KOMMENTAR:Genetische Aggression oder aggressive Genetik?

de Kollektiv Genmythos Dijon, 20 nov. 2007, publié à Archipel 154

Vor zwei Jahren hat ein Institut für allgemeine Gesundheit (das INSERM) unter dem Titel «Verhaltensstörungen bei dreijährigen Kindern» eine so genannte Studie erstellt, die glauben machen soll, dass Anzeichen zukünftiger Kriminalität ab diesem Alter festgestellt und behandelt werden können.

2006 erklärte N. Sarkozy vor der Nationalversammlung, dass «die Minderjährigen von 1945 nichts mit den schwarzen Hünen der Banlieues (Vorstädte) von heute zu tun haben», lancierte den Bau von Gefängnissen für Minderjährige und ließ vernehmen, dass ein von Grund auf als schlecht abgeurteilter Teil der Bevölkerung nichts anderes als die Behandlung mit dem Kärcher 1 verdient hätte. Im März 2007 gab er zu erkennen, dass nach seiner Überzeugung Pädophilie oder Suizidneigung angeboren sei.

Diese verschiedenen Studien und Erklärungen laufen auf die Überzeugung hinaus, unsere Verhaltensweisen seien genetisch (oder durch unsere Hautfarbe) festgelegt, kodiert und endgültig in uns verankert. Bildung, Gesellschaft, Kultur, Diskriminierung haben demnach keinen oder nur geringen Einfluss… In einer von «Kriminalität» und «Sicherheit» besessenen Gesellschaft, in der die Medien uns die Angst vor der Jugend, den Terroristen, den Armen, den Ausländern eintrichtern, sucht man die Beziehung zwischen Genen und den als abartig betrachteten Verhaltensweisen («Störungen», «Nervosität», «Rebellion», «Aggressivität»…) zu erklären. Es handelt sich um die Identifikation von «krank geborenen» Personen, die anders auszubilden, zu pflegen, einzusperren, zu kontrollieren und schnellstmöglich in Spezialeinrichtungen unterzubringen seien.

Wissenschaft oder Politik? «Ich glaubte, seinen Gedanken zu verstehen, das Böse würde als gesondert existierendes, metaphysisches, eindeutig erfassbares Gebilde existieren, vergleichbar einem Tumor, ohne Beziehung zur Gesellschaft, zur Politik und den geschichtlichen Bedingungen. Ich fragte das, um meine Ahnung zu überprüfen: Und tatsächlich, er denkt, dass wir gut oder böse geboren werden, und dass, was auch geschieht, was man auch tut, alles von der Natur schon geregelt ist.» (Michel Onfray, Philosoph, anlässlich seines Gesprächs mit N. Sarkozy im März 2007)

Warum fahren bestimmte Wissenschaftler und Politiker mit breiter Unterstützung durch die Medien fort, trotz der vielfältigen Infragestellung der Bedeutung eines genetischen Determinismus, den Glauben an die Existenz von Genen der Treue, der Homosexualität, der Aggressivität bei Schwarzen oder der Suizidneigung bei Jugendlichen zu nähren und die Forschung in dieser Richtung voranzutreiben?

Die Frage nach der Bedeutung, die man entweder den Genen oder der Umgebung zumisst, ist weniger eine wissenschaftliche, als eine politische. Sie setzt vor allem eine Vision von der Gesellschaft voraus, in der wir leben wollen. Hebt man den Einfluss der Umgebung hervor, heißt das, dass man weder gut noch böse geboren ist, dass jedes Individuum sich entwickeln kann, wenn man ihm die Mittel dazu gibt. Dieses Prinzip geht davon aus, dass die menschlichen Wesen vor allem von der Gesellschaft geprägt sind, in der sie leben. Und jeder-zeit kann demnach kollektiv über diesen Gesellschaftstyp debattiert werden, dessen Fortentwicklung also abhängig von der Entfaltung jeder und jedes Einzelnen ist.

Hingegen hat in der Geschichte des Denkens der Determinismus (hier der genetische Determinismus) im Allgemeinen dazu gedient, die bestehende Ordnung zu rechtfertigen. Er war eher interessant als Mittel, einen faktischen Zustand in unveränderter Form zu erhalten, denn als Mittel zur Veränderung der Welt.

Angeboren und erworben Warum ist die Konzeption einer Welt, in der das «Angeborene» (die Gene) dem «Erworbenen» (der Erfahrung) vorgezogen wird, aus politischer Sicht so vorteilhaft für die jeweils bestehende Staatsmacht?

Dieses Konzept minimiert die Verantwortung des Staates und seiner Organe für die Beschwerden der Bevölkerung. Wird das Überwiegen der Gene bei diesem oder jenem Ungemach hervorgehoben, heißt das, den Einfluss von Gesellschaft und Umwelt in den Hintergrund zu stellen. Das entzieht all den Individuen und politischen Organisationen den Boden unter den Füßen, die das gegenwärtige gesellschaftliche System als die wesentliche Ursache von psychischen Leiden, Krankheiten, Selbstmorden und sozialem Elend sehen. Nichts ist praktischer als die Vorbestimmtheit durch Chromosomen, die einer gesellschaftlich bestimmten Stellung des Menschen keinen Platz lässt, wenn eine Gesellschaft nicht mehr mit den ihr eigenen Mängeln zurande kommt: ihrer sozialen Ungleichheit, dem Fehlen jeglicher Perspektive außerhalb von Konsum und Bildschirm, ihrer Ausbeutung von drei Vierteln der Menschheit für das Wohlbefinden einer westlichen Minderheit, ihren Elendsvierteln und dem Ausländerhass. Wie durch Zauber sind wir von unnützen Fragen und lästigem Nachbohren befreit.

Diskriminierung durch die «Natur» rechtfertigen Umso tief greifender gibt diese Ideologie bestimmten Formen der «gesellschaftlichen» Diskriminierung einen pseudomoralischen und «naturhaften» Sinn. Einige seien bestimmt zu kommandieren, andere dazu da, geführt zu werden, diesen ist das Reich-sein eigen, anderen ein Leben in Sozialunterkünften...

Für die, die den biologischen Determinismus als maßgebend sehen, teilte also die Natur, einem geneigten Gott gleich, jedem eine Rolle zu, der er zu folgen hätte. Von den Thesen des Sozialdarwinismus, über die Praktiken der Eugenik der Nazis bis zum heutigen Neokonservativismus ist die dienstbare Unterwerfung dem Ehemann oder den Weißen gegenüber von der Natur vorgegeben, ebenso wie das Gesetz des Stärkeren beim ökonomischen Austausch.

In Wirklichkeit hat der Diskurs über eine intelligente Natur, deren Anordnungen auf immer zu folgen sei, bestimmten Personen als Argument für den Erhalt von Privilegien gedient.

Der Kampf für Frauenrechte, gegen die Kolonialregime oder auch die Arbeiterbewegung haben glücklicherweise bewiesen, dass die Natur keineswegs das fortdauernde Herrschen von Normen vorgesehen hat, die man den Unterdrückten aufzwingen wollte.

Eine Logik der Repression und der Gefängnisse Diese Konzeption von der Welt bestärkt eine Logik der Repression und der Gefängnisse. Wenn bestimmte Individuen in der Tat aggressiv oder pädophil sind, sind sie also nicht heilbar. Übrig bleibt, statt die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern, diese da aufzuspüren, einzusperren und mit der physischen oder chemischen Zwangsjacke sozial zu «neutralisieren». So können Bildungsexperimente durch Gefängnisse für Minderjährige und Aufpasser durch Überwachungskameras ersetzt werden, mit Stacheldraht umzäunte und scharf bewachte Wohnquartiere schützen die Reichen vor genetisch «schlechten» Armen. Treibt man die Logik des genetischen Determinismus ins Extrem, können Formen der Eugenik wie-der entstehen und erneut könnte definiert werden, was als «gutes» menschliches Wesen gilt in einer Gesellschaft, die den «Gesunden» vorbehalten ist. Die pränatale Eliminierung derer, die Gene für ein «behindertes» Verhaltens besitzen, wäre mit der Eugenik gerechtfertigt.

Eine von Maschinen gelenkte Gesellschaft Das Vorantreiben des genetischen Determinismus macht uns vertraut mit einem Diskurs, mit bestimmten Worten und einer bestimmten Vorstellung vom Menschen. In einer automatisierten und von Maschinen gelenkten Gesellschaft hat die Genetik teil an der Legitimierung einer mathematischen und binären Beziehung zur Umwelt. Angesichts von Maschinen verschwindet die Komplexität sozialer Beziehungen, es gibt keine Möglichkeit mehr, Dialoge zu führen, zu verhandeln, sich auf Umstände und Situationen einzustellen, sich zu begeistern.

Das Vorantreiben der Genetik als streng exakte, positive Wissenschaft trägt dazu bei, eine Gesellschaft zu akzeptieren, deren Kontrollmechanismen diese Genetik nutzen, und, noch allgemeiner, deren Mittel und Geräte die Menschen charakterisieren, selektieren und unterscheiden in Abhängigkeit von ihren biologischen und körperlichen Merkmalen.

So zum Beispiel mit der Entnahme von DNA-Proben, mit den Apparaten zur biometrischen Erkennung, deren Zahl in den Gymnasien und Arbeitsstätten deutlich steigt, den neuen Pässen, den Projekten zur Einpflanzung von Mikrochips direkt unter die Haut, um unsere Aufenthaltsorte zu lokalisieren … Andersherum ist die enorme Propaganda um polizeiliche Ermittlungsmaßnahmen mit Hilfe von DNA ein stückweises Eingeständnis, dass die Genetik als Wissenschaft eben genau dem dient.

« Minderwertige» Verhaltensweisen Wenn unter Armen Diebstahl zum Überleben verbreitet ist, heißt das, dass sie andere Gene haben oder dass ihre verzweifelte Situation, dass Verdruss, Entfremdung zu solchen Formen der Selbsthilfe führen? Birgt der Gencode von Armen eine höhere Gewaltbereitschaft oder sind es die Medien, die Gewalt von deren Seite mit Vorrang stigmatisieren? Warum werden Ausbeutung, Anhäufung von Reichtum, Mauscheleien der Hochpfuinanz und die Grausamkeiten im Strafvollzug, von den herrschenden Klassen Tag für Tag inszeniert, (fast) nie als Gewalt gesehen und schon gar nicht als genetischer Makel? Kann Gewalt reduziert werden, ohne Abschaffung von Ungleichheiten, Rassismus, Sexismus und der Konkurrenzwirtschaft, auf der unsere Gesellschaft basiert?

Abhängig von sozialen, ökonomischen, demographischen oder anderen Zusammenhängen sind bestimmte Verhaltensweisen mehr oder weniger willkommen und nützlich. Die Frage steht im Raum, welchen Wert Verhaltensweisen haben, die man den Genen zuschreibt. Aggressivität zum Beispiel ist bei den «Jugendlichen der Banlieues» verschrien wie auch unter den Anhängern von Protestbewegungen gegen die etablierte Ordnung. Von der Ideologie des Liberalismus jedoch, die junge weißhäutige Kader zum Kampf um die beste Position am Markt drängt, ist sie hochgeschätzt.

Die Definition abweichenden Verhaltens und von Gewalt umfasst heutzutage quasi alle Aktivitäten, die die etablierte Ordnung ablehnen oder ein Überleben sichern angesichts der ökonomischen, emotionalen und sozialen Misere. In dem Bericht zur Vorbeugung gegen Kriminalität des INSERM, sind «Der Reiz des Neuen», «Verminderung des Gefühls der Angst» unter folgenden Stichworten zu finden: «Oppositionelle Störungen mit Provokationscharakter, die zu Gewalt führen». «Jugendliche» tauchen nur noch unter dem Aspekt eines Schadenspotentials auf, unter der Frage, ob sie kriminell sind oder nicht. Man erträumt sich eine Blase namens Kind, das harmlos und artig sein soll oder eingesperrt oder mit Medikamenten à la Ritaline ruhig gestellt ist. Die gleichen Verhaltensmomente, als schädlich bewertet, können sie nicht in Abhängigkeit von der Umgebung und einer politischen Analyse der Situation als höchst kreativ angesehen werden?

Die Fähigkeit, etwas zu riskieren, die Neugier, sind das nicht entscheidende Faktoren für die Entwicklung einer Persönlichkeit, eines selbstbestimmten Verhältnisses zur Welt?

Wen interessiert die Genetik? Die genetische Diskriminierung ist überdies für das kapitalistische System von gewissem Interesse. Für eine Versicherungsgesellschaft oder für ein Unternehmen ist die Auswahl ihrer Kunden oder Angestellten entsprechend ihrer genetischen Veranlagung ein neues Rentabilitätskriterium. Neuerdings nimmt die genetische Diskriminierung auch unter Mitwirkung der Versicherungs- und anderen Unternehmen weiter Gestalt an. In der Tat, trifft man auf eine Person mit «einer für die Krankheit B321 günstigen genetischen Konstellation, deren Überlebenschance bei einem bis zwanzig Jahre liegt», was sagen dann die Agenten, die Arbeitgeber? «Tut mir leid, aber wir können nicht riskieren, Sie anzustellen, Sie zu versichern, Sie verstehen, 20 Jahre, wenn das feststünde, das wäre noch annehmbar, aber ein Jahr, das geht nicht!»

Was geschieht in einer Gesellschaft, in der immer mehr Personen genetisch erfasst sind, wenn die Daten von Firmenchefs, Versicherungsgesellschaften, Vermietern … genutzt werden? Wer garantiert, dass die Regierung ihnen nicht in zehn Jahren die Datenbanken öffnet?

Was tun angesichts einer Ideologie der Genetik? Trotz der von Medien und Politikern geschürten Angst, außer dem Bestreben, sich der Illusion von Sicherheit hinzugeben, gibt es auch noch Widerstand gegen die Kontroll- und Überwachungssysteme, Misstrauen gegen die verhängnisvolle Nutzung von Wissenschaft und neuen Technologien, gibt es den Willen, individuelle und öffentliche Freiheiten zu schützen. Bestimmte Industriellenverbände haben Wind davon bekommen und zögern nicht, in ihren Privatzirkularen die Notwendigkeit des größtmöglichen Einfließenlassens dieser neuen Technologien in Freizeitgestaltung und Kinderspiele zu empfehlen, um sie der Bevölkerung schmackhaft zu machen.

Das Wiederauftauchen einer Ideologie der Genetik, Spiegel einer verfaulenden Gesellschaft, muss im kollektiven Gedächtnis doch einige der finstersten Perioden des 20. Jahrhunderts wachrufen: Die, in der Internierung und Deportation von Millionen datenmäßig als verhaltensgestört oder «minderrassig erfassten» Menschen möglich war; die, in der Eugeniker über die Zwangssterilisierung von Farbigen oder Armen entschieden. Verschiedene Aktivisten des Widerstandes im Zweiten Weltkrieg erinnern heute übrigens daran, dass sie damals auch deswegen handeln und Ungehorsam leisten konnten, weil noch nicht jeder erfasst war und man noch nicht jeden auf Schritt und Tritt mit Videoaufnahmen, genetischem Fingerabdruck, Mikrochips, Geräten zur biometrischen Erfassung etc. überwachen konnte.

Heute ist es unsere moralische Pflicht, Ungehorsam zu leisten, solange noch Zeit dazu ist. Lassen wir uns nicht von der Genetik-Propaganda einkriegen und lehnen wir die Mitwirkung an den Kontrollmechanismen ab, die sie gebiert. Es ist möglich, einer Erhebung oder einer Schüler-Erfassung2 die Folgeleistung zu verweigern, eine DNA-Probe 3, auch die seiner Kinder, durch die Polizei oder durch Studienbeauftragte strikt abzulehnen, Druck auszuüben auf die Auftraggeber von Erhebungen oder auch auf die genehmigenden Stellen (Rektorate zum Beispiel), Gesetze und Organe abzulehnen, die unsere Kinder nach Kriterien einer richtigen oder nachteiligen Geburt sortieren wollen. Entwickeln wir - es ist möglich - Formen der Solidarität und der Bildung, die der sozialen Diskriminierung zuwiderlaufe. Sprechen wir mit den Leuten, organisieren wir uns in kollektiver Weise.

Kollektiv Genmythos

Dijon

  1. Seit 2004 erprobt und vor einigen Monaten allgemein eingeführt, erfasst die Schüler-Erfassungs-Datei die eingeschulten Kinder nach ihrer geographischen «Herkunft», der zu Hause gesprochenen Sprache, ihrer Ursprungskultur, ihren schulischen Resultaten und Schwierigkeiten, ihren Absenzen, eventuellen medizinischen, psychologischen oder psychischen Behandlungen oder auch der familiären Situation. Im Zusammenhang mit dem Sicherheitswahn (siehe weiter oben), besteht die Gefahr der Nutzung im Sinne einer Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen schon in frühem Alter an, beginnend mit der Schule.

  2. Um auf die französische Justiz Druck auszuüben, ist die massenhafte Verweigerung eine Möglichkeit. In der Tat sind die Gerichte schon ab einem Ablehnungsgrad von nur 10 Prozent überlastet. Mehrere Organisationen greifen zu dieser Methode: Die freiwilligen Gensaatvernichter, die Menschenrechtsliga, die Gewerkschaften CGT und CFDT, die Grünen und die Beamten-Gewerkschaft