Nachspiel

8 mars 2002, publié à Archipel 92

Vor 32 Jahren, am 15. Oktober 1970, ging eine Nachricht um die ganze Welt: Zum ersten Mal in der Geschichte war ein Flugzeug der zivilen Luftfahrt entführt worden. Der Vorfall ereignete sich in der Sowjetunion, dem „Völkergefängnis“, die westlichen Demokratien hüteten sich also, von Terrorismus zu sprechen. Eine Aggression? Ja, sicherlich. Aber wenn es das einzige Mittel war, dem Joch eines totalitären Staates zu entkommen, um Freiheit, Unabhängigkeit und Menschenwürde wieder zu erlangen...

Drei Jahrzehnte später kommt diese Geschichte, diesmal auf amerikanischem Boden, zum Abschluss. Anfang Februar ermordet ein gewisser Albert Viktor Wait, 46 Jahre, im kalifornischen Städtchen Santa Monica, seinen alten Vater, Frank Wait. Eine Meldung, die eigentlich nicht die Aufmerksamkeit der großen Medien auf sich ziehen sollte. Doch in dieser Stadt, in der eine bedeutende litauische Minderheit lebt, hat niemand die wirklichen Namen dieser zwei Männer vergessen, die anfangs der siebziger Jahre von sich reden machten: Pranas und Algirdas Brazinskas.

Brazinskas Vater und Sohn, die Waffen unter dem Mantel versteckt, waren in das Flugzeug von Batumi nach Krasnodar im Kaukasus eingestiegen. Von der ersten Reihe hinter der Pilotenkabine aus riefen sie die Stewardess und gaben ihr den Befehl, die Route zu ändern und in der Türkei zu landen: „Zuwiderhandeln wird mit dem Tod bestraft“. Ihre Gewehre lagen bereits auf ihren Knien. Die junge Frau öffnete die Kabinentür und rief ihren Kollegen zu: „Ein Attentat! Schließt euch ein!“. Sie starb sofort in einem Kugelhagel. Der junge Brazinskas, damals dreizehnjährig, hielt eine Bombe in der Hand, und drohte, sie zu zünden, während es dem Vater gelang, in die Kabine einzudringen. Dort verschoss er 24 Patronen. Der Pilot Georgi Tschaschrakia wurde an der Wirbelsäule schwer verletzt, Valeri Fadejev, den Kopilot, traf es an der Lunge, der Mechaniker wurde ebenfalls verletzt. Es gelang ihnen dennoch, in Trabson in der Türkei zu landen. Die 46 Passagiere waren unversehrt. Zum ersten Mal gab es nur ein Opfer des „Luftterrorismus“, Nadia Kurtschenko, eine junge Frau von 20 Jahren. Zahlreiche Straßen und Schulen tragen heute ihren Namen in unserem Land.

Wie hat sich die Welt in 30 Jahren verändert! Totalitäre Staaten sind zusammengebrochen, ganze Reiche haben sich aufgelöst, die Ideologien von gestern sind auf dem Misthaufen gelandet. Das Verbrechen der ersten „Luftpiraten“ hingegen blieb ungestraft. Ohne den Vatermord, hervorgerufen durch „böses Blut“, wie die Littauer von Santa Monica sagen, ohne den Schock vom 11. September, würde man sich gar nicht fragen, woher dieses böse Blut kommt.
Wie hatte damals der Westen das vergiftete Geschenk der ehemaligen Weltordnung aufgenommen?
Die Türkei hatte die Auslieferung der Brazinskas in die UdSSR verweigert, um sie durch ihre eigenen Gerichte abzuurteilen. Der Vater war zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden, sein minderjähriger Sohn zu zwei Jahren – und das für ein zweifaches Verbrechen, die Entführung eines Flugzeugs und die Ermordung der Stewardess! Beide wurden anschließend amnestiert. Von dem Augenblick an hatten sie nur mehr eines im Kopf: In die USA zu emigrieren. Sie stürzten zur amerikanischen Botschaft in Ankara und präsentierten sich als Dissidenten des sowjetischen Regimes, doch die Attentäter bekamen kein politisches Asyl. Also flogen sie Richtung Venezuela, von dort aus nach Kanada, stiegen aber in New York aus. Good morning, freedom!
Aber langsam: Die Einwanderungsbehörden betrachteten ihre Einreise als illegal, während der Richter Robert Griffine ihren Asylantrag als dem Flüchtlingsgesetz von 1980 entsprechend akzeptierte. Zu diesem Zeitpunkt war die amerikanische Öffentlichkeit gespalten: Für die einen waren die Brazinskas gewöhnliche Kriminelle, für die anderen militante Antikommunisten. Santa Monica schloss sich in der Polemik dem Richter Griffine an. Die littauische Minderheit tat alles, um ihre Landsleute zu verteidigen. Der Kampf wurde halb gewonnen, halb verloren: Weder der Vater, noch der Sohn erhielten je offiziell politisches Asyl in den USA, aber sie bekamen eine Aufenthaltsgenehmigung. Angeblich hatten Hunderte Mitglieder von Al Khaida, zumindest vor dem 11. September, denselben juristischen Status.
Noch ein wichtiges Detail: Als die Brazinskas sich 1980 definitiv in den USA niederließen, versuchten sie, sich politisch zu betätigen. Doch sie mussten schnell aufgeben: Die Mehrheit der Littauer betrachtete sie als Mörder, auch wenn sie sich von Zeit zu Zeit verpflichtet fühlten, sie „offiziell“ zu unterstützen. War das wirklich der Preis für die Freiheit in einem „sozialen Loch“? Vater und Sohn haben jahrelang darüber diskutiert. Nun kam das unvermeidliche Ende...

Alexander Sabov
Moskau, Februar 2002