Ohne uns geht nichts : Wir, die Unterzeichnenden, stellen fest,

8 déc. 2003, publié à Archipel 110

Wir, die Unterzeichnenden, stellen fest,

  • dass es zu allen Zeiten Flucht und Migration gegeben hat, dass die Schweiz seit hundertfünfzig Jahren ein Einwanderungsland ist und es ihr weder mit Kontingentierungen noch Repression gelingen wird, die Einwanderung zu unterdrücken.

  • dass Migration zu einem erweiterten kulturellen Verständnis beiträgt und eine Chance ist für die Errichtung einer gerechteren und friedvolleren Gesellschaft - nicht nur national, sondern weltweit.

  • dass es sich die Schweiz auch gar nicht leisten kann, Einwanderung zu unterdrücken, weil es ohne sie keine florierende Wirtschaft, keine soziale Sicherheit, keine reichhaltige Kultur und keinen Wohlstand gäbe.

  • dass ohne die Übernahme von Hausarbeit durch Migrantinnen die Integration der einheimischen Frauen in den Arbeitsmarkt nicht möglich gewesen wäre.

  • dass die Schweiz trotzdem daran ist, ein strengeres Ausländerrecht und ein verschärftes Asylrecht einzuführen und damit unser Privat- und Familienleben immer stärker polizeilicher Überwachung auszusetzen. Was haben wir MigrantInnen und Flüchtlinge bis anhin schon an Demütigungen durchgestanden in diesem Land! Die unzähligen fremdenfeindlichen Abstimmungen haben uns zutiefst verletzt! Auch härtere Gesetze werden die Migration nicht verhindern, wohl aber zu mehr Leid, Rechtlosigkeit, Menschenhandel und zu moderner Sklaverei führen.

Wir sind überzeugt, dass Migration eine der großen Herausforderungen der Zukunft ist. Eine lebenswerte Zukunft für alle wird es nur geben, wenn wir die Herausforderung mit unseren vielfältigen Ressourcen gemeinsam anpacken.

Wenn wir Migrantinnen und Migranten einen Kanton hätten.

  • Die neue Schweizer Bundesverfassung garantiert die Rechtsgleichheit aller Menschen: "Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung." (Artikel 8, Absatz 2) Trotzdem leben in der Schweiz 1,5 Millionen Menschen, die wegen ihrer Herkunft diskriminiert sind: Wir Migrantinnen und Migranten.

  • Für uns gilt nach wie vor, was der Schweizer Schriftsteller Max Frisch 1965 geschrieben hat: "Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen." Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung hat einen berühmten Grundsatz geprägt, der in der Schweiz bis heute unbekannt geblieben ist: "No taxation without representation". Wer Steuern bezahlt, soll das Recht haben, die politischen Entscheide mitzubeeinflussen, die sein Leben prägen. Wir MigrantInnen in der Schweiz bezahlen jährlich 15 Milliarden Franken Steuern und 6 Milliarden an die Sozialversicherungen. Aber wir haben keine politische Mitsprache.

  • Bildeten die 1,5 Millionen MigrantInnen und Flüchtlinge der Schweiz gemeinsam einen Kanton, wäre das der grösste des ganzen Landes. Wir würden in Bern von 46 NationalrätInnen, 2 StänderätInnen und im Schnitt von einem Mitglied des Bundesrats vertreten. Wir sind sicher: Kein Kanton hätte im Parlament vielfältigeres Wissen und mehr Lebenserfahrung in die Debatte einzubringen als unser Kanton.

Manifest für eine gemeinsame Zukunft

  • Politische Rechte und nicht nur Pflichten!

Alle Menschen sollen dort, wo sie leben und Steuern zahlen, politisch mitbestimmen können - ungeachtet ihrer durch Geburt und durch Einbürgerung erworbenen Nationalitäten. Menschenwürde, Menschenrechte und politische Rechte sind unteilbar und sollen deshalb für alle Menschen gelten, die in der Schweiz leben. Wo Gleichberechtigung herrscht, braucht es keine Sonderpolizei gegen "Fremde".

Gesetze auf der Basis von Menschenrechten

Die Gesetze sollen nicht mehr geprägt sein von Abschreckung und Repression, sondern von völkerrechtlichen Verpflichtungen, humanitären Grundsätzen, Respekt und Solidarität:

  • Weder EU- noch Nicht-EU-BürgerInnen sollen diskriminiert werden. Es soll keine Kategorien mehr geben von MigrantInnen mit unterschiedlichen Rechten.

  • Aufenthaltsbewilligungen sollen nicht mehr an bestimmte Zwecke und Auflagen gebunden werden.

  • "Sans Papiers" sollen kollektiv regularisiert werden.

  • Es soll ein Asylrecht entstehen, das nicht vom Abschreckungs- sondern vom Schutzgedanken geprägt ist, und das den Asylsuchenden das Anrecht auf ein Leben in Würde und Sicherheit zuerkennt.

  • Arbeit und gerechte Entlöhnung

MigrantInnen sollen bei der Arbeit nicht mehr benachteiligt werden, weder bei der Arbeitssuche, beim Lohn, bei den Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten noch bei den Arbeitsbedingungen. Sie sollen den Gesamtarbeitsverträgen unterstellt und so vor Lohn- und Sozialdumping geschützt sein.

Ihr Recht auf Mobilität soll nicht eingeschränkt und die freie Wahl von Beruf und Arbeitgeber gewährleistet werden.

  • Chancengleichheit für alle Kinder.

Die Vielsprachigkeit der Kinder von MigrantInnen und Flüchtlingen ist eine bedeutende kulturelle und wirtschaftliche Ressource, wenn sie Anerkennung findet und gepflegt wird. Allerdings muss die Schule die Herausforderung aufnehmen und die Diskriminierung nach sozialer und geographischer Herkunft überwinden.

  • Migration ist keine Naturkatastrophe

Kurzfristig soll die Schweiz die UNO-Konvention für Arbeitsmigration, die Europäische Sozial-Charta sowie weitere wichtige internationale Übereinkommen ratifizieren. Und sie soll ihre Kooperations- und Entwicklungshilfeprogramme stärken. Heute übersteigen die Geld-Überweisungen der MigrantInnen in ihre Herkunftsländer die Beiträge der Schweiz für Entwicklungshilfe bei weitem. Weil Migrationsbewegungen um so größer werden, je größer die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ungleichheiten sind, kämpfen wir für eine Welt, in der alle Menschen in Würde und Freiheit leben können. Dann wird Migration nicht mehr viel zu reden geben: Viele Menschen schauen sich gerne die Welt an, aber nur wenige bleiben freiwillig ein Leben lang in der Fremde.

Wir, die Migrantinnen, Migranten und Flüchtlinge in der Schweiz, leisten weiterhin unseren wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Beitrag. Was würde passieren, wenn wir damit auch nur einen Tag aussetzten? Würden die Züge rollen, der Müll verschwinden, die Maschinen laufen? Würden die Hotelbetten gemacht, die Mahlzeiten aufgetischt, die KäuferInnen bedient, die Pflegebedürftigen betreut, die Forschungsprojekte weitergeführt, die Wohnungen und Strassen geputzt, die Theaterbühnen und Fussballplätze bespielt? Wir rufen alle MigrantInnen auf, für die Anliegen im Manifest aktiv zu werden und sich, zusammen mit MigrantInnen-Organisationen, untereinander und mit fortschrittlichen Schweizer Organisationen zu vernetzen. Wir reden mit und werden unseren Vorschlägen mit öffentlichen Aktionen Nachdruck verleihen:

Ohne uns geht nichts.

Zum Unterzeichen kontaktieren Sie: unterzeichnen@ohneuns.ch, 031 / 311 07 70 (Solidarité sans frontières)