SCHWEIZ: Für eine Landsgemeinde der Immigration und des Asylwesens.

de Bruno Clément*, 12 sept. 2005, publié à Archipel 130

DieCoordination asile Vaud schlägt sämtlichen Kräften, die sich für die Rechte der MigrantInnen mobilisieren, vor, im November 2005 vor der Lancierung der Referenden über die Asylgesetzgebung und die Regelung des Aufenthalts der Ausländer zwei Tage lang eine „Landsgemeinde der Immigration und des Asylwesens“ zu organisieren.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern treffen die Sozialen Bewegungen in der Schweiz regelmässig auf zwei „hausgemachte“ Hindernisse: Das erste ist der „Kantönligeist“, der die Bewegungen in eine vom politischen Föderalismus geprägte Dynamik zwängt. Während sich einige politische Aktionen im kantonalen Rahmen entwickeln können und müssen, gibt es zahlreiche Sozialthemen, die gleichzeitig Probleme auf Bundes– bzw. internationaler Ebene abdekken. Der „Kantönligeist“ verhindert somit oft, dass auf den beiden entsprechenden Ebenen – der kantonalen und der nationalen – gehandelt wird und blockiert die Sozialen Bewegungen in ihrer Entwicklung und in ihrer Fähigkeit, Einfluss auf die Beschlüsse von Institutionen (Eidgenössische Räte und Bundesrat) oder von Arbeitgebern auszuüben.

Das zweite Hindernis ist** stets das Sprachproblem und der chronische Geldmangel der Sozialen Bewegungen, aufgrund dessen man sich nicht immer eine Übersetzung leisten kann – sei es für Texte oder Versammlungen.

Zu diesen gewohnten – und kurz dargelegten – Hindernissen kommen bezüglich der Rechte der MigrantInnen drei weitere spezifische Probleme hinzu:

Das erste ist die ständige Trennung zwischen Asyl und Immigration. Diese Trennung lässt sich sowohl in den Konzepten und Analysen feststellen – was speziell ist und was man gemeinsam hat – als auch in den Organisationen und Aktionen bzw. unter den Betroffenen selbst, d.h. den MigrantInnen und Schweizer BürgerInnen, die sich für die Solidarität einsetzen. Diese Trennung stellt zweifellos seit über zwanzig Jahren ein Hindernis im Kampf der MigrantInnen für ihre Rechte dar und erschwert es, eine gemeinsame Antwort auf die ständigen Angriffe der reaktionären Kreise zu finden.

Das zweite ist die klare Trennung zwischen dem in der Schweiz und dem europaweit geführten Kampf. Es gibt zwar Netzwerke, und einige Kontaktpunkte sind im Entstehen begriffen, insbe-sondere seit es die europäischen Sozialforen gibt, aber diese sind nicht allzu solide und besitzen nur eine geringe Kapazität zur Durchführung von gemeinsamen Aktionen.

Das dritte ist schliesslich die Anwendung von Mitteln der sogenannten direkten Demokratie, d.h. Referenden und Initiativen. Diese Mittel – deren Tragweite unterschiedlich ist – sollen zwar einerseits genutzt werden, aber andererseits werden dadurch oft ergänzende oder spezifische Interventionsmöglichkeiten blockiert oder die kreative Kapazität der Sozialen Bewegungen wird bei der Formgebung ihrer Aktionen gar zunichte gemacht.

Eine Landsgemeinde auf nationaler Ebene

Dieses Projekt ergab sich aus den Debatten, die in der Coordination asile Vaud und einem Workshop im Rahmen des Schweizer Sozialforums vom 5. Juni 2005 in Fribourg stattfanden.

Im Französischen soll diese Versammlung „États généraux“ (Generalstände) heissen. Dies bezieht sich auf einen historischen Zeitpunkt der französischen Revolution, während dem der sogenannte „Dritte Stand“ (Tiers État) entstanden ist, d.h. das Volk war der entscheidende Akteur der sozialen Veränderung. Die deutsche Bezeichnung „Landsgemeinde“ versucht, diesen Begriff kreativ aufzunehmen, weil eine direkte und weit verständliche Übersetzung nicht möglich ist.

Die Referenden

Angesichts der x-ten Verschärfung des Asylgesetzes (AsylG), die alles, was vom Recht auf Schutz vor Verfolgung noch übrig geblieben ist, gänzlich zunichte machen wird und angesichts der schwerwiegenden Revision des Gesetzes über den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern (AuG, ehemals ANAG), welche die Diskriminierung als Grundlage für die Reglementierung betreffend die MigrantInnen endgültig im Gesetz verankern wird, werden zwei Referenden lanciert. Denn im Gegensatz zu gewissen „frommen Wünschen“, die hier und da ausgedrückt wurden, kann man sich nicht darauf verlassen, dass der Nationalrat die reaktionären Ausschweifungen des Ständerats „korrigiert“.

Die Ergreifung der Referenden wird ein erstes Zeichen der kollektiven Opposition zu dieser ausgrenzenden und freiheitsberaubenden Gesetzgebung setzen, welche die Ausländerfeindlichkeit des Staates auf ein seit 1945 nie gekanntes Niveau treibt.

Doch die Referenden sind von vornherein mit zwei grossen Nachteilen behaftet. Erstens bleiben die am meisten Betroffenen – die Mi-grantInnen selbst – aussen vor, weil ein Referendum lediglich den Schweizer StimmbürgerInnen vorbehalten ist und die MigrantInnen sich damit begnügen müssen zuzusehen, wie „der Zug an ihnen vorbeifährt“. Zweitens kann man gegen die beiden erwähnten Gesetze nichts unternehmen. Es ist in der Tat unvorstellbar, dass die Referenden bei der Volksabstimmung angenommen werden. Wir werden sie also verlieren, nur müsste man wissen, zu wieviel Prozent!

Daher ist es wichtig und sogar unbedingt erforderlich für die Dynamik der Sozialen Bewegungen, sich von Anbeginn an darüber im Klaren zu sein und die Referenden öffentlich als eine blosse Etappe unserer entschiedenen Opposition zu diesen beiden Gesetzen bzw. als Teil eines Ganzen zu präsentieren. Ansonsten wird am Abend der Niederlage nur eine Art kollektiver Verbitterung und folglich ein gefährlicher Rückgang der Bewegung zu spüren sein.

Aus diesem Grund schlagen wir vor, dass die „Landsgemeinde“ vor der Lancierung der Referenden tagt, damit die Kampagnen für die Referenden – d.h. die Unterschriftensammlung und dann die eigentliche Abstimmung – in einer umfassenderen und nachhaltigeren globalen Dynamik vonstatten gehen.

Das Programm der „Landsgemeinde“

Die „Landsgemeinde“, die wir vorschlagen, soll sich mit drei wichtigen Bereichen auseinandersetzen:

Der erste betrifft den Erfahrungsaustausch (sozialer Kampf und Widerstand, verschiedene Begleitmassnahmen, Beratungsstellen etc.), um die derzeitige Situation der Sozialen Bewegungen in jedem Kanton zu beurteilen und Bilanz zu ziehen – dies in Bezug auf die ImmigrantInnen, die in unserem Land bleiben (Kampf um politische Rechte, Integrationsprogramme, Schengen-Visa, Einbürgerung, Secundos etc.); die Sans-papiers (Regularisierung, Sozialversicherungen, Arbeitsbedingungen, Recht auf Bildung und Ausbildung nach der obligatorischen Schulzeit, Ausschaffung, Zwangsmassnahmen etc.); die NEE-Asylbewerber (Nothilfe, Sozialhilfe, Daueraufenthalt, Zwangsmassnahmen etc.); die Asylbewerber, die noch im Verfahren sind (juristische Unterstützung, Sozialhilfe, Recht auf Arbeit, Bildung und Ausbildung (nach der obligatorischen Schulzeit), medizinische Behandlungen, Ausübung der Zivilrechte, z.B. Heirat, besondere Lage der unbegleiteten Minderjährigen etc.); die Abgewiesenen (Ausschaffung, Anwendung des Non-refoulement-Prinzips, Zwangsmassnahmen, ausserordentliche Verfahren, Schutz von bedrohten Personen etc.).

In diesem ersten Teil kommen die Basisgruppen, die Verbände und Kollektive sowie die Gewerkschaften zu Wort. Sie sollen anhand einer Synthese ausführen, was geschieht und was getan wird.

Der zweite Bereich ist der Analyse der Situation gewidmet. Dies betrifft sowohl die politische Lage (Verschiedenheit der politischen Kreise, Ausrichtungen in den Kantonen) als auch die Lage der Institutionen (Stand der Debatten in den Eidgenössischen Räten). Es geht nicht nur darum, die Eigenheiten und Ähnlichkeiten der Immigration und des Asylwesens zu thematisieren, sondern auch darum, eine Beziehung zwischen der Vertretung der Rechte von MigrantInnen und der Sozialrechte von (uns) allen herzustellen – dies insbesondere durch die Grundrechte und –freiheiten, die hierzulande wie auch auf internationaler Ebene von den verschiedenen Regierungsbehörden und Arbeitgebergremien weitgehend in Frage gestellt oder verletzt werden. Schliesslich müssen wir auch einen Blick auf die Geschichte der Bewegung selbst werfen und unser Blickfeld zwecks „Horizonterweiterung“ ausdehnen.

In diesem zweiten Teil werden die internen und externen ReferentInnen das Wort ergreifen und ihren Beitrag leisten, damit ihre Überlegungen allen Beteiligten zugute kommen können.

Der dritte Bereich ist für die kollektive Kreation bestimmt. Es geht nämlich darum, kurz- und mittelfristig eine gemeinsame Strategie zu definieren und gemeinsam Aktionen zu verwirklichen, die sowohl zentralisiert als auch dezentralisiert durchgeführt werden können.

Beim Entwurf dieser gemeinsamen Strategie werden verschiedene Fragen erörtert wie beispielsweise die Kampagnen für die Referenden oder die Verbindungen, die zwischen den Sozialen Bewegungen und den Künstlern, Intellektuellen und Forschern oder zwischen den Sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften, politischen Parteien und den Kirchen herzustellen sind. Zudem werden Probleme diskutiert wie die öffentliche Kommunikation, die Art der Popularisierung unseres Kampfes und die Gestaltung der kulturellen Aktionen, die zu intensivieren sind.

In Bezug auf die Aktionen während der Kampagnen für die Referenden – jedoch vor allem ab dem Tag nach der Abstimmung darüber – sollte über bereits bestehende Vorschläge nachgedacht werden wie z.B. „der Streik der MigrantInnen“, „der Solidaritätszug“ oder eine „Volksinitiative“ für die Rechte der MigrantInnen im Zusammenhang mit dem Antrag, die einschlägige internationale Konvention zu ratifizieren, deren Zweckmässigkeit der Bundesrat noch nicht einmal prüfen will, da er dies bis anhin abgelehnt hat.

Dieser dritte Bereich wird vollendet durch die Schaffung eines Schweizer Netzwerks für Informationsaustausch, Reflexionen und Aktionen.

In diesem dritten Teil werden thematische Arbeitsgruppen (Workshops) gebildet, deren Schlussfolgerungen im Plenum präsentiert werden.

Die Modalitäten

Die Coordination asile Vaud hat das Projekt „Landsgemeinde“ am 1. Juli 2005 dem Vorstand von Solidarité sans frontières (Sosf) unterbreitet.

In diesem Text wird das Projekt präsentiert, und wir bitten darum, dass er an alle Gruppen der Sozialen Bewegungen geschickt wird und man darüber diskutiert. Wir möchten, dass sich möglichst viele Gruppen an diesem Projekt beteiligen. Deshalb sollen sie von Anfang bei der Verwirklichung dieser „Landsgemeinde“ und weiteren damit verbundenen Projekten mitmachen.

Es ist viel zu tun, aber wir glauben, dass die anlässlich der landesweiten Demonstration vom 18. Juni 2005 entstandene Dynamik durch diese gemeinsame Veranstaltung noch zunehmen wird, aus der wir noch stärker hervorgehen werden, weil wir uns dann besser kennen gelernt und gemeinsame Ziele gesteckt haben werden, die wir – unabhängig von notwendigen Referenden – selbst bestimmen können.

Damit die Tagung dieser „Landsgemeinde“ möglichst reibungslos verläuft und sie wirklich die nationale Plattform „Immigration und Asylwesen“ darstellt, die unseren Wünschen entspricht, meinen wir

  • dass uns die Antworten aller interessierten Gruppen bis spätestens Mitte September zukommen müssen;

  • die Gruppe, welche die Tagung vorbereitet, in Zusammenarbeit mit Sosf gebildet wird und aus all denjenigen bestehen soll, die gerne daran teilnehmen möchten;

  • die „Landsgemeinde“ in Bern in entsprechend grossen Räumen zwei Tage lang tagt, damit man möglichst effizient und ohne Stress arbeiten kann;

  • eine entsprechende Simultanübersetzung – wie sie z.B. in den europäischen Sozialforen vorhanden ist – zur Verfügung gestellt wird.

Bruno Clément*

Lausanne, 27. 7. 2005

*Regionalsekretär von Comedia , der Mediengewerkschaft

Kollektivmitglied der Coordination asile Vaud

Coordination asile Vaud

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