ISRAEL / PALÄSTINA:Reisetagebuch aus Palästina

8 nov. 2004, publié à Archipel 120

Eine kleine Mitteilung

27.7.04: Die Dreharbeiten laufen sehr gut, und wir erleben viele sehr interessante Augenblicke mit den Menschen in Gaza. Diesen Tag verbrachten wir mit Abu Akhram, dem Traubenverkäufer. Um 5 Uhr morgens trafen wir ihn im Weinberg, als er die Früchte abholte. Dann begleiteten wir ihn auf den Markt, dort handelte er den ganzen Vormittag mit seinen Kunden. Er ist sehr lustig, und liebt es, gefilmt zu werden. Am Nachmittag filmten wir ihn zu Hause, mit seinen Enkelkindern.

Morgen werden wir uns die bisher gedrehten Filme anschauen, damit Wissam anfangen kann, sie zu übersetzen.

P.S. Macht Euch keine Sorgen um mich, wir bewegen uns nur an sicheren Orten und bleiben immer zusammen.

Geburtstag in Gaza

31.7.04: Wie Wissam gestern so schön sagte, habe ich ein Jahr meines Lebens verloren, und ein Jahr Erfahrung dazu gewonnen. Ja, ich bin in Gaza 27 Jahre alt geworden. Am Abend haben wir alle unsere Freunde an den Strand eingeladen, um meinen Geburtstag zu feiern.

Ich habe viele Geschenke bekommen: ein schönes rosa Nachthemd mit Glitzerblumen, ein Bild, und von Wissams Freunden komponierte Musik (Sam wird sie vielleicht als Filmmusik benutzen), eine Spieldose mit einer Palme die sich dreht, kitschig, aber genial, Stoffrosen die leuchten und schlussendlich einen riesigen Kuchen, den Wissam im Betrieb seines Vaters bestellt hatte. Es war eine schöne Gelegenheit, um unsere Freunde einmal zum Abendessen einzuladen. Shady und Hamada brachten eine Gitarre und eine Oud mit. Der Abend endete, indem wir alle ihrem Spiel zuhörten. Zuvor sang Adria, eine außergewöhnliche Frau, ägyptische Lieder. Sie hat einen sehr starken Charakter.

Diejenigen, die sie besser kennen, sagen ihr nach, dass sie die Hosen im Haus anhat. Ihre Kinder haben etwas von diesem Charakter geerbt, so auch ihre Tochter. Diese hat sich von ihrem Mann scheiden lassen, als er sich eine zweite Frau nahm. Mittwoch am Abend schliefen wir bei Adria, da Ramy ihr Neffe ist.

Bei Sonnenaufgang filmten wir Ramy, als er seine Wohnung verließ. Wir folgten ihm in die Bäckerei, in der er sich mit Brot und Zwieback versorgte, dann in den Laden, in dem er Verkäufer ist - und Schürzenjäger. Am Mittwoch schossen die Israelis Missiles und Kugeln an verschiedenen Stellen im Gazastreifen ab. Morgens wurden wir zwei Mal von Explosionen geweckt. Am Abend erfuhren wir von der Familie, dass ein Enkel von Adria dabei verletzt worden war. Das Kind ist nicht weit entfernt von seinem Haus schauen gegangen, was dort passierte. Er war auf eine Düne gekrochen und die Israelis haben ihn für einen Terroristen gehalten. Zum Glück ist kein wichtiges Organ getroffen worden. Der Taxichauffeur, der im zu Hilfe kam, wurde auch zur Zielscheibe. Er hatte Glück und wurde nur verletzt. Den nächsten Donnerstag werden wir im Haus von Adria verbringen.

Wir sind alle von dem Charme dieser Familie eingenommen, die Energie und Freude verbreitet. Als ich den Kuchen zerteilte, flog ein Hubschrauber über Gaza, um das Haus einer Märtyrerin zu zerstören. Nach dem Aufflackern der Explosion verstummten die Stimmen, aber nur für eine kurze Zeit. Das Leben geht weiter.

Gaza Camp

4.8.04: Jeden Tag erfahren wir etwas mehr über das tägliche Leben in Gaza, es ist wirklich nicht einfach. Joss verbrachte einen Tag bei Fatma, einer Tochter von Adria. Von diesem Besuch war Joss erschüttert. Sie erzählte uns über Fatmas Alltag, die bei ihren Schwiegereltern wohnt. Ihr Mann ist durch die Schläge seines Vaters Epileptiker geworden. Fatma ist arbeitslos. Ihr Mann arbeitet im öffentlichen Dienst, aber die Löhne werden mit großer Verspätung ausgezahlt. Diese Familie ist keine Ausnahme. Gewalt ist überall, geschlagen wird immer der Kleinere oder Schwächere. Die lästige Enge des Zusammenlebens in den Flüchtlingslagern fördert die Konflikte in den Familien und unter den Nachbarn. Mohamed, ein lustiger junger Fischer, der uns Witze erzählte, sagte uns, dass er dieses Leben leid sei. Die Arbeit und das Leben im Lager laugen ihn aus. Vielen jungen Menschen ist ihr Leben nichts mehr wert. Adrias Enkel - ich hatte Euch von ihm und seiner Verletzung in meinem letzten Mail berichtet - hat den Check-Point verlassen, um zu sterben. Er steckte eine Plastikpistole in seinen Rucksack und ging in Richtung der Schusszone.

Er erklärte Joss, dass er die Bosheiten der Nachbarn nicht mehr ertrage. Diesen Abend überflogen die Israelis den Gazastreifen mit Militärflugzeugen. Der Krach war schrecklich, wir konnten nicht mehr miteinander reden und die Scheiben zitterten. Dies ist eine Art, um an ihre Präsenz zu erinnern und Angst zu verbreiten. Außerdem schossen sie Leuchtraketen auf das Meer hinaus, um das hin und her der Schiffe zu beobachten. Ein sehr «romantischer» Effekt! Die Dreharbeiten gehen langsam, aber sicher weiter. Wir haben alle Darsteller des Films bei ihrer Arbeit gefilmt und die Gespräche fertig gestellt. Morgen werden wir bei der Familie von Adria drehen.

Abfahrt aus Gaza

9.8.04: Heute haben wir den Gazastreifen verlassen. Am Abend sind wir in Jerusalem, und Donnerstag fliegen wir zurück nach Paris. Gestern verbrachten wir den ganzen Nachmittag damit, uns zu verabschieden. Es war sehr schwer, aber wir trösteten uns mit dem Gedanken, dass wir im April 2005 für die nächsten Dreharbeiten zurückkommen werden. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie traurig wir sein werden, wenn der Film fertig ist. Wir müssen ungedingt ein neues Projekt finden, um unsere Freunde wieder sehen zu können. Die Durchfahrt vom Check-Point Herez dauerte dreieinhalb Stunden. Es war Routine, und ich möchte mich über diese Gemeinheit nicht länger auslassen. Dieses Mal war es ein Hund, geführt von einem Talkie-Walkie, der unsere Sachen und die Kuchen der Frauen beschnüffelte.

Für sie war es fürchterlich, da bei Muslimen Hunde keine Nahrung oder ihre Verpackung berühren dürfen.

Die Rückkehr

14.8.04: Ein kleines Schlusswort zu meinen Berichten aus Gaza:

Letzten Endes sind wir gut heimgekehrt. Unsere Freunde, die Sicherheitsbeamten, besaßen die Freund­lichkeit, uns um einen Teil unseres Materials zu erleichtern, wir waren wirklich zu beladen. «Das ist der Rechtsweg mein Fräulein, wir müssen ihre Kamera behalten, ich kann da nichts machen, es tut mir leid», lautete die einzige Erklärung. Sie behielten den Computer von Joss, das Mischpult, den Kamerafuß, meine Zahnpasta, meine Flasche mit Arak, meine Nachtcreme usw. Sie haben eines meiner Geschenke beschädigt. Wir sollen alles in den nächsten Tagen zurückbekommen, wenn sie es unter die Lupe genommen haben…

Olga Widmer

Der Dokumentarfilm von Samuel Albaric zeigt ebenfalls die Fotografin Joss Dray bei der Arbeit. Einige Personen, die sie im Lauf der letzten 17 Jahren fotografiert hat, sind auch die Hauptfiguren im Film von Samuel Albaric.