MADAGASKAR : Platz des 13. Mai (2. Teil)

de Jean-Luc Raharimanana, Schriftsteller, 13 mai 2002, publié à Archipel 94

Nach den Präsidentschaftswahlen im Januar 2002 erklärten sich die beiden Kadidaten, der Admiral Ratsiraka und der Bürgermeister von Antananarivo, Ravalomanana, als Sieger. Seither herrscht Unruhe auf der Roten Insel. Der in Paris lebende madagassische Schriftsteller Jean-Luc Raharimanana beschreibt im folgenden Artikel, wie er die letzten dreißig Jahre in Madagaskar erlebt hat.1989: wieder Wahlen in Madagaskar.

Der Admiral hatte schon zwei Siebenjahresperioden hinter sich. Bewirbt sich um die dritte. Ich wählte zum ersten Mal. Das Wahllokal von Militärs streng überwacht. College von Ambohipo, Wahllokal der Studenten. Um 19 Uhr geöffnet. Um 21 Uhr geschlossen.

Vom frühen Nachmittag an eine Riesenschlange. Ein Riesendurcheinander. Viele kamen nicht einmal bis zur Urne. Meine Freunde, die nicht alt genug waren zum Wählen, beauftragten mich, einen gewissen Oppositionspolitiker zu wählen. Was ich tat. Auszählung der Stimmen. Wir sangen, sangen. Bei jedem der Stimmzettel, die herausgezogenen, hochgehobenen und vorgezeigten wurden:

Eine einzige Stimme für den Admiral,
das ist nichts, Leute
Wir werden ihn einholen.
Zwei Stimmen für den Admiral
Das ist nichts, Leute
Wir werden ihn einholen
Drei Stimmen für den Admiral
Das ist nichts, Leute
Wir werden ihn zu Boden werfen.
Vier Stimmen für den Admiral...

Und so weiter. Der Admiral erreichte an diesem Abend 90 Prozent der Stimmen. Das ist nichts, Leute. Das ist nichts. Sollten die Studenten für ihn gestimmt haben? Wie konnten die Anhänger des Präsidenten die Ergebnisse zu fälschen? Wie? Wir waren doch da. Wir waren bei der Auszählung der Stimmen dabei. Gewehrsalven hallten durch die Nacht, als wir noch auf der Asche von verbrannten Autobussen tanzten. Autobusse des Staates. Autobusse des Diktators.
Ein Freund weinte in dieser Nacht im Angesicht eines der Soldaten, die das College umstellten: "Ich habe meine Kindheit unter dem Regime dieses Kerls verbracht, ich will nicht noch meine Jugend unter seiner Diktatur leben!" Er war 13 Jahre alt. Er stand hinter mir in der Schlange, als wir stundenlang in der prallen Sonne auf die Öffnung der Wahllokale warteten. Er hatte meine Hand gehalten, als ich den Stimmzettel in die Urne warf, als ich vor allen Leuten den roten Zettel zerriss, rot, die Farbe der Revolution. Dieser Freund beging einige Monate später Selbstmord. Ein Messerstich in den Bauch. Drogen in den Venen. 13 Jahre – wer wird mit dreizehn schon ernst genommen?
An Sie Herr Präsident, wenn sie diesen Titel überhaupt verdienen, dieser Brief:
Ich erinnere mich, es war vor einigen Jahren, als ich meinen Militärdienst leistete. Ich sollte an der Parade zum Tag der Unabhängigkeit teilnehmen. An diesem Tag, es war der 26. Juni 1986, sagte ich mir, stellte ich mir vor, dass ich Sie mit dem Bajonett des Gewehres, das ich in der Hand hielt – sein Magazin war geleert und der Reihe nach vom Korporal, vom Sergeant und vom Leutnant kontrolliert worden – aufspießen würde. Ich stand in der vordersten Reihe. Wir waren auf der Straße nach Mahamasina. Knapp hinter der Stelle, wo Könige und Königinnen einst die Kabary, ihre Ansprachen an das Volk hielten. Ihre Leibwächter waren schon vorbeigezogen. Wellenweise, zahllos. Sie starrten jedem von uns erbarmungslos ins Gesicht. Sie selbst kamen erst einige lange Minuten später. Endlose Minuten. Sie gingen 20 Meter weit entfernt vorbei. Geschützt von einer undurchdringlichen Reihe von Leibwächtern. Ich weinte an diesem Tag. Innerlich. Ohne Tränen. Ich bemühte mich, nicht zu zittern. Denn eine einzige Bewegung, ein einziges Beben hätte mich auf sie zugetrieben. Mit gezücktem Bajonett, Hass im Herzen. Aber ich wusste, dass ich nicht die geringste Chance hatte. Nie war ich dem Tod so nahe. Nie.

1999 Die Menschenmenge, erschöpft von einem monatelangen Generalstreik, geht auf den Präsidentenpalast zu – noch ein Delirium der Macht, ein Palast, der eine Kopie von dem der Königin ist, aber aus Marmor, nicht jener Holzhaufen, der schließlich auf dem Gipfel von Iarivo verbrannt war; der des Admirals thront noch immer auf den Hügeln von Iavoloha – übersetzt "der den Kopf hoch trägt, stolz". Iavoloha umbenannt in Mavoloha, "der gelbe Kopf".
Ein Helikopter wartet auf die Menge. Schießt. Granaten. Einige Journalisten fangen die Bilder ein, fangen den Ton ein. Befehl wurde gegeben, auf die Menge zu schießen, auf dieses "schwarze Auto", in dem der Mann sitzen sollte, der dazu auserkoren war, Madagaskar zu retten. Die Bilder und der Ton flimmerten eine Zeit lang über die französischen Bildschirme. Der Admiral wurde gestürzt, gab die Macht ab. War es die Entschlossenheit der Menge, welche den Sturz des starken Mannes herbeigeführt hatte oder die Macht der Bilder, die in mehrere Länder übertragen wurden und ihn seine gewohnte Unterstützung kosteten? Zu offensichtliche Repression. Untragbare Diktatur. Im ursprünglichen Sinn des Wortes.
Der Admiral im Wasser. Der Mann mit dem Strohhut wird Präsident. Immer das Bild. Das Image. Strohhut oder Authentizität? Strohhut oder Treue der roten Erde? Sympathischer Mann, aber miserabler Staatsmann. Zwei Jahre Katastrophe für die Insel. Schwindelerregender Sturz in noch größere Misere. Ein Freund sagte vor einigen Tagen zu mir: "Wenn man in unseren Ländern in einen Abgrund fällt und auf Boden stößt, vergisst man, wieder hochzusteigen und gräbt immer weiter, gräbt..."
Der Mann mit dem Strohhut wurde abgesetzt. Neuwahlen. Demokratisch, sagte man. Demokratisch. Mit Hilfe seines Freundes Chirac stieg der Admiral aus dem Wasser und riss die Macht wieder an sich. Er gibt sich jetzt als umweltbewusster, frankophoner Humanist. Exrevolutionär. Exkommunist. Exsozialist. Exblockfreier. Exliberaler. Exföderalist. Genial vereinfachender Diskurs, der die Klischees über Madagaskar mit einbezieht. Madagaskar, Heiligtum der Natur. Madagaskar, Paradies der Naturfreunde. Ein bisschen Umweltschutz und die Sache hat sich. Wie könnte man diese Persönlichkeit, welche die ökologische Unversehrtheit dieser außergewöhnlichen Insel so verteidigt, nicht unterstützen? Scheinbare Öffnung. Kapitän Cousteau kommt nach Madagaskar. Artikel in vielen Zeitschriften: Geo, große Reporter. Filme über Tiere auf der geheimnisvollen Insel. Fotoreportagen. Die Verleger reiben sich die Hände...
Aber ist es bekannt, dass es in Madagaskar kein einziges Flugzeug gibt, um Waldbrände zu löschen? Dass es Feuerwehren nur in den großen Städten gibt? Und ... wenn die Savanne brennt, muss man hoffen, dass es regnet. Oder dass die Flammen müde werden. Oder dass die Amulette wirken. Oder, noch besser, man wartet auf den Helikopter des arbeitslosen Präsidentensohnes. Er fliegt über die Wolken, bestreut sie mit Salz! Es regnet! Das Feuer beugt sich der Macht des Erben.
Aber ist es bekannt, dass die Heuschrecken wiedergekommen sind? Denn es wurde verkündet, dass im Kampf der Insekten gegen den Menschen letzterer den Sieg davongetragen habe. Man braucht also keine Feuerwehr mehr dafür. Ist es bekannt, dass es in Madagaskar – soll ich es wiederholen, Heiligtum der Natur - im ganzen nur etwa 20 Waldhüter gibt? Sprechen wir doch von den Naturschutzgebieten. Ein Schild vom WWF und basta, es leben die Maki-kata und die Aye-aye. Aber der Diskurs greift, greift so gut, dass der Admiral mit dem "Europäischen Preis Umberto Biancamano" und einer Medaille "Für den Weltfrieden" ausgezeichnet wird. So sprach Professor Alberto Pocchini, der Präsident der Stiftung: " Präsident Ratsiraka, Admiral, brillanter Staatsmann, Vorkämpfer der Frankophonie, aber auch großer Humanist will eine demokratische, humanistische und ökologische Republik schaffen, den Menschen mit dem Staat, den Menschen mit der Natur versöhnen. Dies hat unsere Wahl bestimmt." Phantastisch! Vor ihm haben diesen Preis erhalten: Leopold Sedar Senghor, Michail Gorbatschow, Carlos Menem...
Der Admiral hat einfach die Projektionen des Westens auf Madagaskar in Worte gekleidet. Land der Menschlichkeit und des Umweltschutzes. Noch einmal sieben Jahre. Er hat es nun auf ein viertes Mandat abgesehen. Was sage ich da, ein fünftes!
Kann man sagen, dass Frankreich hinters Licht geführt wurde? Das zu glauben käme einer Beleidigung gleich. Frankreich war genauso zynisch wie der Admiral ohne Flotte. Alle madagassischen Banken sind Filialen der französischen Banken: Crédit Lyonnais, BNP-PARIBAS oder Société Générale. Freihandelszonen, Dependancen zahlreicher französischer Unternehmen.
Frankreich vielleicht, aber wo sind die Franzosen in all dem? "Die Fische im Fluss", sagt das Sprichwort, "müssen misstrauisch sein, wenn das Krokodil an Land geht und vorgibt, dort ihre Interessen zu vertreten!"

Jean-Luc Raharimanana