Alarmphone Sahara

von Olaf Bernau, Afrique-Europe-Interact, 01.04.2019, Veröffentlicht in Archipel 280

Alarmphone Sahara Mitte Februar 2019 fand in Agadez (Niger) ein Treffen von Alarmphone Sahara statt, einem Schwesterprojekt von Watch The Med Alarmphone. Unsere Mitstreiter·innen von Afrique-Europe-Interact (AEI), die dieses Projekt vor 2 Jahren initiiert haben, schickten uns einen ausführlichen Bericht, aus dem wir hier einen Auszug publizieren.

Unser Koordinationstreffen fand in Agadez statt– in jener zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Handelsstadt am Südrand der Sahara, die sich in den letzten Jahren zu einem der Hotspots des europäischen Migrationsregimes entwickelt hat. Das Alarmphone Sahara ist in vielerlei Hinsicht Neuland, ablesbar daran, dass es kaum politische Strukturen gibt, auf die sich das Projekt ernsthaft stützen könnte. Beteiligt sind bislang rund 40 Aktivist·inn·en in Niger, Mali, Burkina Faso, Togo, Marokko, Deutschland und Österreich. Es geht vor allem um drei Zielsetzungen: erstens die Situation auf den Wüstenrouten öffentlichkeitswirksam zu dokumentieren, zweitens den Migrant·inn·en und Geflüchteten nützliche Informationen für die Wüstendurchquerung zur Verfügung zu stellen, und drittens Rettungseinsätze zu initiieren bzw. selber durchzuführen. Zur Planung und Koordination treffen sich Delegierte des Alarmphone Sahara regelmässig an unterschiedlichen Orten – im Februar 2019 bereits zum dritten Mal in Agadez.

Agadez – ein Migrations-hotspot

Durch die seit knapp zwei Jahren massenhaften Rückschiebungen von Migrant·inn·en aus Algerien und Libyen ist Agadez derzeit von Menschen überlaufen, die vor der Wahl stehen, sich von der International Organisation of Migration (IOM) nach Hause bringen zu lassen oder in Agadez zu warten, bevor sie einen weiteren Migrationsversuch Richtung Norden unternehmen. Die rückgeschobenen Migrant·inn·en werden vor allem von Algerien am «Point Zero» abgesetzt, einem sogenannten Punkt Null an der algerisch-nigrischen Grenze nördlich von Arlit (bei dieser Gruppe handelt es sich vor allem um Migrant·inn·en, die bei Razzien in Algerien oder Libyen festgenommen wurden). Von dort müssen sie 15 Kilometer zu Fuss nach Assamaka gehen (die erste Stadt auf nigrischer Seite), was in der Wüste eine gewaltige und somit hochgradig gefährliche Distanz ist, wobei hinzugefügt sei, dass inzwischen auch die IOM und Médecins sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen) die zu Hunderten am Point Zero ausgesetzten Menschen mit Bussen abholen und nach Agadez bringen – allerdings nicht alle (zu denjenigen, die nicht abgeholt werden, gehören z.B. Personen, die psychisch erkrankt sind und sich auffällig verhalten). Interessant ist nun zweierlei: Viele der rückgeschobenen Migrant·inn·en betrachten das IOM-Center in Agadez als eine Möglichkeit, sich auszuruhen, medizinisch versorgen zu lassen und wieder zu Kräften zu kommen, um sodann einen abermaligen Migrationsversuch zu unternehmen. Hierzu gehört auch, dass nicht wenige von ihnen als Billigarbeitskräfte angestellt werden und somit für die ebenfalls extrem armen Bewohner·innen von Agadez zur Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geworden sind, was wiederum Proteste der lokalen Bevölkerung ausgelöst hat.

Diese zurückgeschobenen Migrant·inn·en sind von einer weiteren Gruppe zu unterscheiden: Asylbewerber·innen (vor allem aus dem Sudan, Eritrea und Somalia), die in Niger einen Asylantrag beim UN-Flüchtlingskommissar stellen, in der Hoffnung, von einem der reichen Industrieländer im Rahmen des sogenannten UN-Resettlement-Verfahrens direkt aufgenommen zu werden. Diese Asylbewerber·innen sind entweder von der IOM aus Libyen ausgeflogen worden (nachdem sie in Libyen oder auf Booten im Mittelmeer festgenommen wurden) oder sie waren auf ihrem Weg Richtung Norden (via Niger), bevor sie von den Behörden dazu gedrängt wurden, in Niamey oder in einem 15 Kilometer von Agadez entfernten UNHCR-Flüchtlingslager einen UNHCR-Asylantrag zu stellen. Hinzu kommen schliesslich nigrische Binnenmigrant·inn·en, die z.B. aus Zinder oder Maradi im Südosten des Landes stammen und traditionell subalterne Arbeiten verrichten und häufig unter noch prekäreren Bedingungen leben als die ansässige Bevölkerung von Agadez.

Zynismus der Europäischen Migrationspolitik

Ihr seht: Nicht nur die Sicherheits-, sondern auch die Migrationsfrage ist differenziert. Ausserhalb von Agadez leben die Transitmigrant·inn·en, die sich verstecken müssen, und die Asylbewerber·innen, die in einem Flüchtlingslager einen Asylantrag gestellt haben. Demgegenüber halten sich innerhalb der Stadt die aus Algerien und Libyen abgeschobenen Migrant·inn·en auf (vor allem aus West- und Zentralafrika), die von der IOM versorgt werden und ungleich weniger Geld in der Stadt lassen als früher die «normalen» Transitmigrant·in-n·en. Im IOM-Center in Agadez landen auch jene Geflüchteten, die innerhalb des Nigers von Sicherheitskräften aufgegriffen oder in der Wüste gerettet wurden.

Bei dieser Betrachtung wird einem der Zynismus der Europäischen Migrationspolitik umso klarer. Das reiche Europa streitet regelmässig darüber, wie einige dutzend, hundert oder tausend Migrant·inn·en oder Geflüchtete europaweit aufgenommen werden können und baut gleichzeitig in Agadez – d.h. in einer Stadt, die in einem der ökonomisch ärmsten Länder der Welt liegt – einen Hotspot für Migrant·inn·en und Geflüchtete auf mit IOM-Rückschiebungen und UNHCR-Asylanträgen. Im selben Zug werden jene Migrant·inn·en aus der Stadt gedrängt, die der Bevölkerung bis vor zwei Jahren ein gewisses Auskommen beschert haben. Kurzum: Agadez ist einer jener Orte, wo Europa seine Werte verrät und sich dabei auch als hochgradig heuchlerisch präsentiert. Interessant ist, dass es hier kaum Dinge gibt, die materiellen Wohlstand signalisieren, d.h. die ökonomische Marginalisiertheit der Region scheint mit Händen greifbar – und das, obwohl Agadez Hauptstadt der gleichnamigen Region Agadez ist, die, wie gesagt, seit Jahrzehnten die Elektrifizierung Frankreichs gewährleistet, allerdings zu spotbilligen Uranpreisen.

Interessant ist auch, dass die ökonomische Marginalisiertheit ganz offensichtlich mehrere Abstufungen kennt: In vielen der eben erwähnten Umfassungsmauern stehen lediglich Hütten aus Planen – einfach, weil die Menschen nicht über die finanziellen Mittel verfügen, richtige Häuser zu errichten (teils handelt es sich um Mieter·innen, die in den von Mauern umfassten Grundstücken ihre Verschläge bauen, teils um die Besitzer dieser Grundstücke herum, die aber kein Geld für den Bau von Häusern auf ihren Grundstücken haben). Zudem sind wir während unserer Tour auch am IOM-Zentrum vorbeigekommen, wo die Rückgeschobenen bzw. in der Wüste aufgegriffenen Migrant·in-n·en unterkommen. Das Zentrum ist ganz offensichtlich überfüllt, entsprechend hielten sich in den Strassen um das Zentrum Hunderte junger Migrant·inn·en auf, auch vor zahlreichen kleinen Ständen und Geschäften, die sich rund um das Zentrum angesiedelt haben. Auch dies hat anschaulich gezeigt, dass die Hotspot-Logik in Agadez zu greifen begonnen hat – also jener Mechanismus, der vorzieht, dass sich Migrant·inn·en und Geflüchtete an speziellen Orten ausserhalb oder an den Rändern der EU zu «stauen» beginnen – ob auf der griechischen Insel Lesbos, in libyschen Geheimlagern oder eben Agadez.

Entstehung des Alarmphones Sahara

Das Alarmphone Sahara (APS) wurde im Januar 2017 auf Initiative malischer Aktivist·inn·en von Afrique-Europe-Interact gegründet. Das Projekt versteht sich als Erweiterung des Watch The Med Alarmphones, einem seit Oktober 2014 rund um die Uhr besetzten Notrufs für Migrant·inn·en bzw. Geflüchtete in Seenot, an dem Aktivist·inn·en von Afrique-Europe-Interact ebenfalls beteiligt sind (https://alarmphone.org/de/). Konkret geht es dem APS um drei Dinge: erstens zu dokumentieren, wie, auf Druck der EU, Migrant·in-n·en und Geflüchtete seit September 2016 auch in der Wüste buchstäblich gejagt werden, was dazu führt, dass immer mehr Schlepper auf unbekannte Nebenrouten ausweichen, was wiederum die Zahl der Toten in der Wüste enorm nach oben treibt. Zweitens: Vermitteln von praktischen Informationen an Migrant·inn·en, um ihre Reise durch die Wüste sicherer zu machen. Drittens: Rettung von Migrant·inn·en bzw. Geflüchteten, die in der Wüste in Not geraten sind – sei es, weil ihr Auto eine Panne oder einen Unfall hatte, sei es, weil sie von Schleppern ausgesetzt wurden, was oft vorkommt, wenn Polizei auftaucht und die Schlepper sich aus dem Staub machen.

Gewiss, alle drei Ziele klingen plausibel, sind aber schwierig umzusetzen: In der Wüste gibt es keine Wüstenwachen (analog zu Küstenwachen), zudem sind jenseits der Hauptrouten kaum Autos unterwegs, die helfen könnten (anders als auf dem Meer, wo es ganz verschiedene Schiffe gibt, die zumindest theoretisch retten können). Des Weiteren sind insbesondere jene Teile der Sahara, durch die Migrant·inn·en fahren, umkämpfte, zum Teil auch gesperrte Gebiete (u.a. der Norden Malis, der Süden Algeriens, der Norden des Tschad und grosse Teile Nigers). Hinzu kommt, dass die Wüste ungleich gefährlicher als das Meer ist, halbwegs sicher können sich dort nur Menschen bewegen, die in der Wüste leben (die sich also Sandkorn für Sandkorn orientieren können, wie es unser Freund Moussa passend ausgedrückt hat). Schliesslich gibt es in dieser Weltregion keine zivilgesellschaftlichen bzw. bewegungspolitischen Netzwerke, auf die das Alarmphone Sahara aufbauen konnte. Vielmehr sind wir im Rahmen des APS gezwungen, solche Strukturen überhaupt erst zu schaffen, wobei derzeit Aktivist·in-n·en insbesondere in Niger, Mali, Togo, Marokko, Deutschland und Österreich beteiligt sind. Mit Gruppen und Einzelpersonen aus Libyen, Algerien und Burkina Faso bestehen vorläufig nur Kontakte.

Zurück zur Geschichte unseres Netzwerks: Begonnen hat es im Februar 2017 mit einem Gründungstreffen in Niamey, seitdem gab es drei weitere Treffen; eines in Ouagadougou und zwei in Agadez. Sämtliche dieser Treffen waren instruktiv, und doch hat sich der Networking-Prozess als vergleichsweise kompliziert erwiesen, unter anderem, weil sich viele der beteiligten Organisationen und Netzwerke bislang kaum kannten. Hinzu kommt, dass Organisierungsprozesse in Westafrika ohnehin extrem kompliziert sind (ganz zu schweigen von der Wüste) – nicht nur wegen der schwierigen Rahmenbedingungen, sondern auch deshalb, weil die meisten der beteiligten Aktivist·in-n·en auch persönlich mit prekären Lebensbedingungen zu kämpfen haben. Vor diesem Hintergrund ging es beim diesmaligen Treffen schwerpunktmässig darum, die bislang aufgebauten Strukturen zu konsolidieren und überall dort nachzujustieren, wo Dinge noch unklar bzw. offen waren.

Die Aktivitäten

Beteiligt waren an diesem Treffen insgesamt 16 Personen bzw. Delegierte: zwei aus Mali, eine Person aus dem Togo, eine aus Marokko, fünf aus Deutschland und Österreich sowie neun Personen aus Niger – darunter vier «Streckenbeobachter·innen», die an verschiedenen Orten des nigrischen Teils der Sahara leben. Entsprechend haben wir am ersten Tag an der internen Struktur des Alarmphone Sahara gearbeitet (Aufgabenverteilung, Kommunikations- und Entscheidungsprozesse etc.), während an den beiden anderen Tagen unsere konkreten Aktivitäten im Mittelpunkt standen – nicht nur in Niger, sondern auch in den anderen Ländern.

Was die ins Auge gefassten Aktivitäten betrifft, sei vor allem dreierlei hervorgehoben: Wie schon vor einigen Tagen geschrieben, finden seit geraumer Zeit regelmässig Massenabschiebungen insbesondere an die mitten in der Wüste gelegene algerisch-nigrische Grenze statt (15 Kilometer von der nigrischen Stadt Assamaka entfernt). Das APS will daher zukünftig stärker an diesem Ort aktiv sein, auch um die Behörden unter Druck zu setzen, die hiermit verbundenen Misshandlungen abzustellen – ganz abgesehen davon, dass solche Abschiebungen aus Sicht des APS eine Menschenrechtsverletzung darstellen und sowieso schnellstmöglich aufhören müssen. Zweitens ging es um die Frage, ob und wie wir in der Region Dirkou (das ist ca. 1000 Kilometer nord-östlich von Agadez) Rettungseinsätze organisieren können. Drittens haben wir über unterschiedliche Möglichkeiten geredet, Migrant·inn·en zu sensibilisieren, d.h. besser auf die Reise durch die Wüste vorzubereiten. Denn Fakt ist, dass diejenigen, welche sich für die Migration entschieden haben, nicht von ihrem Ziel abgebracht werden können und sollen. Nicht nur, weil Bewegungsfreiheit ein – insbesondere von afrikanischer Seite betontes – Menschenrecht ist, sondern auch, weil die von Akteur·inn·en wie der EU oder der International Organisation of Migration (IOM) unternommenen Anstrengungen, die Migrant·inn·en zur Rückkehr zu bewegen, erfahrungsgemäss im Wind verhallen. Insofern konzentriert sich das Alarmphone Sahara darauf, die Migrant·inn·en mit praktischen Informationen auszustatten – sei es über unser Büro in Agadez (was auch als Anlaufpunkt dient), sei es über einen von malischen Aktivist·inn·en erstellten Flyer aus Text und Bildern, der demnächst sowohl in Agadez, als auch auf den grossen Busbahnhöfen in Bamako, Gao oder Ouagadougou verteilt werden soll.

Olaf Bernau, Afrique-Europe-Interact

Mehr Informationen zum Alarmphone Sahara finden sich auf der Webseite von Afrique- Europe-Interact. Das Projekt ist dringend auf Spenden angewiesen:Afrique-Europe-Interact