Anfang Januar fanden einige Tage lang massive soziale Proteste in Algerien, vor allem im Nordosten des Landes, statt. Die Regierung zeigt Anzeichen von Nervosität. Ein Gewerkschafter wurde zu einer sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt.Es gibt Jahrestage, an die sich kaum jemand erinnern möchte. Am 11. Januar war es genau 25 Jahre her, dass die algerische Armee den Staatspräsidenten Chadli Bendjedid absetzte. Dadurch wurde zugleich die laufende Parlamentswahl abgebrochen, deren erster Durchgang am 26. Dezember 1991 stattgefunden hatte und deren zweite Runde für Ende Januar 1992 vorgesehen war. Die Stichwahlrunde fiel aus. Auf diese Weise wurde ein, durch Teile der Bevölkerung sehnlich erwarteter und durch andere Gesellschaftsteile als Katastrophe erlebter, Wahlsieg der «Islamischen Rettungsfront» (FIS) verhindert und zugleich die Tür zu einem blutigen Bürgerkrieg aufgestossen, der bis 1999 dauerte.
Doch kommen wir zur aktuellen Situation. Manche europäischen Beobachterinnen und Beobachter nutzen zurzeit den Vergleich mit Syrien, um sich kalte Schauer über den Rücken zu jagen oder um vorgefasste politisch-militärische Vorschläge vorzutragen. Das algerische Regime nutzt den Vergleich, um Unheil von sich und seinen Pfründen abzuwehren. In einer Reihe von Veröffentlichungen und Verlautbarungen wird jedenfalls in jüngster Zeit – aus unterschiedlichen Motiven – das Szenario beschworen, wonach Algerien «das nächste Syrien» am Südufer des Mittelmeers werden könnte, falls das amtierende Regime ins Schwanken käme.
In Wirklichkeit unterscheidet sich die Situation beider Länder jedoch erheblich. Denn Algerien hat einen blutigen Bürgerkrieg ähnlich dem in Syrien bereits seit längerem hinter sich: In den Jahren von 1992/93 bis 1998/99 bekämpften sich die Staatsmacht und bewaffnete Islamisten, rund 150‘000 Menschen – Kombattanten und vor allem zwischen beiden Lagern stehende Zivilisten – wurden getötet. Zuvor hatten Unruhen im Oktober 1988, als das Einparteiensystem des FLN (Nationale Befreiungsfront) implodierte, eine Art «Arabischen Frühling» über zwanzig Jahre vor dem in Tunesien und Ägypten ausgelöst. Zwei Jahre lang hielt damals eine reale demokratische Öffnung an, Militärs und radikale Islamisten führten sie jedoch in eine Sackgasse. Die Sympathien innerhalb der Bevölkerung für Jihadisten und Salafisten, die auch in Algerien nach wie vor aktiv sind, fallen deswegen heute insgesamt eher gering aus.
Die Freitagspredigten in vielen Moscheen in ganz Algerien nahmen am 6. Januar unterdessen einen politischen Klang an. Die Imame hätten sich gefälligst für «Stabilität und Sicherheit» auszusprechen und gegen eine «fitna» Stellung zu beziehen. Unter diesen religiösen Begriff wird traditionell ein Zwist, ein «Bruderstreit», unter gläubigen Muslimen gefasst. Er ist negativ besetzt und bezeichnet ein Phänomen, zu dessen Vermeidung die Gottesfürchtigen aufgefordert sind.
Ein Rundschreiben des «Ministeriums für religiöse Angelegenheiten und Stiftungen» war an alle vom Staat anerkannten Vorbeter in den Moscheen gegangen. Es trug den roten Stempelaufdruck «Musta’agil» – also «dringlich» – und gab diese offizielle Sprachregelung aus. Ein Faksimile wurde in Zeitungen veröffentlicht. Dass die Regierung solcherart in die Predigten eingriff, hatte einen Grund.
Angst in Regierungskreisen
Premierminister Abdelmalik Sellal hatte am vorigen Donnerstag sogar extra eine Ansprache gehalten, um jeden Eindruck weit von sich zu weisen, man fürchte soziale Unruhen, ähnlich vielleicht denen im Winter 2010/11 in Tunesien, die in mehreren Ländern der Region politische Umbrüche auslösten. «Wir kennen keinen Arabischen Frühling, und er kennt uns nicht! In einigen Tagen feiern wir Yennayer», erklärte der seit 2010 amtierende Regierungschef dazu. Als «Yennayer» – sprachgeschichtlich mit Januar verwandt – bezeichnet man das Neujahrsfest der Berberbevölkerungen in Nordafrika.
Durch seine Bezugnahme auf die berberisch geprägte Festbezeichnung versuchte Sellal, diesen Bevölkerungsanteil und vor allem den gesellschaftlich sichtbarsten Teil der in viele Gruppen aufgespalteten Berber, die in ihrer Mehrheit östlich der Hauptstadt Algier lebenden Kabylen, beruhigend anzusprechen. Denn das Bergland der Kabylei, das bereits 1980 und 2001 massive Unruhen erlebte, bei denen es damals eher um kulturelle Freiheiten ging, war auch in der ersten Januarwoche dieses Jahres in Bewegung geraten. Dieses Mal ging es jedoch um weit mehr als soziale Forderungen.
Anlass war die Unterzeichnung des Haushaltsgesetzes für 2017 durch Staatspräsident Abdel’aziz Boutefliqa am 28. Dezember. Es sieht sparpolitische Einschnitte vor, aufgrund derer die Preise für staatlich subventionierte Grundbedarfsgüter wie den Nahverkehr steigen, sowie eine Anhebung der Mehrwertsteuer von 2 Prozent für alle. Wie anderswo auch handelt es sich bei dieser Konsumbesteuerung um die unsozialste Steuer, da sie grundsätzlich einkommensunabhängig ist.
Operation «Tote Stadt»
In der grössten Stadt der Kabylei, Bejaïa am Mittelmeer, traten am ersten Montag im Januar daraufhin die Inhaber_innen von Verkaufsläden in einen Streik unter dem Namen «Operation Tote Stadt». Wenige Meter vom Sitz der Wilaya – der Bezirksregierung – entfernt brachte eine Anti-Aufruhr-Einheit der Polizei einen Demonstrationszug zum Stehen. Daraufhin kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, infolge derer mindestens zehn Menschen, darunter auch einzelne Polizisten, in die Notaufnahme von Krankenhäusern eingeliefert wurden. Ein Bus des staatlichen Transportunternehmens ETUB wurde angezündet. Ab dem 4. Januar kam es daraufhin zu mehreren Dutzend Festnahmen.
Die Revolte und die «Tote Städte»-Bewegung hatten zugleich auf andere Städte der Kabylei wie Tazmalt und Akbou übergegriffen und auch Bouira, eine zwischen der berbersprachigen Region und Algier liegende Stadt mit sprachlich gemischter Bevölkerung, erreicht. An mehreren Orten wie Raffour wurden auch Überlandstrassen blockiert.
Mangels einer Strukturierung des Protests verpuffte er. Die Behörden nahmen in Algier 39 Menschen fest, die sie beschuldigen, auf die eine oder andere Weise Unruhe gestiftet zu haben.
Unterdessen herrscht eine angespannte Ruhe. Es wurde jedoch bekannt, dass der Vorsitzende einer algerischen unabhängigen Gewerkschaft zu einer Haftstrafe von sechsmonatiger Dauer verurteilt wurde. Mellal Raouf, dem Vorsitzenden der «Unabhängigen nationalen Gewerkschaft der Werktätigen/Arbeitenden der Elektrizitäts- und Gasbetriebe» (SNATEG), wurde vorgeworfen, Korruption beim staatlichen Energieunternehmen SONELGAZ aufgedeckt und kritisiert zu haben. Über acht Millionen Haushalten waren auf illegale Weise überhöhte Energiepreise abgerechnet worden. Für die Denunzierung dieses Missstandes soll er nun mit sechs Monaten Gefängnis bezahlen.
Algerien hat im Zeitraum seit 2014 rund 70 Prozent seiner jährlichen Einnahmen aus dem Rohölverkauf aufgrund eines gesunkenen Barrel-Preises verloren. Sechzig Prozent der Staatseinnahmen insgesamt, doch 98 Prozent der Devisenerlöse aus dem Export hängen vom Erdöl- und Erdgasverkauf ab. Versuche in der Vergangenheit, die algerische Ökonomie zu diversifizieren und unabhängiger von diesen beiden Rohstoffen zu werden, gehen vor allem auf die staatssozialistische Ära bis Ende der 1970er Jahre zurück und scheiterten bislang. Algeriens amtierender Präsident Boutefliqa (Bouteflika) ist zudem seit einem Schlaganfall 2013 de facto amtsunfähig und weitgehend gelähmt. Der harte Kern des Regimes stellt sich seitdem auf ein vorläufiges Überwintern ein, um über die 2011 von Tunesien ausgelöste Welle von Veränderungen hinwegzukommen. Wie lange die Bevölkerung dabei mitspielt, ist jedoch fraglich.
Dieser Artikel erschien in einer längeren Fassung am 12. Januar in der Berliner Wochenzeitung «Jungle World».