UKRAINE: NO-BORDER Viele Grenzen, ein Camp

de Ute Weinmann (Uzhgorod), 21 nov. 2007, publié à Archipel 153

Im westukrainischen Transkarpatien werden mit Unterstützung der EU neue Grenzanlagen und spezielle Flüchtlingslager errichtet. Dort fand das erste antirassistische Grenzcamp auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion statt.

An der Grenze zur Ukraine ist Schluss. Die vorerst letzte Erweiterungsrunde Anfang 2007 hat die östliche Außengrenze der Europäischen Union mindestens für das kommende Jahrzehnt festgelegt. Der größte rein europäische Flächenstaat darf noch lange auf seinen EU-Beitritt warten, ent-sprechende Verhandlungen sollen frühestens im Jahr 2014 beginnen.

An Erfahrungen mit der Grenze mangelt es dem am westlichsten Zipfel der Ukraine gelegenen Transkarpatien keineswegs. Der Schuldirektor in dem ungarisch-ukrainischen Dorf Rakosi fasste die eigentümliche Grenzlage Transkarpatiens aus historischer Perspektive anschaulich in einem Satz zusammen: «Mein Großvater hat fünfmal seine Staatsbürgerschaft gewechselt, ohne sich je vom Fleck zu rühren». Ehemals im Besitz Ungarns, wurde das Gebiet 1920 der Tsche-choslowakei zugesprochen, 1939 dann wieder Ungarn und 1944 noch einmal kurzzeitig der Tschechoslowakei, bevor es Teil der Sowjetunion wurde.

Die jüngere Generation ist mobiler geworden. 40 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung versuchen langfristig oder temporär, den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien anderswo zu verdienen. Insbesondere von den Arbeitsmärkten im Süden Europas sind die ukrainischen Billiglohnarbeiter nicht mehr wegzudenken.

Transkarpatien gehört statistischen Angaben zufolge zu den ärmsten in der Ukraine, aber ein Blick auf die vielen schmucken Neubauten lässt daran zweifeln, ob diese Zahlen die Wirklichkeit wiedergeben. Mit dem Erlös des Bierschmuggels im kleinen Grenzverkehr Richtung Ungarn oder der Slowakei lässt sich wohl kaum ein solides Einfamilienhaus finanzieren.

Neben den Überweisungen von im Ausland arbeitenden Verwandten dürfte vielmehr das ganz große Grenzgeschäft für relativen Reichtum sorgen. Das Geschäft mit Flüchtlingen auf dem Weg in die «Festung Europa» hat sich zu einem lukrativen Wirtschaftssektor entwickelt. Mindestens 50000 Menschen pro Jahr sollen die Route über Transkarpatien wählen, das an Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien grenzt. Sie kommen aus China, Afghanistan, Indien, Bangladesch, Vietnam, den palästinensischen Gebieten, dem Irak, Somalia, Russland und vielen anderen Ländern.

Schlepper muss man gar nicht erst suchen, sie drängen ihre Dienste von selbst auf. Ob am Grenzort Tschop, in der Bezirkshauptstadt Uzhgorod oder in Mukatschewo, sie finden ihre Klientel. Mit-verdienen an den Flüchtlingen kann jeder, der sich im bergigen und dicht bewaldeten Grenzterrain auskennt. Bei den billigsten Angeboten ist das Scheitern allerdings bereits programmiert.

Giwi, ein in einem Flüchtlingsheim in Mukatschewo gestrandeter georgischer Künstler, wollte einfach nur schnell zu seiner Familie nach Frankreich, die er seit ihrer Flucht aus Georgien Anfang der neunziger Jahre nicht mehr gesehen hat. Die ihm für den ersehnten Grenzübertritt abverlangten 700 Dollar reichten indes nicht einmal aus, um auch nur einen Fuß auf den Grenzstreifen zu setzen. «Sie haben mir gesagt, geh’ einfach geradeaus weiter über die Grenze, nach 200 Metern hast du es geschafft», berichtet er. Stattdessen lief er dem ukrainischen Grenzschutz in die Arme und fand sich ein paar Stunden später im geschlossenen Flüchtlingslager in Tschop wieder.

Aber Giwi hat noch Glück gehabt. Der Großteil der beim gescheiterten Grenzübertritt aufgegriffenen Männer landet im berüchtigten Lager Pavschino. Ehemalige Lagerinsassen berichten von eklatantem Trinkwassermangel, Schikanen ihrer Bewacher, Korruption und Schwierigkeiten, den Kontakt zur Außenwelt herzustellen. Frauen und Kinder werden in ein geschlossenes Flüchtlingsheim nach Mukatschewo gebracht.

Für den Ausbau der Grenzanlagen und spezielle Flüchtlingslager stellt die EU insgesamt 40 Millionen Euro bereit. Im Juni schloss die Ukraine mit der EU ein Rückübernahmeabkommen ab, das allerdings erst zwei Jahre nach seiner Ratifizierung vollständig in Kraft treten wird. Gleichzeitig steht die Ratifizierung eines Ende vergangenen Jahres mit Russland ausgehandelten Rückübernahmeabkommens auf der Tagesordnung. Es sind Fälle bekannt, in denen slowakische Grenz-truppen ungeachtet geltender Gesetze Schutzsuchenden den Zugang zum Asylverfahren verweigert und sie an die Ukraine ausgeliefert haben. Die Ukraine ihrerseits schob tschetschenische Flüchtlinge nach Russland ab.

In Transkarpatien zeigen sich die Folgen der Abschirmungspolitik, mit der die EU Flüchtlinge fernhalten will. Um auf die Situation in den Lagern aufmerksam zu machen und gegen das herrschende Grenzregime zu protestieren, fanden sich Mitte August unweit von Uzhgorod über 300 Teilnehmer beim ersten antirassistischen Grenzcamp auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjet-union ein. Die deutsche antirassistische Szene war auffällig gut vertreten und dominierte die Infoveranstaltungen und Diskussionen rund um das Campthema. Die im Schnitt weitaus jüngeren angereisten russischsprachigen Aktivisten hingegen räumten alternativen Veranstaltungen den Vorzug ein und schienen erst gegen Ende die Ausmaße der europäischen Abschiebe- und Lager-praxis zu realisieren.

Die Kommunikation zwischen den Teilnehmern aus Ost und West schien nicht nur auf sprachliche Barrieren zu stoßen. In Ermangelung gemeinsamer Themen und wegen einer völlig undurchsich-tigen Entscheidungsfindung durch den selbst-ernannten alleinigen Campkoordinator entwi-ckel-ten sich teils absurd anmutende, mehrstündige Debatten. So etwa über die Frage, ob den das Grenzcamp auf Befehl der ukrainischen Regierung bewachenden Milizionären tägliche Essensrationen ausgehändigt werden sollten oder nicht.

Die Bewachungsmaßnahme hatte neben der Irritierung der antirassistischen Camper noch einen weiteren unschönen Nebeneffekt. Die durch Konzerte, Filmvorführungen und eine Demonstration im Stadtzentrum von Uzhgorod auf das Camp aufmerksam gewordene lokale Bevölkerung sah sich bis auf wenige Ausnahmen mit einem faktischen Verbot des Zutritts zum Campgelände konfrontiert. Insofern hat das Camp Grenzen eher aufgezeigt und verfestigt, als sie zu durchbrechen. Aber es gibt ja immer ein nächstes Mal.

Dieser Artikel ist in der Berliner Wochenzeitschrift Jungle world vom 6. September 2007 erschienen.