SCHWEIZ: Was heisst eigentlich «Überfremdung»?

de Hannes Reiser (EBF, CEDRI Schweiz), 4 juin 2005, publié à Archipel 128

Seit Jahren haut man uns in der Schweiz ein Schlagwort um die Ohren. Das Land sei überfremdet. Die Überfremdung soll uns alle bedrohen, unsere Identität, unsere soziale Sicherheit, unsere Kultur, den Schulweg unserer Kinder, unsere Arbeitsplätze...

In allen europäischen Ländern sind neonationale Strömungen festzustellen. In der Schweiz haben wir die Überfremdungsangst. Seit hundert Jahren ist die Schweiz stark «überfremdet» und es geht dem Land - wie wir alle wissen - immer schlechter deswegen. Ein ganzes Heer von Fremdenpolizisten, Migrationsbürokraten, Asylbeamten, Einwohnerdienstlern, Grenzwächtern und Ausschaffungsgefängniswärtern versuchen, uns mit Millionenbudgets vor der Überfremdung zu schützen. Mit so wenig Erfolg offenbar, dass das verängstigte Parlament den grössten Überfremdungsprediger des Landes, Dr. Christoph Blocher, auch noch zum Justiz- Polizei- und Migrationsminister machen musste.

Überfremdung – was heisst das eigentlich genau? Niemand weiss es nämlich im Grunde genommen so richtig, aber viele haben Angst davor.

Archipel ist eine zweisprachige Zeitschrift, also sollten wir versuchen, das Wort erst einmal in die französische Sprache zu übersetzen. In Langenscheidts Grosswörterbuch steht zu lesen: «Überfremdung» sei gleichbedeutend mit «envahissement par les étrangers». Zurückübersetzt auf deutsch heisst dies dann aber soviel wie «feindlicher Einfall von Ausländern». Der groteske Inhalt des Wortes wird sichtbar. Aus diesem Grunde schaffte es dieser Begriff wahrscheinlich im französischen Teil der Schweiz nie so richtig, zum politischen Schlagwort aufzusteigen. Auch in anderen Sprachen finden wir kein richtiges Pendant zu diesem handlichen nebulösen deutschen Begriff. Wir bleiben auf die deutsche Schweiz, Österreich und Deutschland zurückgeworfen.

In Österreich wird das Wort ausschliesslich von Anhängern deutsch-nationalen Gedankenguts genutzt. In der deutschen Schweiz ist das Wort nach wie vor landauf landab geläufig. Kaum jemand nimmt Anstoss daran. Noch gut in Erinnerung ist die «Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» des rechtskonservativen James Schwarzenbach. Dieser formulierte in den 1960er Jahren eine äusserst aggressive fremdenfeindliche Bedrohungsideologie, auf welche heute die Schweizerische Volkspartei (SVP) von Dr. Christoph Blocher aufbaut. Auch in Fernsehdiskussionen, Parlamentsdebatten, Lokalpresse, einzelnen Gesetzestexten und kantonalen Verordnungen ist dieses Wort in der Schweiz immer wieder präsent.

Im Artikel 8 der Vollzugverordnung des Ausländergesetzes der Schweiz können wir zum Beispiel lesen: «Bei der Beurteilung von Bewilligungsgesuchen sind die geistigen und wirtschaftlichen Interessen, der Grad der Überfremdung und die Lage des Arbeitsmarktes zu berücksichtigen». Die, zumindest in der Schweiz, renommierte «Gesellschaft für praktische Sozialforschung, gfs», ein Meinungsforschungsinstitut, fragt in ihren Umfragen nach den wichtigsten Ängsten der Schweizer unter anderem Jahr für Jahr die Bevölkerung: «Haben Sie Angst vor Überfremdung durch Ausländer und Flüchtlinge?» Im Jahre 2004 antworteten zwei Drittel, sie lesen richtig: zwei Drittel, der Befragten, sie hätten Angst vor der Überfremdung ihres Landes. Man muss nur richtig fragen.

Wie kommt ein Land, das seinen Einwanderern, von der heutigen Migration über jene der letzten 150 Jahre bis zurück zu den Hugenotten doch so viel verdankt, zu diesem merkwürdigen Feindbild? In seinem Buch «Über Fremde reden» (Chronos Verlag) ist Patrick Kury der Schweizer Geschichte dieses Wortes nachgegangen. Die Schweiz war eine reine Willensnation. Mangels «objektiver» Faktoren für die Nationenbildung wie gemeinsame Sprache, Religion oder Volkstum, war das angrenzende «Fremde» als «Nicht-Schweiz» eine Definitionshilfe für die einfachen Leute: «Schweiz ist, was nicht fremd ist». Dreht man den Satz wieder um, entsteht schon bald: «Fremdes bedroht die Schweiz in ihrer Existenz». Die Spirale beginnt sich zu drehen. Diese Haltung verschärfte sich in der Krise der 1920er Jahre dann gefährlich, als nach der Gründung der eidgenössischen Fremdenpolizei der Überfremdungsdiskurs eine neue Ausrichtung erhielt. Das Reden über «Fremde» wurde antisemitisch aufgeladen, und die Formen der Abwehr, insbesondere gegen jüdische Menschen, verfestigten sich lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, wo das Wort seinerseits geläufig wurde und seinen vernichtenden Inhalt bekam.

In Deutschland jedoch findet heute, nicht zuletzt im Rahmen der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, jährlich eine Aktion «Unwort des Jahres» statt. Bürgerinnen und Bürger werden aufgefordert, sprachliche Missgriffe zu nennen, die im jeweiligen Jahr besonders negativ aufgefallen sind, Wörter und Formulierungen aus der öffentlichen Sprache, die grob unangemessen sind und möglicherweise sogar die Menschenwürde verletzen. Die Entscheidung über das Unwort des Jahren trifft eine Jury aus Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern und Vertretern aus Kulturinstitutionen, Politik und Verbänden Deutschlands.

Im Jahre 1993 wurde das Wort «Überfremdung» im deutschen Sprachraum zum Unwort des Jahres erklärt. «Ausschlaggebend war die Feststellung, dass ‚Überfremdung’ nach wie vor im Sinne einer rassistischen Interpretation verwendet wird. Bis 1934 war ‚Überfremdung’ in Deutschland noch ein rein betriebswissenschaftlicher Terminus (zuviel fremdes Geld in einem Unternehmen). Danach musste der Rechtschreib-Duden die Interpretation ‚Eindringen Fremdrassiger’ und ‚Eindringen fremden Volkstums’ (1941) aufnehmen... Überfremdung wurde zur Stammtischparole, die auch die undifferenzierteste Fremdenfeindlichkeit argumentativ absichern soll...» können wir in der Begründung lesen.

Noch strenger geht die freie Enzyklopädie «Wikipedia» mit dem Begriff ins Gericht: «Überfremdung ist ein ideologischer Leitbegriff der Rechten in den deutschsprachigen Ländern. Er unterstellt, dass die Zahl der ins eigene Land kommenden Ausländer so hoch sei, dass sie die normale Entwicklung der eigenen Kultur beeinträchtigt, bzw. ganz verhindern würde und stattdessen die Fremden die Herrschaft übernähmen...» Der Begriff tauchte in der politischen Diskussion in Deutschland unter anderem in der Unterzeichnerversion des rassistischen Heidelberger Manifests vom 17. Juni 1981 auf.

In einem «Aufruf an alle Deutschen zur Notwehr gegen Überfremdung» haben sich 1998 intellektuelle Rechtsextremisten wie Helmut Schröcke bemüht, die «Überfremdung» als eine schwere Gefahr für die Gesellschaft darzustellen. Diese vielfach verbreitete Hetzschrift zeichnete sich besonders durch einen verschärften Antisemitismus aus. Hier wurden «alle volks-treuen Deutschen zur Notwehr gegen den von der Staatsführung amtlich geplanten und mit brutalen Methoden durchgeführten Völkermord am deutschen Volk» aufgerufen und aufgefordert, «den Rechtsanspruch Fremder auf Asyl sofort auszuschliessen...» und die Zuwanderung osteuropäischer Juden zu stoppen. Daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren des Bundeskriminalamts gegen die 65 Unterzeichner wegen Volksverhetzung eingeleitet, das jedoch 1999 eingestellt wurde.

«Wer sich über die Untaten aus Fremdenfeindlichkeit empört, der darf die Unworte nicht überhören oder gar selber gebrauchen, die viel zu häufig die Runde machen. Unworte bereiten Untaten den Boden.» Diese Aussage des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau aus dem Jahre 2000 sollte man 60 Jahre nach Kriegsende nicht vergessen, wenn man sich mit der Vergangenheit und der Gegenwart auseinandersetzen will, auch in der Schweiz nicht.

Oder vielleicht kann man es auch einfacher sagen, so wie wir es vor 35 Jahren als Lehrlingsbewegung Hydra bei unseren Kampagnen gegen die Hetze von James Schwarzenbach plakatierten: «Nicht die Überfremdung, die Überblödung der Schweiz ist die Gefahr».

Und nicht vergessen: Am 18. Juni treffen wir uns um 14.00 Uhr am Waisenhausplatz in Bern zur gesamtschweizerischen Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit. Schluss mit der Blocher-Politik, wir sind die Schweiz, wir alle, die hier leben, unabhängig von unserer Herkunft, unserem Pass und unserem Aufenthaltsstatus.

Hannes Reiser

EBF, CEDRI Schweiz