KIOSK: Eine Flaschenpost an Unbekannt

de Herma Ebinger EBF, 5 nov. 2012, publié à Archipel 208

Wer einen langen Atem hat, aber befürchtet, dass er angesichts der Situation in der Welt versiegt, sollte dieses Buch* lesen. Ralf Schröder (geb. 1927), ein Slawist, starb 2001 und hinterließ Fragmente, die gedacht waren, seine Blicke auf die Zeitläufe in einem Buch an interessierte Menschen weiterzugeben. Sein Sohn, Michael Leetz, übernahm es, aus all dem ein Buch zu machen.

Ralf Schröder war Literaturhistoriker der russischen und sowjetischen Literatur, arbeitete als wissenschaftlicher Assistent an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Die Beschäftigung mit den Autoren der 20er Jahre ließ ihn die Widersprüche beim Aufbau des Sozialismus in einem Land ahnen, der XX. Parteitag der KPdSU 1956 bestätigte sein Ahnen: „Der XX. Parteitag wurde schon deshalb eine Zäsur, weil er einen befreienden Durchbruch meines eigenen Denkens auslöste und zugleich sieben Jahre Haft zeitigte. Aber mein ‚langer Abschied‘ von Überlagerungen des ‚Stalinismus‘ hatte schon viel früher begonnen“, so Schröder.
In seinen Vorlesungen und Vorträgen wies er seine Zuhörer_innen auf die Aufdeckung der Widersprüche in den Werken der Autoren der 20er Jahre hin, ermunterte zum Nachdenken über einen Rätekommunismus Trotzkischer Art.
Das führte dazu, dass er im September 1957 in eine Falle gelockt und brutal aus einem Auto heraus verhaftet wurde. In einem Prozess, dessen Urteil im Dezember 1958 verkündet wurde, wurde er wegen Staatsverrats (DDR) zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Sieben davon saß er im Zuchthaus Bautzen in einer Einzelzelle. Bis Anfang der 80er Jahre galt Ralf Schröder als vorbestraft und unterlag juristischen Auflagen.
Nicht die Zeit der Einzelhaft ist Gegenstand des Buches, sondern seine Analyse der Geschichte mittels der russischen und sowjetischen Literatur. Den Schlüssel zum tieferen Verständnis der Tragödie der Oktoberrevolution lieferte ihm die „andere sowjetische Literatur“, Werke der Autoren wie Samjatin, Tarasso-Radionow, Babel, Platonow, Gorki, Ehrenburg, die ab 1927 in der Sowjetunion „vergessen“, verdrängt oder verboten waren. So findet Ralf Schröder in der russischen und sowjetischen Literatur viele Hinweise zum Verständnis der Geschichte. So z.B. einen Satz des Narodowolzen Leo Tichomirow (1852 - 1923), der sich 1888 vom Revolutionär zum Monarchisten wandelte und bemerkte: „Wenn man in Russland marxistischer Revolutionär sein will, dann wird man nolens volens zum Ritter der ursprünglichen Akkumulation werden“.
Der Schriftsteller Juri Trifonow, ein enger Freund Ralf Schröders, sagte diesem bei einem Besuch Anfang der 70er Jahre in Berlin: „Bei uns war ursprüngliche Akkumulation! Statt Entlandung Zwangskollektivierung. Statt Arbeitshäusern Archipel Gulag. Statt Blutgesetzgebung Moskauer Prozesse“.
Schröder schreibt darüber, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sich verschiedene Zeitalter immer schneller – zuspitzend bis zur Oktoberrevolution – aufeinander stießen (S. 391ff): „Ursprüngliche Akkumulation mit „freigesetzten Frühproletariern“ den „Barfüßern“; antifeudale Bauernkriege, Robin Hoods sowie heidnische Rebellionen wilder Kolonialvölker gegen die „christliche“ Zivilisation, moderne Industrialisierung, Bestrebungen der bürgerlichen Revolution einschließlich Jakobinertum, proletarischer Internationalismus und urchristliches Ketzertum sowie moderner Anarchismus-Terrorismus, Blanquismus-Netschajewismus und allrussische Bestrebungen, sich von der halbkolonialen Abhängigkeit der Westmächte zu befreien“.
Die Oktoberrevolution war ein nationales wie internationales Ereignis. Beschränkt auf ein Land brachte die russische Revolution den „Großinquisitor“ hervor, eine Figur, die schon bei Dostojewski auftaucht, bei Ehrenburg Anfang der 20 Jahre erscheint und dann bei Bulgakow, der Stalin mit Dostojewskis Großinquisitor gleichsetzt. Ralf Schröder dazu: „Für Stalin war jede von der Kontrolle der Partei unabhängige revolutionäre Spontanität der Massen daher eine Existenzbedrohung seines Systems. Der sozialistische Großinquisitor musste sich zwar sowjetisch nennen, weil die sozialistischen Massen an der Räteidee hingen, hatte aber das Räteprinzip als angeblich in der Praxis immer untauglich abgeschafft – ebenso wie sich der legendäre Großinquisitor bei Dostojewski Christ nennen musste, weil die mittelalterlichen Erniedrigten und Beleidigten auf ihren Heiland hofften und an ihn glaubten, obwohl er (der Großinquisitor, d.R.) die Menschheitsidee Christ als unrealistisch verworfen hatte und das ‚Reich Gottes auf Erden‘ ganz unchristlich durch Machtgeheimnis, Gewalt, Korruption und Wunderglauben einzuführen gedachte...“ (S.536).
Schröder selbst stand ein für das Rätesystem Trotzkischer Art. In der Auseinandersetzung der russisch-sowjetischen Literatur mit der Behauptung von Goethes Faust – dass „das größte Werk sich vollende, genügt ein Geist für tausend Hände“ – fand er andere Sichten: Den eigenen Geist müssen die tausend Hände entwickeln, in einer Initiative von unten. Das ist für Schröder der Sinn des Sozialismus, dass die tausend Hände sich selbst emanzipieren.
Sein Schreiben nennt Schröder eine „Flaschenpost“ an Unbekannte in unbekannten Zeiten und Orten, damit sie aus der Synthese von objektiven Fakten und subjektiven Ahnungen und Empfindungen Gegenentwürfe zu unlebbaren Verhältnissen entwickeln. Ralf Schröder begründet, warum für ihn die Perestroika zu Katastroika wurde, und er setzt Hoffnungen in die Shanghaier Organisaton für Zusammenarbeit (SOZ), die 1996 in Shanghai mit der Unterzeichnung des „Vertrags über die Vertiefung des militärischen Vertrauens in Grenzregionen“ durch Russland, China, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan gegründet wurde. Inzwischen hat auch Usbekistan unterzeichnet und die Aufnahme weiterer Mitglieder ist in Vorbereitung. Mongolei, Indien, Pakistan und Iran haben Beobachterstatus; Weißrussland, Sri Lanka und andere sind Dialogpartner der SOZ.
Beim Lesen seiner Überlegungen bekommt man Lust, mit ihm zu diskutieren, beginnt, Gegenargumente zu suchen – und weiß, man wird ihn nie mehr treffen...
Es bleibt das Lesen dieses Buches und vieler seiner Nachwörter in den Büchern, die er herausgegeben hat, sowie die Neugierde, wieder zu Puschkin, Dostojewski, Gorki, Ehrenburg, Pilnjak, Bulgakow, Trifonow, Tendrjakow u.a. zu greifen, um die Tiefen darin nun besser zu verstehen.

* Ralf Schröder. Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Michael Leetz. Edition Schwarzdruck, Gransee 2011.