Neokoloniale Verhältnisse sind allgegenwärtig: Über die Ausbeutung von Bodenschätzen im globalen Süden, eine Politik der Verschuldung, Strukturanpassungsprogramme durch IWF und Weltbank u.v.a.m. Angesichts einer solchen Politik, welche die Lebensgrundlagen vieler Menschen im globalen Süden zerstört und Armut verschärft, ist es nur allzu verständlich, wenn Menschen ihre Länder verlassen, um anderswo ihren Anteil an Glück und materieller Sicherheit einzufordern!
Der pensionierte Pfarrer Jacob Schädelin von den reformierten Kirchen Bern-Jura-Soloturn hat in diesem Zusammenhang vor kurzem im Rahmen eines Vortrags in Wien gar von einer Art «Pflicht zur Migration» im Sinne der Pflicht zum Auszug aus unterdrückenden Verhältnissen gesprochen. Eine vom biblischen Imperativ der Suche nach dem guten Leben ausgehende Migrations-Theologie muss ihm zufolge dabei einen neuen Blick auf Migration als Befreiungsprozess entwickeln.
Es kann nur auf gleicher Augenhöhe mit den unmittelbar Betroffenen eine emanzipatorische Bewegung solidarischen Miteinanders aufgebaut werden. Erfolgreiche Kämpfe wie jene der Sans Papiers – also der sogenannten «Papierlosen», d.h. Menschen ohne Aufenthaltspapiere – in Frankreich und der Schweiz beweisen dies ebenso wie die Selbstorganisierung von Slumbewohner_in-nen in Südafrika oder die Mobilisierungen der Landlosenbewegung MST in Brasilien.
Romaria
Auf Letztere, also auf die Bewegung der Landarbeiter_innen ohne Boden (bzw. auf Portugiesisch das Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra), geht ja auch die Idee der Romaria zurück, veranstaltet diese in Brasilien doch schon seit Langem derartige Wallfahrten mit tausenden Teilnehmer_innen. Die damit verfolgten Ziele sind die Unterstützung von Landbesetzungen und das solidarische Eintreten für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Als Teil des internationalen Netzwerks «Via Campesina» unterstützte die MST im Übrigen auch jene Landbesetzung im Norden Wiens am 17. April.
So wie Landarbeiter_innen in aller Welt zu Besetzungen greifen, um auf ihre prekären Lebensbedingungen aufmerksam zu machen und sich gegen ständig drohende Vertreibung zu wehren, haben vergleichbare Aktionsformen in Europa einen ähnlichen Hintergrund. 1996 haben beispielsweise einige hundert Mitglieder der französischen Sans-Papiers-Bewegung die Pariser Kirche St. Bernard besetzt, um auf materielle Not und soziale Ausgrenzung aufmerksam zu machen.
2001 nahmen sich sogenannte «Papierlose» dieses Beispiel auch in der Schweiz zum Vorbild und besetzten mit Unterstützer_innen Kirchen in Lausanne, Fribourg, Bern und Basel. Rund sieben Jahre später fand wieder eine Gruppe von 150 Personen den Mut, eine Kirche in der Schweiz zu besetzen. Diese Kirchenbesetzungen wurden erst durch den starken Zusammenhalt unter den Sans-Papiers möglich. Aber auch solidarisches Handeln von Mitgliedern der jeweiligen Kirchengemeinde sowie antirassistischer Aktivist_innen waren wichtig.
In den genannten Beispielen dienten Kirchenbesetzungen als Aktionsform, um in eigenen Worten auf die diskriminierende Lebenssituation von Flüchtlingen aufgrund bestehender Asyl- und sogenannter Fremdengesetze hinzuweisen. Drei zentrale Forderungen waren dabei immer:
- die Legalisierung des Aufenthalts für alle, die hier wohnen;
- die Aufhebung des Arbeitsverbots bzw. diskriminierender Maßnahmen am Arbeitsmarkt für Flüchtlinge.
- Kirchenbesetzungen sind ein politisches Mittel der Sans-Papiers, um gehört zu werden und öffentliche Aufmerksamkeit für die eigenen Anliegen zu bekommen.
Doch auch das Kirchenasyl, als Mittel von engagierten Kirchengemeinden selbst, hat in den vergangen Jahren die Abschiebung zahlreicher Familien in menschenunwürdige Lebensbedingungen verhindert. In Österreich hat zum Beispiel 2011 die Superintendentin der Diözese Salzburg und Tirol, Luise Müller, dem akut von Abschiebung bedrohten Lamin Jaiteh Kirchenasyl offeriert. Ein paar Jahre zuvor erlangte der Pfarrer von Ungenach, Josef Friedl, Bekanntheit, weil er Arigona Zogaj Unterschlupf gewährt hatte. Darüber hinaus sind Formen des «stillen Asyls» in zahlreichen Gemeinden in Österreich gelebte Praxis. Denn die Verschärfungen im Fremdenrecht und in Folge die Entrechtung von Flüchtlingen schreiten in Österreich, wie der gesamten EU, stetig voran. So bleibt für Betroffene genauso wie für engagierte Unterstützer_innen selbst in einem der reichsten Länder der Welt oftmals als einziger Ausweg, Ungehorsam zu leisten und Gesetze dort zu brechen, wo Recht zu Unrecht wird.
Laut dem einleitend bereits zitierten Pfarrer Jacob Schädelin sei gerade «das Geschäft der Kirche: Dort, wo nach unserer Einschätzung das geschieht, was nicht geschehen darf, muss versucht werden, dem Staat die Legitimation zu entziehen.» In diesem Sinn schließen wir mit einer Parole aus der antirassistischen Bewegung: «Kein Mensch ist illegal! Bleiberecht für alle!»
Auszug aus der Rede des Kollektivs vom Prekär Kaffee, Wien