Anfang November 2021: Mehrere Tausend Flüchtlinge, viele aus dem Irak und Syrien, sitzen im Niemandsland zwischen Belarus und Polen fest – im Wald, in der Kälte, ohne jegliche Versorgung. Die polnische Regierung verbietet Medien und Hilfsorganisationen den Zutritt zu dieser Zone und mobilisiert tausende Polizisten und Soldaten, um die Grenze abzuschotten.
Vom Bau einer Mauer ist die Rede. Inzwischen sind mehrere Todesopfer unter den Geflüchteten zu beklagen. Die Migrant⸱innen sind zum Spielball einer Machtprobe des weissrussischen Machthabers Lukaschenko mit der EU geworden. Obwohl die Anzahl der Flüchtenden hier nicht mit derjenigen von 2015 auf der Balkanroute zu vergleichen ist, wird das Schreckgespenst einer riesigen Invasion an die Wand gemalt. Die EU-Kommission unterstützt plötzlich vorbehaltlos die Regierung Polens, mit der sie sonst wegen des Abbaus der Rechtstaatlichkeit im Streit liegt.
Ein Appell der Literatur-Nobelpreisträgerinnen Svetlana Alexievich (Belarus, im Exil), Elfriede Jelinek (Österreich) Herta Müller (Deutschland) und Olga Tokarczuk (Polen) an den Europarat und das Europäische Parlament fordert, dass sich diese Instanzen für die Respektierung der Genfer Konvention und den freien Zugang für Medien und Hilfsorganisationen im Grenzgebiet einsetzen sollen.
Trotz der erpresserischen Absicht des weissrussischen Herrschers müsste Europa bestrebt sein, eine humanitäre Lösung für die verzweifelten Menschen zu finden, die illegalen Pushbacks auf polnischer Seite zu verhindern und dafür zu sorgen, dass die Asylgesuche der Geflüchteten entgegengenommen werden. So könnte Europa der Welt zeigen, dass die Menschenrechte mehr wert sind als die Machtspiele eines Autokraten. Leider ist das Gegenteil der Fall; so sind es fast ausschliesslich Initiativen aus der polnischen Zivilgesellschaft wie die „Grupa Granica“, ein Zusammenschluss mehrerer Organisationen und Komitees, welche den Menschen im Niemandsland und an der Grenze zu Hilfe eilen. Sie setzen sich selbstlos und mutig ein und werden in Polen von vielen Menschen guten Willens unterstützt. Unser Dank und unsere Solidarität gehen an sie.
Michael Rössler