem Verbrechen gegen die Menschheit.

Wenn die Behauptungen Bandaschewskys richtig sind, so drängt sich noch eine Tatsache auf, die von Vassilij Nesterenko, einem ehemaligen hohen Beamten der sowjetischen Atombehörde unterstrichen wird: Die Nukleartechnologie stellt ein zu hohes Risiko dar, sogar die reichen Industriestaaten können nicht wirksam gegen eine Katastrophe wie die von Tschernobyl kämpfen.

Obwohl Bandaschewsky weiß, dass seine Schlussfolgerungen denen der internationalen Experten widersprechen und sich gegen die Neuansiedlungspolitik des belarussischen Staates in den verseuchten Gebieten richtet, publiziert er die Ergebnisse seiner Forschung, bricht das Schweigen. Erstes schweres Verbrechen.

Das zweite: B. war Mitglied einer Kommission, welche die Verwendung von 17 Milliarden Rubel überprüfen sollte, die von der Internationalen Gemeinschaft dem In-stitut für wissenschaftliche und klinische Forschung über Verstrahlung zur Verfügung gestellt worden waren. Er kam zum Schluss, dass nur 1,1 Milliarden effizient eingesetzt und der Rest verschwendet worden war. Die Antwort der Regierung kam sofort und war unmissverständlich.

Seit dem 28. Mai 2004 ist B. dank einer internationalen Solidaritätskampagne auf freiem Fuß, bleibt aber vielleicht bis Anfang 2007 suspendiert. Obwohl er von den im Gefängnis verbrachten Jahren sehr müde ist, weigert er sich, klein beizugeben und hofft, seine Arbeit wieder aufnehmen zu können, denn es bleibt noch viel zu tun: Den Zusammenhang aufzeigen zwischen radioaktiver Verseuchung und der Steigerung der perinatalen Sterblichkeit und den angeborenen Missbildungen, die Rolle der Radionuklide beim Auftauchen neuer Erbkrankheiten oder bekannter Krankheiten wie Diabetes, Arteriosklerose, Bluthochdruck, Herzinfarkt, welche immer früher und sogar bei Kindern auftreten, wie Cäsium bei Kindern zu Erkrankungen des Herzens und der Nieren oder zur Veränderung des Nervensystems und der Sehkraft führen kann.

Alle diese Fragen sind nicht in den europäischen Forschungsprogrammen CORE und SAGE enthalten. Es ist klar, dass diese von der EU finanzierten Forschungsarbeiten, die größtenteils von Experten der Atomlobby geleitet werden, zum Ziel haben, die verseuchten Regionen zu einem riesigen «Freiluft-Laboratorium» zu machen, um «den Schutz vor radioaktiver Verstrahlung in Westeuropa aufzubauen und im Falle eines Zwischen- oder Unfalls effizient reagieren zu können»,

Der Leiter von SAGE, Jacques Lochard, Direktor des Studienzentrums für die Evaluierung des Schutzes im Nuklearbereich, finanziert von EDF (frz. Elektrizitätsgesellschaft), erklärt: «Es ist wichtig, sich in Westeuropa mit Schutzmaßnahmen zu befassen, denn erstens sind seit Tschernobyl im Norden Norwegens und im Süden Schottlands weite Zonen verseucht, und zweitens muss man auf eine Katastrophe vorbereitet sein.»

Es ist sonnenklar, dass nicht eine Sekunde daran gedacht wird, auf diese selbstmörderische Technologie zu verzichten. Es geht auch darum, einen neuen, viel versprechenden Zweig der wissenschaftlichen Forschung zu entwickeln, nämlich den Umgang mit dem Risiko.

Was die Bevölkerung der Ukraine und von Belarus betrifft, scheinen die Experten ihre langsame Agonie ungestört weiter beobachten zu wollen. Denn die einzige Maßnahme, die von Professor Nesterenko entdeckt wurde, die Behandlung mit «Vitapect», einem Nahrungszusatz auf Grundlage von Pektin, welches die Eliminierung der Radionuklide aus dem Körper fördert, ist in den Programmen CORE und SAGE nicht vorgesehen. Auch keine Studie über seine Wirksamkeit, auch nicht die Wiederaufnahme der Forschungsarbeit von Bandaschewsky.

Es wird immer dringender, Zugang zu nicht verseuchten Informationen zu bekommen. Die Forschung muss von unabhängigen Wissenschaftlern durchgeführt werden, die keinerlei Bindung zur Geschäfts- und Industriewelt haben. Wir bitten Sie also, sich an einer internationalen Kampagne der CRIIRAD zu beteiligen, um die nötigen Mittel für den Kauf und die Einrichtung eines Laboratoriums in Belarus aufzubringen. Es braucht dafür etwa 110.000 Euro.

Was hier vor sich geht ist lebenswichtig für die Zukunft der gesamten Menschheit, falls es eine solche Zukunft gibt.

Nicolas Furet

Radio Zinzine

* Homepage: www. Criirad.org

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