AKTUELL: Die interkulturelle Praxis derInternationalen Gärten Göttingen. Integration und Identität

von Christa Müller (Stiftung Interkultur), 05.02.2003, Veröffentlicht in Archipel 102

Begleitet man Frau Abid auf einem Gang durch Göttingens Innenstadt, kann es lange dauern, bis man das Ziel erreicht. Überall trifft sie Bekannte: Kurden, Araber, Deutsche, Äthiopier, Sri Lankanesen und Kosovaren. Und wenn ihre Taschen gefüllt sind mit frisch geernteten Zucchini, Postelein, Korianderkraut oder Pfefferminze, hat sie meistens schon die Hälfte ihrer Ernte verschenkt, wenn sie zu Hause ankommt. Frau Abid hat etwas zu geben. Das ist nicht selbstverständlich für eine Migrantin in Deutschland.

Frau Abid ist Mitglied des Vereins Internationale Gärten in Göttingen, ein Projekt der Selbstorganisation von MigrantInnen und Deutschen. Bosnischen Flüchtlingsfrauen kam die Idee von einem Garten im Frauencafé des Göttinger Beratungszentrums für Flüchtlinge. Immer nur Tee trinken und Tischschmuck basteln, das war den Frauen auf Dauer zu wenig. Sie wollten raus aus den Einrichtungen der Sozialen Arbeit und ihren Alltag wieder eigenhändig gestalten. Dabei formulierten sie selbst die Bedeutung von Eigenarbeit und Eigenversorgung für ein aus ihrer Sicht angemessenes Leben im Exil: "Zu Hause hatten wir unsere Gärten. Die vermissten wir am meisten. Wir wollten so gerne auch in Deutschland Gärten haben."

Das war 1995. Ein Jahr später konnte der Verein Internationale Gärten das erste Grundstück anpachten. Aus einem Gartenbauprojekt für bosnische Frauen entwickelte sich das Konzept von den Internationalen Gärten nach und nach aus der Praxis heraus. Heute nutzen 300 Frauen, Kinder und Männer aus 20 Nationen rund 12.000 Quadratmeter Fläche in fünf Gärten für den biologischen Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern.

Die Bedeutung der Gärten liegt darin, dass von ihnen Impulse für zukünftige Formen der Neuverwurzelung von Migrantinnen und Migranten sowie für das Entstehen einer bereichernden kulturellen Vielfalt im Einwanderungsland Deutschland ausgehen. Zugleich zeigen die Aktivitäten des Vereins, dass selbstorganisiertes ökologisches Handeln - in diesem Fall die Bewirtschaftung der Gärten - eingebettet in den Bedeutungskontext des Exils, sowohl neue Formen von Vergemeinschaftungsprozessen hervorruft als auch Voraussetzungen dafür schafft, das Geschlechterverhältnis neu auszuhandeln. Die in den Internationalen Gärten praktizierte Kombination ökonomischer, ökologischer und sozialkultureller Elemente, die Demonstration der Vielfalt der Anbaumethoden und des subsistenzorientierten Handwerks sowie die Entstehung neuer interkultureller Kommunikationsformen durch die gemeinsame Arbeit, das öffentliche Zeigen und Praktizieren der Herkunftskulturen – nicht ihr Verstecken oder Vergessen – schaffen vielfältige Wirkungen nach innen und außen, die sowohl die Eigen- als auch die Fremdwahrnehmung von MigrantInnen in der Bundesrepublik transformieren.

In den Gärten bauen die MigrantInnen das an, was sie von zu Hause kennen. Ob die Keimlinge angehen oder nicht, wie die Pflanzen wachsen, was sie brauchen und wie sie später aussehen; all das liefert den Flüchtlingen Informationen über den Boden, auf dem sie jetzt leben und über die Menschen, die hier ansässig sind. Die Experimente, welche die GärtnerInnen mit Pflanzen und Saatgut machen, sind dabei immer zugleich auch soziale Experimente. Wenn es das persische Saatgut nicht schafft, im schweren niedersächsischen Boden zu keimen oder das kurdische Korianderkraut unter der Gießkanne ertrinkt, machen die MigrantInnen interaktive Erfahrungen mit ihrer neuen Heimat.

Die Arbeit in den Gärten besitzt ein kulturübergreifendes, verbindendes Potential - nicht zuletzt über die Berührung von so elementaren Dingen wie Erde und Pflanzen. Anknüpfen an den Agraralltag der Herkunftskulturen, das heißt auch, eine Verbindung herstellen zwischen den verlassenen und den neuen Orten. Es ist das vertraute Aussehen der Pflanzen, das der eigenen Geschichte Gestalt verleiht. Wie die Pflanzen, so verwurzeln sich auch die Menschen nach und nach in den Gärten, in Göttingen, in Deutschland.

Die MigrantInnen schätzen nicht nur den symbolischen Austausch, der über die Aktivitäten in und um die Gärten entsteht, sondern auch dessen Produkte. Frau Abid, 48-jähriges Gründungsmitglied des Vereins, verdeutlicht, wie wichtig der Zugang zu hochwertigen Lebensmitteln für ein würdiges Leben im Exil ist:

"Bei uns zu Hause war alles bio, alles frisch. Hier leider nein. Hier ist viel Gift im Essen. In Bagdad ist überall Markt, und jeden Morgen kommen die Sachen frisch. Die Hühner leben noch auf dem Markt. Hier ist bio sehr teuer. Das kann ich nicht bezahlen. Wenn meine Eltern Brot gekauft haben, haben sie erst die Weizensorte ausgesucht, und wenn es nicht geschmeckt hat, haben wir das Brot zurück gegeben und neues bekommen. Manche Deutsche denken, wir haben arm gelebt, aber wir haben nicht arm gelebt. Hier leben wir arm. Wir können uns gutes Essen nicht leisten." Gartenarbeit als Erinnerungsarbeit

Der Verein Internationale Gärten ist von seinem Selbstverständnis her ein Forum, in dem aus der Vielfalt der Sprachen, Arbeitsweisen, Künste und Lebenserfahrungen neue Kommunikationsformen entstehen. Arbeit ist die vertrauteste Form der Vergemeinschaftung, subsistenzorientierte Arbeit spielt eine entscheidende Rolle bei der Entfaltung neuer Formen des Miteinanders. Weil alle mit Vorliebe das anbauen, kochen oder zeigen, was sie aus ihren Herkunftskulturen kennen, entstehen auch unter den MigrantInnen selbst Austausch- und Erfahrungsfelder. Frau Abid erklärt:

"Wenn eine was gebacken hat, bringt sie es mit, die andere Tee, die andere Kaffee, selbstgemachte Säfte. Wir tauschen die Rezepte aus. Bei Festen kochen alle ihre eigenen Spezialitäten, alle bringen ihre eigene Musik mit. Wir zeigen uns gegenseitig unsere Tänze, aber auch Samen, Pflanzen, Kräuter und Früchte. Gerade auch von den Bosnierinnen haben wir viel gesehen. Sie haben uns viel gezeigt im Garten, z.B. beim Umgraben, oder wie tief man Bohnen pflanzt."

Während der Wintermonate findet in den Internationalen Gärten eine verstärkte Verknüpfung von landwirtschaftlichen Aktivitäten mit Kunst und Handwerk statt. Seit 1999 steht in einem der vier Gärten ein nach mitteleuropäischem Vorbild selbst gemauerter Backofen. Im Frühjahr 2000 bauten die Frauen des Vereins einen orientalischen Ofen aus Lehm und Stroh (Tanur). Tassew Shimeles, Projektkoordinator und landwirtschaftlicher Berater, stellt das Brotbacken in einen interkulturellen Zusammenhang, wenn er sagt, dass jedes Volk sein eigenes Brot hat und die Art, wie es gebacken wird, etwas über die jeweilige Kultur aussagt.

Der Verein zeigt verschiedene Aspekte des Brotbackens in der Praxis auf. Hier wird eine weitere Dimension der Arbeit in den Internationalen Gärten deutlich: Es geht nicht um museale Darstellungen, sondern um die Vermittlung und Neuschöpfung kultureller Besonderheiten im Tun selbst. Dabei vermischen sich Erde und Kulturen, sinnliche Erfahrbarkeit mit ökonomischer Notwendigkeit (das Brot wird gegessen), auch hier wird ein Stück Herkunftskultur neu inszeniert und mit anderen Kulturen verknüpft.

Im Praktizieren und öffentlichen Demonstrieren des Backens in selbst gebauten Öfen findet zugleich eine Auseinandersetzung mit der politischen Geschichte und Ökonomie des Brotes statt. Auf diese Weise wird vermittelbar, wie der "Mangel an Brot" Kriege, Flucht und Migration verursachen kann - die Fragmentierungen der eigenen Biographie finden eine Erklärung.

Zugleich wird das Interesse der Flüchtlinge, die vielfach aus "einfachen" Verhältnissen kommen, an der Welt geweckt: "Für mich war Sri Lanka früher kein Begriff. Durch die Tamilen bei uns im Garten habe ich viel gelernt über Weltpolitik", sagt eine Gärtnerin. Das Kennenlernen der Welt aus verschiedenen ethnischen, religiösen und politischen Perspektiven ist vielleicht ein Ersatz für die Entwurzelung aus dem eigenen Herkunftsland. Der unfreiwillige und häufig durch eine dramatische Fluchtgeschichte belastete Weg in neue Welten wird so im Nachhinein gestaltet; die Globalisierung der eigenen Biographie nachvollziehbar und die enormen persönlichen Herausforderungen, die an die MigrantInnen gestellt werden, durch gemeinschaftliche Formen der Produktion und des Austauschs bewältigbar.

Fremd sind sich alle in den Gärten, und nah zugleich. Die Internationalen GärtnerInnen verbindet keine gemeinsame Herkunft, keine Familientradition. Was sie verbindet, ist ihre Zerrissenheit - und der Wunsch, neue Zusammenhänge für dieses eine Leben zu schaffen. Es existiert keine Dualität von Fremdem und Eigenem, sondern eine Vielfalt von Fremdheit, die der Versuch eint, sich heimisch zu machen. Hier realisieren sich unerwartete Formen von ethnischer Identitätsbildung. Möglicherweise keimen in den Internationalen Gärten – und eben nicht in Kreuzberg, wo sich die Hoffnungen auf ethnische Vielfalt längst zerschlagen haben – die ersten Ansätze einer transkulturellen Gesellschaft: Einer Gesellschaft, deren Ziel die Versorgung der Menschen mit materiellen und sozial-kulturellen Gütern ist und deren Dynamik im Interesse aneinander sowie der Sorge füreinander wurzelt

.

Es geht weiter: Stiftung Interkultur gegründet

Die Internationalen Gärten Göttingen sind heute ein anerkanntes Projekt der interkulturellen Integrationsarbeit sowie des bürgerschaftlichen Engagements. Die wachsende Wertschätzung schlägt sich mittlerweile auch in zahlreichen Preisen und Auszeichnungen nieder, von denen der 2002 verliehene Integrationspreis des Bundespräsidenten nur einer ist.

Die Gründe für den Integrationserfolg der Internationalen Gärten sind vor allem in ihrer Positionierung in "Zwischenräumen" zu suchen: Anders als viele Integrationsprojekte bilden die selbstinitiierten und -verwalteten Gärten in mehrfacher Hinsicht eine - keinesfalls mit einer Einbahnstraße zu verwechselnde - "Passage" zwischen dem Herkunfts- und dem Aufnahmeland der GärtnerInnen sowie zwischen ihrer biografischen Vergangenheit und ihrer Gegenwart.

Der Erfolg und das vielerorts bekundete Interesse an dem hier geleisteten Beitrag zur Integration von MigrantInnen in die plurale Gesellschaft inspirierte die Münchener Forschungsgesellschaft anstiftung als langjährige Kooperationspartnerin der Internationalen Gärten Anfang des Jahres 2003 zur Gründung der Stiftung Interkultur. Die junge Stiftung hat sich auf die Fahnen geschrieben, interkulturelle Gartenprojekte zu fördern und zu vernetzen, von denen in Deutschland mittlerweile mehr als 10 existieren und fast 200 Anfragen auf Nachahmung vorliegen. Im Mittelpunkt der Stiftungsarbeit stehen die integrativen Praktiken der Einwanderinnen und Einwanderer selbst. Gemeint sind hiermit neben zahlreichen praktischen Fähigkeiten mannigfaltige soziale und kulturelle Kompetenzen sowie Erfahrungswissen, das aktualisiert und neu verknüpft wird.

Im Mittelpunkt der Arbeit der Stiftung Interkultur stehen die integrativen Praktiken der Einwanderinnen und Einwanderer selbst. Die Stiftung Interkultur versucht neue Perspektiven jenseits üblicher Dichotomisierungen aufzunehmen, theoretisch zu bündeln und auf eine spezifische Praxis der Integration zu fokussieren, die von den Einwan-derInnen selbst ausgeht. Gemeint sind hiermit neben zahlreichen praktischen Fähigkeiten mannigfaltige soziale und kulturelle Kompetenzen sowie Erfahrungswissen, das aktualisiert und neu verknüpft wird (Kultur der Gastlichkeit, neue Formen der interkulturellen Bildung, diverse Beiträge zum sozialen Frieden und zur Zivilgesellschaft). Es geht also darum, mit Konsequenz eine Perspektive zu erproben, die darauf setzt, kulturelle Differenz positiv zu wenden und sie sozial produktiv zu machen.

Zum Weiterlesen:

Müller, Christa: Wurzeln schlagen in der Fremde. Internationale Gärten und ihre Bedeutung für Integrationsprozesse. München: ökom Verlag 2002

Müller, Christa: Women in the International Gardens: How Subsistence Production Leads to New Forms of Intercultural Communication. In: Bennholdt-Thomsen, Veronika/Faraclas, Nick/v. Werlhof, Claudia (eds.): There is an Alternative. Subsistence and Worldwide Resistance to Corporate Globalization: 189-201, Zed Books, London 2001

Zur Autorin:

Dr. Christa Müller: Studium der Soziologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Bielefeld, Marburg, Berlin und Sevilla, Forschungsaufenthalte in Costa Rica, Mexiko und Westfalen, Mitbegründerin des Instituts für Theorie und Praxis der Subsistenz ; seit 1999 wiss. Mitarbeiterin der Forschungsgesellschaft anstiftung in München, seit 2003 Geschäftsführerin der Stiftung Interkultur, Lehrbeauftragte an der Universität Innsbruck, 1998 Schweisfurth Forschungspreis für Ökologische Ökonomie; Kontakt: Christa.Mueller@anstiftung.de ; www.anstiftung.de