Im September 2019 wurde der Syrer Ahmed H. aus dem Abschiebezentrum in Nyirbator im Nordosten Ungarns, wo er seit Ende Januar 2019 interniert war, nach Budapest transferiert, um nach Zypern zurückkehren zu können. «Hallo, meine Freundinnen und Freunde, das ist die glücklichste E-Mail, die ich je verschickt habe. Ahmed ist am Flughafen in Budapest und wird morgen zu Hause sein.» Diese Meldung schickt uns seine Frau Nadia am 27. September 2019 aus Zypern. Die Nachricht kommt uns unwirklich vor. Denn immer wieder hatten wir in den letzten Monaten Hoffnung geschöpft, dass Ahmed definitiv frei käme, doch diese Hoffnung hatte sich jeweils im letzten Moment zerschlagen. So beschliessen wir, erst zu jubeln, wenn er bei seiner Frau und seinen zwei Kindern in Zypern eingetroffen ist. Und tatsächlich einen Tag später erreicht uns der kurze Satz von Nadia, der viele Tränen verbirgt, sie aber erahnen lässt: «Ahmed ist zu Hause mit mir.»
Damit ging das kafkaeske Trauerspiel um Ahmed H. zu Ende. Er war in Ungarn zu Unrecht wegen angeblichem «Terrorismus» in letzter Instanz zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und im Januar 2019 «freigelassen» worden, aber nur, um sofort in ein geschlossenes Internierungszentrum transferiert zu werden.1 Nach acht Monaten Wartezeit hatte die Regierung von Zypern nun seine Rückkehr erlaubt – stillschweigend. Denn niemand, keine Organisation oder Einzelperson, die sich für Ahmed eingesetzt hatte, war benachrichtigt worden. Nur der Anwalt in Ungarn erfuhr im letzten Moment davon. Die Regierung Zyperns hatte nie auf irgendeinen der zahlreichen Briefe geantwortet, die durch die Kampagnen von Amnesty International, von uns und anderen bei ihr eingetroffen waren.2 Es ist aber mehr als wahrscheinlich, dass unsere breite Mobilisierung die Behörden schlussendlich zum Einlenken gebracht hat – ein schöner, aber später Erfolg, der viel Beharrungsvermögen verlangt hat. Wir danken allen Freund·inn·en und Unterstützer·inne·n, die an die zuständigen Ministerien und den Präsidenten Zyperns geschrieben haben, um die Heimkehr Ahmeds zu ermöglichen.
Gerechtigkeit einfordern
Nun versuchen Ahmed und seine Frau Nadia die schwere Zeit der Gefangenschaft zu verarbeiten und in ihr altes Leben zurückzufinden. Das sei sehr schwierig, sagen sie in einem Interview mit einem Schweizer Radio3, wenige Tage nach Ahmeds Rückkehr. Er erklärt, dass er zwar vergeben könne, aber nicht vergessen, und sein Recht einfordern wolle: «Ich versuche, das Urteil von Ungarn rückgängig zu machen. Das ist mein Recht, weil dieser ganze Prozess eine unfaire Propagandajustiz war. (...) Mein ungarischer Anwalt plante das schon länger, aber er meinte, es sei besser, das zu tun, wenn ich ausgereist bin.»
Ahmed und sein Anwalt streben nun zwei Gerichtsprozesse an: Dabei geht es um eine zivilgerichtliche Klage gegen den ungarischen Staat, weil dieser Ahmed zu Unrecht verurteilt und für seine Propaganda gegen Migrant·in-n·en missbraucht hatte, und eine zweite, strafrechtliche Klage, damit seine Verurteilung als «Terrorist» aufgehoben wird. Wenn er in Ungarn nicht Recht bekommt, was sehr wahrscheinlich ist, wird das Verfahren an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof weitergezogen. Ahmed gibt also nicht auf und wir werden ihn weiterhin in seinem Kampf um Gerechtigkeit unterstützen. Denn wenn dieses Unrecht, welches ihm widerfahren ist, bestehen bleibt, kann bald jeder Mensch, der Flüchtenden weiterhilft – an den Grenzen, in den Bergen oder auf dem Meer – als Terrorist verurteilt werden4 – und das nicht nur in Orbans Ungarn.
Archipel, Februar und Oktober 2018↩