ISRAEL / PALÄSTINA :Reisetagebuch aus Palästina

de Olga Widmer, 6 nov. 2004, publié à Archipel 119

Olga Widmer ist diesen Sommer mit Freunden nach Palästina gefahren, um als Kamerafrau ­einen Film über das tägliche Leben im Gazastreifen zu drehen. Realisiert wird der Dokumentarfilm von Samuel Albaric, ebenfalls beteiligt ist die Foto­grafin Joss Dray. Heute veröffentlichen wir den ersten Teil der fast täglichen Berichte Olga Widmers über die Ereignisse während ihres Aufenthaltes.

Ankunft

9.7.04: Nun bin ich zurück in Palästina, mit Joss und Sam, um die Dreharbeiten von Sams Dokumentarfilm wieder aufzunehmen. Gestern sind wir in Tel Aviv gelandet, dort haben uns die Sicherheitsbeamten zwei Stunden warten lassen. Sie durchsuchten nur die Taschen von Joss und haben kaum Fragen gestellt. Dieses Mal war die Ankunft fast banal. Am Montag nahm das französische Konsulat das Verwaltungsverfahren für unsere Einreise nach Gaza über den Check-Point Gaza auf. Wir hoffen, mit den Dreharbeiten um den 20. Juli herum anfangen zu können. Diese lange Wartezeit macht mich krank. Wir werden sie dazu nutzen, um uns vorzubereiten und um Freunde im Westjor­dan­land zu besuchen. Heute Nachmittag werden wir Leute treffen, die einen Hungerstreik gegen den Mauerbau durchführen.

Ein Ausflug

11.7.04: Ich würde Euch gerne über den Wahnsinn der Check-Points und den Bau der Mauer berichten. Heute haben wir den Tag in Ramallah verbracht, einige Kilometer von Jerusalem entfernt. Vor der zweiten Intifada dauerte die Fahrt, um in diese Stadt zu kommen, zehn Minuten und kostete 2,50 Schekel. Heute ist es eine wahre Expedition, die teuer ist. Zuerst haben wir ein Kollektivtaxi für 3,50 Schekel genommen. Dieses mussten wir am Check-Point Calendia wieder verlassen, um ihn zu Fuß zu überqueren. Es war sehr staubig und die Soldaten beobachteten uns ohne Unterlass, mit dem Finger am Abzug. Auf der anderen Seite nahmen wir wieder ein Taxi bis zum Zentrum von Ramallah für 2 Schekel. Auf dem Rückweg mussten wir die gleichen Taxis zum selben Preis nehmen. Bis wir nach Jerusalem kamen, wurden unsere Pässe zwei Mal kontrolliert. Der Chauffeur musste einen Umweg von 15 Minuten machen, normalerweise dauert der Weg nur einige Minuten. Diesen Abend sah ich zwei alte Frauen, die sich nur mit Mühe fortbewegten. Ihr könnt Euch denken, was dieser Umweg für sie bedeutete. Auf der Strecke zwischen dem Check-Point und Ramallah haben wir den Fortschritt des Mauerbaus beobachten können. Sie verläuft über einen Teil der Straße, die bald aufgegeben wird. Hunderte von Mauerelementen liegen auf dem Boden, in einer Linie aufgereiht, bis sie aufgerichtet werden. Diese Vision ist beängstigend. Die Straße ist voller Schlag­löcher, und bald wird die Fahrt zwischen Ramallah und Jerusalem noch schwieriger.

Jenin

16.7.04: Diesmal erreicht Euch mein Mail aus dem Cyber-Café von Jenin. Seit Mittwochabend sind Sam und ich mit Joss und Stephan für einige Tage im Lager von Mukkaham. Dort fand im März 2002 ein Streifzug israelischer Soldaten statt, der mit einem Massaker und der Zerstörung einer großen Anzahl von Häusern endete. Heute baut die UNWRA die Häuser wieder auf und das Leben geht so einiger­maßen weiter. Auch Jenin trägt die Zeichen von Streifzügen. Die Panzer hinterlassen ihre Abdrücke auf der Strasse und die Gehsteige sind beschädigt. Die Menschen gehen am Abend nicht mehr aus dem Haus. Sie haben Angst, ungeschützt von einem Streifzug überrascht zu werden. Die Mauer wird auch in Jenin gebaut. Viele Bewohner werden ihr Land verlieren, weil sie die Stadt von drei Seiten eingrenzen wird. Auf der Fahrt nach Jenin lernten wir den Wahnsinn der Check-Points noch näher kennen. Wir mussten vier von ihnen überqueren und wurden drei Mal kontrolliert. Während dieser paar Tage tauchte ich noch mehr in die palästinensische Realität ein. Die Armut wird immer größer, und es ist keine Veränderung abzusehen. Waffen sind allgegenwärtig und Konflikte werden im zunehmenden Maße mit Kalaschnikows geregelt.

Ich muss Euch sagen, dass ich mich heute nicht besonders gut fühle. Bemerkungen eines Jugendlichen haben mich sehr verletzt. Es gefiel ihm nicht, dass ich einigen Männern die Hand geschüttelt habe (18-Jährigen, mit denen wir Tee tranken). Zweimal kam er darauf zurück. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, wie ich mich verhalten soll. Die Blicke der Männer belasten mich, und ich treffe sehr wenige Frauen in meinem Alter. Ich habe diesen Schmerz und diese Ungerechtigkeit bisher noch nie so stark gespürt. Morgen verlassen wir Jenin und fahren nach Saint Jean d’Acre, um dort Freunde von Joss zu besuchen. Wir hoffen, dass wir am Dienstag endlich nach Gaza einreisen können. Ich kann es kaum erwarten, weiter zu drehen und die Freunde wieder zu sehen.

Auf der Durchreise in Herez

22.7.04: Endlich sind wir in Gaza. Als wir gestern am Check-Point von Herez ankamen, erklärte uns ein Soldat, dass ich einreisen dürfte, aber für Joss und Sam läge keine Erlaubnis vor. Joss musste also noch einmal das Konsulat kontaktieren. Wir waren beunruhigt, da die Durchreise nur sehr wenigen Leuten gewährt wird. Selbst israelischen Journalisten wird sie verweigert. Außerdem wurden in der letzten Woche vier französische Journalisten entführt. Das half uns nicht gerade weiter, da dies natürlich ein brauchbares Argument war, um uns die Einreise zu verweigern. Glücklicherweise bekamen wir die Erlaubnis nach zwei Stunden. Nach der Überquerung des Grenzpostens entdeckten wir das auf der anderen Seite herrschende Chaos. Zu allererst wurden wir von den Kofferträgern in Beschlag genommen, die uns teuer kamen. Es sind Dutzende, die darauf hoffen, einige Schekel zu verdienen, aber es gibt sehr wenige Reisende. Die Straße ist voller Schlaglöcher, die mit Sandhaufen aufgefüllt sind. Ein israelischer Panzer zielte mit seiner Kanone auf die Vorübergehenden. Vier Soldaten, die sich auf diesem technischen Meisterwerk komfortabel eingerichtet hatten, forderten die Passanten auf, ihre Waren zu zeigen. Das alles gab es im April letzten Jahres noch nicht. Seitdem haben die Israelis viel gearbeitet! Der Direktor des französischen Kulturzentrums erklärte uns, dass die Repression in Gaza noch nie so stark gewesen sei, noch nie so viele Häuser zerstört wurden wie in den letzten fünf Monaten. Diese Ankunft hat uns etwas erschüttert, aber zum Glück fanden wir die Freunde wieder, und das Leben geht trotzdem weiter. In meinem nächsten Mail werde ich versuchen, Euch etwas mehr über Sams Film zu erklären, damit Ihr versteht, warum ich hier bin.

Der Strand von Gaza

26.4.04: Es ist so weit. Die Dreharbeiten haben begonnen. Letzten Freitag filmten wir am Strand. Nachdem wir uns dort installiert hatten, beobachteten wir die Schwimmer und Passanten. Im Sommer, und vor allem am Freitag wird der Strand von Tausenden Menschen aus Gaza in Beschlag genommen. Tische, Zelte, Hütten und Jugendlager der Fatah belegten den ganzen Strand. Es herrschte eine freudige Euphorie an diesem Ort. Die Rettungsschwimmer luden uns ein, von ihrer Hütte aus zu drehen. Es war zu komisch, als sie den Verkäufer von Bratkartoffeln durch ihr Megaphon darauf aufmerksam machten, dass sie der Rauch von seinem Holzfeuer störte. Viele Kinder und Erwachsene laufen den Strand auf und ab, um T-Shirts, Gebäck, Obst, Chips, Schwimmringe, Mais, Tee, Kaffee usw. zu verkaufen. Durch diesen kleinen Erwerb bringen die Kinder einige Schekel nach Hause, der Vater ist oft arbeitslos. Am Abend fanden wir uns wieder bei den Rettungsschwimmern ein, um den Sonnenuntergang zu filmen. Sie luden uns zu Tee und Gebäck ein. Dieser Moment war magisch schön. Mir fällt es schwer, diese Begegnung in Worte zu fassen, aber ich kann Euch versichern, dass wir ab diesem Moment wussten, warum wir in Gaza sind. Ihr Empfang war einfach genial. Als wir uns trennten, waren wir voller Energie. Seit unserer Ankunft am 8. Juli waren wir oft deprimiert und beunruhigt durch die Situation an sich und die Niedergeschlagenheit der Palästinenser. Dieser Tag war ein Hauch von Hoffnung.

Heute haben wir die ersten Gespräche gefilmt. Sam möchte einen Film über das tägliche Leben in Gaza drehen. Dabei versucht er, nicht über die Besatzung zu reden. Es wurden schon viele Filme über den Kon­flikt realisiert, seltener sieht man, wie die Menschen dort täglich leben. Deshalb hat er sich entschieden, Ramy (26 Jahre, Brotverkäufer), Abu Akh­ram (55 Jahre, Fischer und Obstverkäufer) mit seinen Enkelkindern und Abu Ali (Fischer) mit seiner Familie zu filmen. Sam hat vorgesehen, sie bei ihrer Arbeit, mit ihrer Familie und alleine am Strand zu filmen. Er würde gerne erreichen, dass sie Geschichten über verschiedene Themen erzählen. Über die Beziehung zwischen Frauen und Männern, oder zwischen Enkeln und Großeltern, über ihre derzeitige Beschäftigung und die ihrer Kinder, über die Einschätzung von Institutionen, über ihre Wünsche für die Zukunft… Ich hoffe, wir werden genügend Zeit haben, um alle diese Themen darstellen zu können. Die Tage gehen wahnsinnig schnell vorüber.

Olga Widmer