LATEINAMERIKA Solidarwirtschaft in Brasilien:Eine politische Momentaufnahme

de Kristina Bayer,, 12 sept. 2005, publié à Archipel 130

Mit dem Regierungsantritt des „Arbeiterpräsidenten“ Lula Anfang 2002 keimten viele Hoffnungen auf: Agrarreform, Verringerung der himmelschreienden sozialen Ungleichheit, Kampf für einen Schuldenerlass, spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse für einen Großteil der Bevölkerung.

Alter Wein...

Über viele Jahre hinweg hatte die PT (Partido dos Trabalhadores / Arbeiterpartei) in verschiedensten Stadtverwaltungen Brasiliens bewiesen, dass „eine andere Entwicklung“ möglich ist – der Beteiligungshaushalt ist mittlerweile in der ganzen Welt bekannt als beispielhaftes Modell einer Stadtentwicklung von unten mit maximaler Partizipation aller Bevölkerungsschichten. Selbsthilfeprogramme im Wohnungsbau in São Paulo und anderen Megastädten führten zur spürbaren Verbesserung der Lebenssituation der marginalisierten Bevölkerungsgruppen, zum deutlichen Rückgang von urbaner Gewalt und Kriminalität. Das Konzept der Landreform, die Programme Fome Zero (Hunger Null) und Renda Mínima (Mindesteinkommen) zur Armutsbekämpfung, das Programm Economía Popular e Solidária (Solidarwirtschaft) zur wirtschaftlichen Organisation von Krisenbetrieben und sozial Ausgeschlossenen - all diese Erfahrungen sollten mit der Regierungsübernahme im großen Stil zur politischen Richtung dieses riesigen Landes werden.

Die Regierung Lula trat mit ihrem Motto „Ein Brasilien für alle“ klar an für eine Veränderung des bisherigen Wirtschaftsmodells. Innerhalb dessen war die Ausweitung des Sektors der Solidarwirtschaft als wichtiger Faktor für die Stärkung der Binnenmärkte und damit einer unabhängigen wirtschaftlichen Entwicklung ausdrückliches Ziel.

... in neuen Schläuchen?

Nicht deutlich war zu diesem Zeitpunkt, dass sich mit dem Moment der Regierungsübernahme die Wirtschafts- und Finanzpolitik diametral entgegengesetzt zu den übrigen Politikbereichen entwickeln würde1.

Die sog. Übergangsphase begann damit, dass die neue Mitte-Links-Regierung das liberale Wirtschaftsprogramm der Vorgängerregierung Cardoso unverändert fortsetzte: Exportorientierung, Sparpolitik und Anlocken von ausländischem Kapital wurden als Rahmenbedingungen für die Überwindung der wirtschaftlichen Krise propagiert, Einhaltung der IWF-Verträge, Anerkennung der Auslandsschulden, Hochzinspolitik, Kürzungen im Sozialbereich, Privatisierung, Renten- und Arbeitsrechtsreformen zu selbstverständlichen Leitlinien. Es folgte die Ausweitung des neoliberalen Agrarmodells mit dem Vorstoß riesiger Sojamonopole, die Öffnung für gentechnische Großversuche, damit die Marginalisierung der Familien- und Kleinstlandwirtschaft und die Torpedierung jeglicher Ansätze einer Landreform.

Makroökonomisch steuert Brasilien also weiter – und brutaler als je zuvor – auf dem neoliberalen Kurs „nachholender Entwicklung“. Wird damit die Solidarwirtschaft zum Maulkorb für die Sozialen Bewegungen?

Zum Selbstverständnis der solidarökonomischen Bewegung

Der Anspruch und das Selbstverständnis der Bewegung für Solidarische Ökonomie gehen in eine andere Richtung. Um „Samen für eine menschenwürdige Zukunft“ geht es, um nichts weniger als darum, dem Moloch Kapitalismus eine echte Alternative entgegenzusetzen, „Werte und Beziehungen in der Arbeitswelt zu verändern und damit in der Ökonomie“2. Solidarische Ökonomie stellt die Frage, welche Gesellschaft wir wollen: die Konsumgesellschaft und die Zerstörung der Umwelt, oder Nachhaltigkeit und solidarisches Leben?

Die Bewegung der Solidarischen Ökonomie definiert für sich sehr klar, dass „die Krise, die auch die reichen und entwickelten Länder trifft, nicht konjunkturell ist, sondern strukturell, weil [...] Arbeitslose und Arme in der kapitalistischen Logik notwendig sind und in der globalisierten Ökonomie noch zunehmen werden2.“

Solidarwirtschaft ist ein Konzept, das sowohl die Erfahrungen der SubsistenzbäuerInnen des Südens als auch alternativökonomische Experimente in den Ländern des Nordens wie Umsonst- und Tauschökonomie, Arbeiter-Innenselbstverwaltung u.v.m. in sich vereint. Mit jedem einzelnen Projekt geht es in antizipatorischer Weise um die gesamtgesellschaftliche Umsteuerung hin zu einem bedürfnisorientierten Wirtschaften.

Welche Entwicklungen sind unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen in Brasilien für die solidarwirtschaftliche Debatte und Praxis zu erwarten?

Aufbruchstimmung in den Projekten

Wirft man einen Blick in die konkrete Projektepraxis, beherrschen dort Aufbruchstimmung und Tatendrang, gekoppelt mit echt brasilianischer politischer Klarheit, das Feld.

So zum Beispiel im gegenwärtig größten selbstverwalteten Projekt Brasiliens, der Zuckerfabrik Harmonía Catende (Pernambuco). In einer außergewöhnlichen Aktion erreichten die organisierten ArbeiterInnen den Weggang der Fabrikbesitzer und konnten die endgültige Schließung der traditionsreichen Fabrik im Nordosten Brasiliens, dem einstigen Zuckereldorado, verhindern. Hier, wo das koloniale Erbe in Form von Großgrundbesitz, Monokultur und Sklavenarbeit noch heute sehr präsent ist und nach dem Verlust der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit zu alarmierenden Indizes von Armut, Analphabetismus und zur kompletten Perspektivlosigkeit einer ganzen Region geführt hat, entsteht seit 1995 ein selbstverwalteter Komplex mit 48 Produktionsstätten auf einem Gebiet von 26.000 ha Fläche, der allein im Bereich der Zuckerproduktion 2800 ArbeiterInnen beschäftigt und über die Familienlandwirtschaft indirekt 80.000 Personen einbezieht. Ziel des gigantischen Projekts ist die Veränderung des sozialen und ökologischen Bildes der gesamten Region: Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion, darüber Zurückdrängung des Großgrundbesitzes sowie Etablierung ökologischen Landbaus, Existenzsicherung für die ArbeiterInnen und ihre Familien, politische Alphabetisierung, Ausbildung in direkter Demokratie und Selbstverwaltung, Menschenrechtsarbeit. Auch hier geht es um nichts Geringeres als um ein anderes Entwicklungsmodell für eine der vergessensten Regionen weltweit. Catende scheint ein Ort, an dem die gesamtgesellschaftliche Explosionskraft von Solidarökonomie in ihrem ganzen Umfang Gestalt annehmen kann.

Ähnlich auf einer ehemals vom MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra / Landlosenbewegung) organisierten Landbesetzung in der Nähe von João Pessoa/ Paraíba, auf der, mittlerweile legalisiert, ca. 100 Familien einen Wochenmarkt organisieren, durch den sie ihre biologisch angebauten Produkte eigenständig vertreiben und ihre Existenz komplett sichern können.

Der Markt wird gemeinschaftlich organisiert, Anbau und Verkauf erfolgen in Familieneinheiten. Die BewohnerInnen der Landbesetzung sind stolz darauf, sich selbst versorgen zu können. Niemand von ihnen, auch niemand von den Jugendlichen, hat es nötig, seine Arbeitskraft an die Großgrundbesitzer zu verkaufen und für einen Hungerlohn die Schwerstarbeit des Zuckerrohrschneidens auf den Nachbarfeldern erledigen zu müssen. Nachdem sie vor 15 Jahren dieses Land besetzt haben, ist es ihnen jetzt möglich, wirklich autark zu leben. Sie sind glücklich darüber, durch eine sinnvolle Arbeit ein würdevolles Leben in Gemeinschaft führen zu können und fühlen sich privilegiert.

Die Caritas unterstützt mehrere ähnlich orientierte Projekte, die gemeinsam sicherlich das Gesicht der Region beeinflussen können – sowohl im Blick auf den ökologischen Landbau, eine angesichts der mächtigen Agrarlobby in Brasilien keineswegs leicht zu besetzende Nische, als auch auf die Selbstverwaltung, die ehemals Landlosen ein Leben in Autonomie möglich macht.

Auf der anderen Seite finden sich auch ambitionierte regierungsnahe Projekte wie die High-tech-Fabrik für Fruchtsaftkonzentrate Nova Amafrutas , eine ehemalige Ciba-Geigy-Niederlassung in der Nähe von Belém im Amazonasstaat Pará, die 2002 nach Insolvenz von der Belegschaft übernommen wurde und seitdem als Genossenschaft 1300 Familien beschäftigt, die Orangen und Maracuja anbauen, sowie ca. 80 Arbeiter-Innen in der Fabrik selbst.

Die Fruchtsaftkonzentrate werden direkt für den Export ins überwiegend europäische Ausland produziert. Neben der Fabrik baut Nova Amafrutas – mit hochkarätiger Regierungsunterstützung – ein Schulungszentrum auf, in dem von Alphabetisierung über Computerkurse bis hin zu politischer Staatskunde für unterschiedliche Zielgruppen Kurse angeboten werden, mit denen sogar staatlich zertifizierte Abschlüsse erworben werden können. U.a. wird dort auch „solidarische Betriebsführung“ unterrichtet. Weiteres Ziel von Nova Amafrutas ist der Aufbau eines sanften Tourismus-Zweiges, zu dem der angrenzende Bereich primären Regenwaldes, der letzte noch erhaltene im Großraum Belém, in ein Biosphärenreservat umgewandelt werden soll.

Nova Amafrutas hinterlässt mit seinem Gigantismus und seiner technischen Perfektion den Eindruck: Hier soll der Kapitalismus optimiert werden. Selbstverwaltung ist nicht nur in der Lage, perfekte – sichere, saubere, selbstbestimmte - Arbeitsplätze zu schaffen, sondern zusätzlich eine optimale Betriebsführung, gute Umsätze und Wachstum zu garantieren. Aufgemacht ist die Fabrik nach US-amerikanischem Vorbild: modernstes Management, helle, klare Linien, gut gekleidete Manager, saubere Produktionsräume.

Kritik aus den Reihen der solidarökonomischen Bewegung gibt es an Nova Amafrutas insbesondere in bezug auf die hundertprozentige Exportorientierung, die dem jahrhundertealten Muster der Rohstoffausbeutung Amazoniens folgt. Kein Milligramm von dem exportierten Fruchtsaftextrakt geht in den Binnenmarkt beziehungsweise kommt der regionalen Entwicklung zugute. Die MacherInnen selbst sehen ihren Beitrag zur lokalen Entwicklung in ihrer Basis- und Bildungsarbeit insbesondere mit den als GenossenschafterInnen assoziierten Kleinbäuer-Innen.

Solidarwirtschaft versus Regierungspolitik

Wie widersprüchlich die wirtschaftspolitische Linie der Lula-Regierung auch sein mag, wie lächerlich die Brosamen, die für die Solidarische Ökonomie im offiziellen Bundeshaushalt abfallen - einige Entwicklungen scheint die Regierung zumindest zu begünstigen.

So ist es z.B. im Fall von Nova Amafrutas gelungen, die Existenz der produzierenden KleinbäuerInnen allein über die Beteiligung an der Genossenschaft abzusichern: Sie haben eine Abnahmegarantie für ihre Produkte und müssen daher nicht, wie andere ihresgleichen, einer zusätzlichen Tätigkeit nachgehen, um ihren Lebensunterhalt zu fristen. Gleichzeitig wird ihnen über die Teilhabe an dem Regierungsprogramm Fome Zero (Hunger Null) der monatliche Lebensmittelkorb vom Unternehmen vorfinanziert. Beide Maßnahmen zusammen garantieren die hohe Produktqualität, da sich die BäuerInnen ausschließlich dem Obstanbau widmen können. Diese und ähnliche Maßnahmen sind erste Umsetzungsversuche der häufig zitierten solidarökonomischen Netzwerkbildung, die das Ziel hat, die Produktion sämtlicher Bedarfsgüter über eine nicht marktorientierte Parallelwirtschaft abzudekken.

Bei aller Institutionalisierung durch die gegenwärtige Regierung – immerhin gibt es ein eigenes Staatssekretariat für Solidarische Ökonomie unter Leitung des bekannten Ökonomen Paul Singer3 – ist es wichtig zu bedenken: Die Solidarische Ökonomie, der neue Kooperativismus, entstand Mitte der 1990er Jahre unter der Vorgängerregierung Cardoso als Antwort auf die damalige Wirtschaftskrise. Projekte wie Catende haben ihren Ursprung in den sozialen Bewegungen, in denen ein tiefes Wissen um die Schwierigkeiten, aber auch das unverwechselbar Schöne der Prozesse von Selbstorganisation und Selbstverwaltung gewachsen ist. Die brasilianische Bewegung steht vor der Herausforderung, dieses in den letzten 20 Jahren erworbene Wissen – jenseits aller Regierungspolitik - zu transformieren für eine Gegenwart, die nach einer Überwindung der Krise und konkreten Schritten in eine solidarische Zukunft schreit.

Kristina Bayer,

Berlin

„fragend voran...“ Hefte zu Widerstand & Vision

Das Heft „Wirtschaften ohne Herrschaft“ gehört zu einer Reihe von Themenheften im übersichtlichen A5-Format. Ihr Anliegen ist die Verbindung von Widerstand und Vision, von Aktion und Utopie, von Theorie und Praxis.

Immer zu einer konkreten Schwerpunktfrage geht es um:

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Die Hefte erscheinen unregelmäßig, pro Jahr sind mehrere Ausgaben sowie weitere Materialien geplant. Sie können einzeln bestellt, aber auch abonniert werden. Näheres dazu unter www.fragend-voran.de.vu.

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Im Projekt „fragend voran...“, in den Texten und rundherum soll eine etwaige Zugehörigkeit zu Gruppen, Verbänden u.ä. keine Rolle spielen. Identitäre Grenzen überwinden, in Themen einsteigen, Diskussionsprozesse vertiefen und kreative, innovative Ideen entwickeln ist unser Ziel. Weitere MitstreiterInnen sind in diesem Sinne gern gesehen.

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