SCHWEIZ: Die SVP, ein ganzes Programm!

de Christophe Tafelmacher, 5 juin 2011, publié à Archipel 193

Am 28. November 2010 hat die von der Schweizerischen Volkspartei1 lancierte Initiative2 „für die Ausweisung krimineller Ausländer“ gesamtschweizerisch 53 Prozent Ja-Stimmen erhalten. Selbst wenn das Nein der Kantone Waadt, Genf, Jura, Freiburg und Neuenburg zu begrüßen ist, ist das Resultat klar. Konkret ausgedrückt werden dem Artikel 121 der Bundesverfassung drei neue Paragraphen hinzugefügt.

Diese sehen vor, dass jede ausländische Person automatisch aus der Schweiz ausgewiesen wird, sollte es zu einer Verurteilung für bestimmte, im Voraus definierte strafbare Handlungen kommen. Dies soll ohne Rücksicht auf den Status, die Dauer des Aufenthaltes und den Grad der Integration der Person geschehen.
Abgesehen von dem traurigen Resultat erweist es sich als notwendig, die trügerischen Absichten hinter dieser Abstimmung und deren eigentliches Ziel näher unter die Lupe zu nehmen.

Ein Gesetz zu viel

Erinnern wir zunächst daran, dass es überhaupt keine Notwendigkeit gab, die Gesetzeslage zu ändern. Im Gegensatz zu dem, was die Befürworter der Initiative vorbringen, gibt es im Ausländerrecht schon Bestimmungen, die Aufenthaltsgenehmigung B oder C aufzuheben oder deren Erneuerung abzulehnen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die ausländische Person zu einer länger dauernden Freiheitsstrafe verurteilt wurde oder zu einer Strafmaßnahme, die aufgrund ernster und wiederholter Schädigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder anderswo verhängt wurde. Gemäß den Direktiven des Bundesamts für Migration (BFM) kann eine einzige Verurteilung genügen, wenn ein schwerer Gesetzesverstoß vorliegt. Aber eine solche Aufhebung ist auch bei geringfügigeren Strafen möglich, wenn dies den Umständen entspricht oder im Falle von wiederholten Vergehen. Schließlich kann für das BFM ein „strafbares Verhalten“ ausreichend sein, unabhängig von einer gerichtlichen Verurteilung, „sofern dies unbestritten ist oder die Vergehen klar und deutlich zeigen, dass sie der betreffenden Person zuzuschreiben sind“.
Dem hinzuzufügen ist die große Ermessensfreiheit, die die Gesetzgebung den Behörden lässt: In der Praxis neigen die Gerichte auf kantonaler und Bundesebene dazu, dementsprechende Entscheidungen zu bestätigen, wenn sie durch strafrechtliche Verurteilung gerechtfertigt sind. Man hätte also deutlich unter Beweis stellen können, dass Gesetze und Praxis in diesem Bereich sowieso schon sehr hart und unnachgiebig sind. Hart in einem solchen Maß, dass die Schweiz zum wiederholten Male vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention verurteilt wurde3. Es sollte hier das Prinzip der Verhältnismäßigkeit erwähnt werden, ein Grundprinzip, welches in der Bundesverfassung verankert ist. Es schützt die Bürgerinnen und Bürger angesichts staatlicher Eingriffe, um eine überzogene Verletzung der Grundrechte, bezogen auf das zu erreichende Resultat, zu vermeiden. Das gleiche Prinzip, welches das Individuum gegenüber dem Staat schützen soll, findet sich in mehreren internationalen Konventionen wie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder dem Freihandelsabkommen Schweiz-EU. Der Rechtsstaat, so wie er sich im Laufe des 20. Jahrhunderts sowohl auf Schweizer als auch auf internationaler Ebene herausgebildet hat, garantiert jeder ausländischen Person, dass ihr Fall individuell geprüft und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit respektiert wird. Die Verantwortlichen in den Verwaltungen sind also verpflichtet, dies zu berücksichtigen, wenn sie Aufenthaltsgenehmigungen aufheben oder Ausweisungen anordnen. Für die Missachtung dieser Verpflichtung wurde die Schweiz schon vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.

Was will die SVP?

Wenn das aktuelle Gesetz bereits mit aller Härte diese Fälle regelt, wonach strebt die SVP also? Die Initiative zur Ausweisung schlägt ein System der automatischen Aufhebung des Aufenthaltsrechts vor und dies bei jeglicher Verurteilung gemäß einer jederzeit erweiterbaren Liste von Straftaten. Es wurde festgestellt, dass der „Missbrauch“ der Sozialhilfe oder der Sozialversicherungen genauso behandelt wird wie Mord, Vergewaltigung oder andere schwere sexuelle Straftaten. Daran sind die gesellschaftlichen Vorstellungen gut abzulesen, die den Hintergrund für diese Initiative bilden. Die automatische Aufhebung der Aufenthaltserlaubnis zöge systematisch sowohl die Ausweisung aus dem Land als auch ein Einreiseverbot nach sich. Schließlich müssten immer Sanktionen gegen Personen verhängt werden, die gegen das Verbot der Einreise verstoßen oder die illegal einreisen, auf welche Weise auch immer. Es ist augenfällig, dass der Kern der Initiative, nämlich der automatische Charakter einer Aufhebung der Aufenthaltserlaubnis und einer Ausweisung, niemals mit den Erfordernissen internationaler Konventionen und übrigens auch nicht mit den Grundsätzen der gültigen Verfassung übereinstimmen kann. In Wirklichkeit verstößt dieser Automatismus direkt gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und gegen jegliche Rechtssprechung, die aus einzelnen Fällen der internationalen Gerichtsbarkeit hergeleitet werden kann. Eine Umsetzung in die Praxis dieser Initiative wird unvermeidlich zu einem juristischen Chaos führen.

Ein starker Staat!

Sollte die SVP nicht bemerkt haben, dass ihr Text fundamental sowohl gegen die Grundprinzipien des Rechtsstaats, wie auch gegen die internationalen rechtlichen Garantien verstößt? Das ist eigentlich nicht ernsthaft anzunehmen. Umso mehr, als dass nach der Annahme von Initiativen zum lebenslangen Freiheitsentzug, zur Nichtverjährbarkeit von Vergehen der Kinderpornographie und gegen den Bau von Minaretten, die alle von der SVP unterstützt wurden, dieses die vierte innerhalb von sechs Jahren angenommene Initiative ist, die gegen Menschenrechte verstößt.
Die daraus zu ziehende Schlussfolgerung ist einfach: In dieser ganzen Angelegenheit ist der kriminelle Ausländer lediglich ein bequemer Sündenbock. Die SVP will eigentlich etwas ganz anderes: Sie will staatliches Handeln neu bestimmen, den Staat durch die Aufhebung von Einschränkungen zu einer hyper-autoritären Macht entwickeln und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit aufheben. Der Verweis auf den vorgeblichen „Missbrauch von Sozialleistungen“ bestätigt: Es geht darum, die Armen zu treffen, alle, die von öffentlicher Fürsorge abhängen oder von den sozialen Sicherungssystemen, gnadenlos alle, ganz gleich, wer sie sind. Man kann der SVP schon zugestehen, in einem Klima der großen sozialen Unsicherheit mit dem Zielen auf die Debatte um kriminelle Ausländer einen Geniestreich gelandet zu haben. Nach Jahren ausländerfeindlicher Propaganda möchte niemand mit einem Ausländer und schon gar nicht mit einem Straffälligen gleichgesetzt werden. Die Kombination dieser zwei Attribute wird nunmehr als Verkörperung des absolut Bösen präsentiert. Man würde falsch liegen, die strategische Intelligenz der SVP zu unterschätzen. Mit ihren populistischen und vereinfachenden Slogans, ihren provokanten Erklärungen in den Medien und ihren verletzenden Äußerungen, die öffentlich an die Repräsentanten staatlicher Autorität gerichtet werden, hat diese Partei bisher fast jeden dazu gebracht, sich das Prinzip der Gleichheit wegzuwünschen, mit dem Sinn für Gemeinschaft und Solidarität zu brechen und „schwarze Schafe“ zu opfern, um nicht selbst als nächster verjagt zu werden3. Mit mehr Raffinesse als erkennbar hat diese Operation die Einführung von Ergänzungen in der Bundesverfassung bewirkt, die diskriminierend sind und den Menschenrechten Hohn sprechen. Aber aufgepasst! Man muss es wieder und wieder sagen: Die SVP wird nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Liest man ihr politisches Programm 2011 bis 2015, das auf ihrem Kongress im Dezember 2010 diskutiert wurde, kann man sich davon überzeugen. Dort kann man neue drastische Vorschläge entdecken, die ausländische Personen oder Flüchtlinge betreffen. Als exemplarische Illustrationen seien zitiert: Wegfall jeglicher Sozialhilfe für Personen, deren Asylantrag abgewiesen wurde, Beschränkung der Zahl ausländischer Studenten an Schweizer Universitäten, Ablehnung jeglicher Legalisierung von Papierlosen, die Einbürgerung „auf Probe“ oder – last but not least – die Abschaffung der Bundeskommission gegen Rassismus.

Schlimmer noch …

Die SVP befürwortet zudem restriktive Maßnahmen gegen Invalide wie eine Einschränkung der Zahl von Invalidenrentnern und den Ausschluss von behinderten Kindern aus „normalen“ Schulen. Hier handelt es sich gar nicht um Fragen der Nationalität, sondern um Personen, denen durch staatliche Maßnahmen Solidarität zuteil wird.
Die SVP kaschiert das auch überhaupt nicht: Diese Partei stellt sich gegen jede finanzielle Unterstützung durch den Staat, sobald eine solche zur Debatte steht, und das in den verschiedensten Bereichen. Sie sagt nein zu jeglicher Subvention von Mutterschaftsversicherung, Kinderkrippen und Schulhorten, den ergänzenden Leistungen zur Zahlung der monatlichen Krankenkassenbeiträge, der Gesundheitsvorsorge, der Frührente, der Gleichstellungsprogramme, Kulturförderung, Integrationshilfe, Entwicklungshilfe, Bildung, öffentlichem Fernsehen, öffentlichem Nahverkehr, Kampf gegen Rassismus, alternativen Energien sowie Umweltsteuern.
In ihrem gesamten Programm 2011 bis 2015 und für alle eben erwähnten Bereiche geißelt die SVP unaufhörlich den „Umverteilungsstaat“. Um das Maß voll zu machen, kann man im Weiteren den Vorschlag zur Abschaffung der Gleichstellungsämter, des sozialen Wohnungsbaus und zur Einführung von Zwangsarbeit als Form der Bestrafung erwähnen. Andererseits unterstützt die SVP mit all ihren Kräften den Finanzplatz Schweiz und verteidigt auf Teufel komm raus das Bankgeheimnis. Und kümmert sich nicht im Geringsten darum, dass all dies nicht mit internationalen Konventionen übereinstimmt. Die SVP spricht sogar offen davon, jene Texte aufzukündigen, die ihrem Projekt des politischen Umbaus entgegenstehen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass dies den modernen Rechtsstaat ernsthaft in Frage stellt, der internationales Recht höher bewertet als innerstaatliche Gesetze. Aus derselben Perspektive, die auf die Demontage der Menschenrechte hinausläuft, sucht das Programm der SVP an mehreren Stellen die Gerichte zu Schuldigen zu machen. Es wirft ihnen vor, den Willen des Volkes in vielen Bereichen zu unterminieren. Erkennbar ist ein deutliches Streben nach Restauration einer Gesellschaft, in der die ökonomische, politische und soziale Macht von einer reichen Minderheit ausgeübt wird, die in den Schulen von der ersten Klasse an handverlesen werden soll. Arme und von der Gesellschaft Ausgeschlossene, ganz gleich ob AusländerInnen oder SchweizerInnen, passen schon wegen der unerträglichen sozialen Kosten, die sie verursachen, nicht in den Rahmen einer von der SVP angestrebten Gesellschaft. Nunmehr handelt es sich also darum, diese zu vertreiben: Das ist die Rolle, die einem stark abgespeckten, aber auf Hochsicherheit gerüsteten Staat zufallen soll.

Jeden Begriff von Gleichheit außer Kraft setzen

Kommen wir noch einmal auf die Ausweisungsinitiative und ihren wesentlichen Gesichtspunkt zurück: Bei dieser ganzen Sache ist der kriminelle Ausländer nichts weiter als der Sündenbock. Die „schwarzen Schafe“, die zur Schau getragene und die verinnerlichte Ausländerfeindlichkeit sind nur Deckmantel. Wie man erst jüngst feststellen konnte, geht der Plan der SVP viel weiter und betrifft in Wirklichkeit sämtliche in der Schweiz lebenden Personen, egal ob Ausländer oder nicht. Die auf Angst gegründeten Sicherheitsmaßnahmen haben Vorrang vor jedem Grundrecht, der Hochsicherheitsstaat soll herrschen, und jeglicher Begriff von Gleichheit soll ausgeschaltet werden. Die tatsächliche Absicht der SVP, die sich hinter ihrer Initiative abzeichnet, war und ist der radikale Umbau unserer Gesellschaft. Darauf müssen wir aktuell kontern. Die Kampagne vor der Abstimmung hat klar gezeigt, dass diese Gegenreaktion sich nicht auf dem von der SVP bestimmten Feld abspielen darf. Die Formulierung des Gegenvorschlags4 ist ein ideales Beispiel dafür, was zu vermeiden ist. Die auch hier formulierte Einführung einer Pflicht zur Aufhebung der Aufenthaltserlaubnis in gewissen Fällen ist keine wirkliche Alternative. Die vom Parlament in letzter Minute beschlossene Formulierung steht vielleicht besser mit unserer Rechtsordnung in Einklang, besonders durch die Erwähnung von Grundrechten. Aber im Grunde genommen unterscheidet sie sich nicht von den Vorschlägen der Initiative. Der Automatismus, der zur Ausweisung führt, denn darauf läuft besagte Formulierung hinaus, nimmt der Beschwörung von Grundrechten jegliche Substanz. Übrigens stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der rechten Parteien und deren Verantwortlichen in den Ämtern, wenn sie sich auf die Grundrechte berufen. Ihre Verlautbarungen und ihre Entscheidungen sprechen ihnen doch täglich Hohn: Die jüngste Serie von scharfen Verurteilungen der Schweiz durch unterschiedliche Einrichtungen der UNO oder durch den EGMR spricht Bände. Schlimmer noch, der Gegenvorschlag der Regierung stellt explizit eine Verbindung zu Fragen der Integration her, indem dort festgestellt wird, dass eine gut integrierte ausländische Person keine kriminellen Handlungen begehen würde. Ein fundamental rassistischer Gedanke, weil Kriminalität mit nationaler Herkunft in Verbindung gebracht wird: Als ob Schweizer niemals kriminell würden! Man weiß jedoch aus Studien zu diesem Gebiet, dass Kriminalität vor allem durch soziale Faktoren zu erklären ist. In diesem Punkt ist die Regierung und die Mehrheit im Parlament, darunter Teile der Linken, jedoch noch weiter gegangen als die SVP… Indem sie die nicht hinnehmbaren Thesen der SVP durchgewunken haben, sind die Unterstützer des Gegenvorschlags einem groben Angriff auf die Menschenrechte auf den Leim gegangen und haben damit die Ablehnungsfront entzweit. Die Grundwerte der schweizerischen Gesellschaft hätten klar formuliert und die tatsächlichen Absichten der Initiative enthüllt werden müssen. Diese gehen uns nämlich alle an. Um das eben Gesagte noch einmal zu unterstreichen, sei noch einmal auf die sich häufenden Attacken der SVP gegen die Invalidenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe hingewiesen, natürlich so formuliert, als ob nur die entsprechenden Sozialleistungen für Asylbewerber gemeint wären. Im Gegensatz zu dem, was die irreführende Propaganda der SVP beteuert, wird die zunehmende Unsicherheit der sozialen Sicherungssysteme nicht von den sogenannten „Sozialbetrügern“ ausgelöst, wovon natürlich die meisten Ausländer seien: Viel eher geht diese von den Machenschaften derjenigen aus, die den Sozialstaat attackieren, um all das zu zerschlagen und zu deregulieren, was ihnen dazu geeignet erscheint. Dies muss deutlich gemacht werden.
Wie kann in unserer von politischer Manipulation geschwächten Demokratie der Zerstörung des Rechtsstaates und seiner sozialen Errungenschaften Einhalt geboten werden, ohne einem autoritären Reflex und dem Streben nach Ordnung und Sicherheit Vorschub zu leisten? Wie können die BürgerInnen dieses Landes davon überzeugt werden, dass das Schicksal ausländischer Personen und der Flüchtlinge aufs Engste mit ihrem eigenen verbunden ist? Dass die Behandlung jener Personen lediglich einen Vorgeschmack davon gibt, was auch ihnen, den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, bestimmt sein wird? Diese Fragen verweisen auf den immensen Handlungsbedarf.

1. Schweizer Volkspartei (SVP). Eine schweizerische, politisch rechte (sogar rechtsextreme) Partei, konservativ in Fragen der Moral und liberal in Fragen der Wirtschaft

2. Das ist ein Bürgerrecht in der Schweiz, das den Bürgern erlaubt, einen Vorschlag zu unterbreiten und diesen dem Volk zur Abstimmung vorzulegen. Dieses Recht besteht auf drei Ebenen staatlicher Politik: auf der Bundesebene für eine Verfassungsänderung, auf kantonaler oder kommunaler Ebene, um ein bestehendes Gesetz zu ändern oder ein neues Gesetz einzuführen.

3. Im August 2007 veröffentliche die SVP Wahlplakate mit dem Slogan „Sicherheit schaffen“, auf denen weiße Schafe dargestellt sind, die ein schwarzes Schaf über die Schweizer Grenze schubsen.

4. Es ist der Regierung möglich, zu einer Initiative einen Gegenvorschlag zu formulieren, der gleichzeitig zur Abstimmung gebracht wird.