MEXIKO: Die Kommune von Oaxaca

de Carlos Beas Torres*, 27 nov. 2006, publié à Archipel 143

Seit mehr als drei Monaten geht der Geist von Louise Michel und von Elisée Reclus in den verlassenen, nächtlichen Strassen einer alten Stadt im Süden Mexikos um. Nur die Lichter einiger Lampen oder die Flammen der Feuer, die auf Hunderten von Barrikaden brennen, erwärmen die langen Nächte von Oaxaca.

Alles begann, als LehrerInnen in den Streik traten, um auf die desolaten Zustände in den öffentlichen Schulen aufmerksam zu machen.(Anm.d.Red.)

Die vorsichtigsten Schätzungen sprechen von etwa 500 Barrikaden, welche die Bevölkerung von Oaxaca errichtet hätte; die kühneren reden von 1.500 Barrikaden, die innerhalb von einer Nacht aufgebaut wurden. Die «Kommune» von Oaxaca ist entstanden, nachdem Gouverneur Ulises Ruiz, ein gewalttätiger Despot der Partei der institutionellen Revolution (PRI), am 14. Juni diesen Jahres befohlen hatte, einen Streikposten der Lehrergewerkschaft manu militari aufzuheben. Die Intervention der Polizeikräfte fand im historischen Stadtzentrum statt. Als die GewerkschafterInnen es schafften, die Polizisten einzukreisen und zurückzudrängen, befahl der Gouverneur den Einsatz eines privaten Helikopters, um Granaten mit Pfeffergas auf die Menschenmenge abzufeuern. Hotelangestellte, HändlerInnen, VerkäuferInnen, EinwohnerInnen des Stadtviertels und Hunderte von TouristInnen waren betroffen, litten unter Vergiftungserscheinungen und mussten evakuiert werden. Trotzdem konnten die GewerkschafterInnen das Stadtzentrum erneut besetzen. Diese Aktion weckte den Widerstandsgeist der StadtbewohnerInnen. Fast auf der Stelle scharten sich 360 Vereine und Organisationen zusammen – von den Indigenas und den Frauenverbänden über die UmweltschützerInnen und StudentInnen bis hin zu den KleinhändlerInnen. Sie bildeten eine Volksversammlung, eine Art Parlament der Bürgerinnen und Bürger, unter der Bezeichnung APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca). Die APPO organisierte fünf gigantische Märsche, die Hunderttausende von Menschen auf die Strasse brachten. Über 30 Rathäuser wurden besetzt, die Strassen blockiert und die Verwaltungsbüros und Gerichte geschlossen. Die Regierung hatte ganz einfach aufgehört zu existieren, und sie beschränkte sich darauf, auf den Strassen nächtliche Operationen mit Hunderten von Zivilpolizisten und Profikillern durchzuführen, die mit Schusswaffen auf die Bevölkerung feuerten. Die Barrikaden von Oaxaca zeigten eine grosse Effizienz gegen solche Angriffe und hielten stand.

Medien in eigener Hand In diesem Kampf – wie in vielen anderen Kämpfen - spielten die Frauen eine herausragende Rolle. An einem Abend demonstrierten Tausende von Frauen in der ganzen Stadt, indem sie auf Kochtöpfe trommelten. Sie marschierten vor den Sitz des offiziellen Fernsehens des Staates Oaxaca und forderten, dass eine Delegation eingelassen werde, um die Forderungen der Demonstrierenden bekannt machen zu können. Die Wachmänner verweigerten ihnen den Zutritt. Diese Tatsache versetzte die Frauen derartig in Wut, so dass sie sofort das Fernsehgebäude besetzten und für einige Tage die Sendungen selbst in die Hand nahmen. Erst ein Polizeikommando konnte die Fernsehausstrahlungen stoppen, indem es die Sendeantennen zerschoss. Die Bevölkerung reagierte sofort auf diesen Streich und besetzte 13 Radiosta-

tionen, auf denen in der Folge zum ersten Mal Hunderte von unbekannten Frauen und Männern zu Wort kamen. Die Repression liess nicht auf sich warten und schlug auf breiter Ebene zu: Mehrere Führer der APPO wurden verhaftet, misshandelt, und sind immer noch im Gefängnis; einer von ihnen wurde in ein Hochsicherheitsgefängnis des mexikanischen Staates eingeliefert. Zwei Demonstranten wurden ermordet und Dutzende bedroht und geschlagen. Die Reaktionen der Bevölkerung auf diese Situation waren von äusserster Zurückhaltung geprägt. Umso mehr versuchten die Medien, diesen beeindruckenden Volksaufstand zu verschweigen oder zu diffamieren: Die Berichte beschränkten sich darauf, den Aufständischen eventuelle Beziehungen zur Guerilla vorzuwerfen und sie des Vandalismus zu bezichtigen, als sie den Zugang zu Banken, Supermärkten und zum Flughafen blockierten.

Doch was bedeutet dieser Aufstand? Oaxaca ist neben Chiapas und Guerrero einer der ärmsten Staaten Mexikos, in dem es eine grosse Anzahl von indigenen Gemeinschaften gibt. Oaxaca ist auch seit langem eine Hochburg des PRI, dessen Vertreter sich in Allianz mit den Industriebossen und den grossen, multinationalen Konzernen (wie z.B. Iberdrola) bereichern. Die Regierenden von Oaxaca haben sich durch grosse Unfähigkeit ausgezeichnet, sind völlig korrupt und gebrauchen rohe Gewalt als Mittel zum Regieren. Am 14. Juni sagte die Bevölkerung ganz einfach: «Y a basta! Schluss damit!»

Friedliche Lösung oder Blutbad? Was wird jetzt geschehen - nach drei Monaten intensiver Mobilisierungen? Die politische Klasse und die wirtschaftliche Elite der Nation wollen die Zentralregierung dazu drängen, das Problem mit einer schnellen Repression zu erledigen. Der Gouverneur Ulises Ruiz schreit nach den Truppen der PFP (Policia Federal Preventiva), der Föderalen Polizei für Prävention, und fordert die Zerschlagung der Streikposten und die Verhaftung der radikalsten Oppositionellen. Die Verhandlungen der Aufständischen mit den Regierenden sind praktisch unterbrochen, sowohl mit der Zentralregierung als auch mit den Senatoren, die dem PRI und der Partei der Nationalen Aktion (PAN) angehören. Denn sie alle weigern sich, den Gouverneur von Oaxaca des Amtes zu entheben. Die Entlassung von Ruiz ist jedoch eine unumgängliche Forderung der Aufständischen, die sie nicht bereit sind, zurückzunehmen.

Ist ein repressiver Ausgang wahrscheinlich, wie vor dreissig Jahren, als die Bevölkerung von Oaxaca es geschafft hatte, den Despoten Zarate Aquino (1) zu stürzen? Sofort danach besetzte nämlich die Armee die ganze Stadt, ein Militärgouverneur wurde eingesetzt, und die Oppositionellen wurden verhaftet, ermordet oder verbannt. Dies hatte auch zur Folge, dass ein Teil der Bevölkerung gezwungen war, den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Die APPO kennt dieses klassische Muster und hat es vermieden, Gewalt anzuwenden. Denn jede(r) weiss, dass es durchaus dem hinterlistigen Stil des Gouverneurs entspricht, gewalttätige Auseinandersetzungen zu provozieren, zum Beispiel durch die Infiltrierung von Polizisten in Zivil und von Auftragsmördern, um dann einen Vorwand für die Repression und den Einsatz der PFP zu haben.

Heute (29. September 2006, Anm. d. Red.), früh morgens, haben sich die Tausenden von Frauen und Männer aus Oaxaca wieder aufgemacht, um ihren Marsch in die Hauptstadt Mexiko fortzusetzen, nachdem sie schon innerhalb von einer Woche 260 Kilometer zurückgelegt hatten. Dieser Marsch könnte ihr letzter Versuch sein, die Repression abzuwenden und das Gewissen der MexikanerInnen aufzurütteln. Ihr Appell findet schon ein gewisses Echo: So sind auch in anderen Staaten Mexikos ähnliche Volksversammlungen wie in Oaxaca im Entstehen begriffen. Der grosse Volksaufstand von Oaxaca ruft dringend nach der Solidarität aller Bürgerinnen und Bürger dieser Welt. Von Oaxaca aus schicken wir Euch diesen Appell. Noch bleibt Zeit, um ein Blutbad zu verhindern. Noch bleibt Zeit, um eine demokratische Lösung dieses schweren Konfliktes zu finden. Und in der Zwischenzeit wird der Geist der KommunardInnen von Paris die rebellierenden Frauen und Männer von Oaxaca weiter begleiten.

Carlos Beas Torres

* Der Artikel von C.B. Torres ist auf Französisch erschienen auf RISAL-Réseau d’information et de solidarité avec l’Amérique Latine: http://risal.collectifs.net, Übersetzung ins Deutsche für Archipel: M. Rössler

Quelle: ALAI, America Latina en Movimiento:

http://www.alainet.org/index.phtml.

es, 29. September 2006

(1) Gouverneur von Oaxaca von 1974 bis 1977, Mitglied des PRI