In diesem Auszug aus ihrem Buch «The Will to Change: Men, Masculinity, and Love», den wir in drei Teilen bringen, schreibt bell hooks1 über die Prägung des patriarchalischen Systems auf uns alle und die Schwierigkeit, dagegen zu rebellieren.
Die scharfsichtige Definition des Patriarchats durch den Psychotherapeuten John Bradshaw2 in «Creating Love» ist hilfreich: «Das Wörterbuch definiert das Patriarchat als eine ‚soziale Organisation, die durch die Vorherrschaft des Vaters im Clan oder in der Familie sowohl in häuslichen als auch in religiösen Angelegenheiten gekennzeichnet ist‘.» Das Patriarchat ist durch männliche Herrschaft und Macht gekennzeichnet. Bradshaw betont weiter, dass «patriarchalische Grundsätze weltweit immer noch die meisten religiösen, schulischen und familiären Systeme bestimmen». Bradshaw beschreibt die schädlichsten dieser Grundsätze: «(…) blinder Gehorsam – die Grundlage, auf der das Patriarchat aufbaut; die Unterdrückung aller Emotionen ausser Angst; die Zerstörung der individuellen Willenskraft und die Unterdrückung jeglicher Ansichten, die von der Denkweise der Autoritätsperson abweichen». Patriarchalisches Denken prägt die Werte unserer Kultur. Wir werden in dieses System hineinsozialisiert, sowohl Frauen als auch Männer. Die meisten von uns haben in unserer Herkunftsfamilie patriarchalische Verhaltensweisen gelernt. Diese wurden uns in der Regel von unseren Müttern beigebracht und wurden in Schulen und religiösen Institutionen weiter gefestigt. Die heutige Präsenz von Haushalten, die von Frauen geführt werden, hat viele Menschen zu der Annahme veranlasst, dass Kinder in diesen Haushalten keine patriarchalischen Werte erlernen, weil kein Mann anwesend ist: Sie gehen davon aus, dass Männer die alleinigen Vermittler des patriarchalischen Denkens sind. Allerdings befürworten und fördern viele von Frauen geführte Haushalte das patriarchalische Denken mit weitaus grösserer Leidenschaft als Haushalte, die von beiden Eltern geführt werden. Da ihnen eine erlebte Realität fehlt, aufgrund derer sie falsche Vorstellungen von Geschlechterrollen in Frage stellen könnten, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass Frauen in solchen Haushalten die patriarchalische Männerrolle und patriarchalische Männer idealisieren, als Frauen, die im Alltag mit patriarchalischen Männern zusammenleben. Wir müssen die Rolle, die Frauen bei der Aufrechterhaltung der patriarchalischen Kultur spielen, hervorheben, damit wir das Patriarchat als ein System erkennen, das von Frauen und Männern gleichermassen getragen wird, auch wenn Männer vom diesem System mehr Gegenleistungen erhalten. Das Zerlegen und Umgestalten der patriarchalischen Kultur ist eine Arbeit, die Männer und Frauen gemeinsam leisten müssen. Es liegt auf der Hand, dass wir ein System nicht abschaffen können, solange wir seine Auswirkungen auf unser Leben kollektiv leugnen. Das Patriarchat erfordert männliche Dominanz mit allen Mitteln, daher befürwortet, fördert und billigt es sexistische Gewalt. Meistens hören wir von sexistischer Gewalt in öffentlichen Debatten über Vergewaltigung und Missbrauch durch den Lebenspartner. Aber die häufigsten Formen patriarchalischer Gewalt sind diejenigen, die zu Hause zwischen patriarchalischen Eltern und Kindern stattfinden. Der Zweck solcher Gewalt besteht in der Regel darin, ein Dominanzmodell zu untermauern, in dem die Autoritätsperson als Herrscher über die Machtlosen gilt und berechtigt ist, diese Herrschaft durch Praktiken der Unterwerfung und Unterordnung aufrechtzuerhalten. Eine Methode, mithilfe derer die patriarchalische Kultur aufrechterhalten wird, ist, Männer und Frauen davon abzuhalten, die Wahrheit darüber zu erzählen, was ihnen in der Familie passiert. Eine grosse Mehrheit von Individuen setzt in der gesamten Kultur die unausgesprochene Regel durch, dass wir die Geheimnisse des Patriarchats bewahren müssen. Somit wird die Herrschaft des Vaters abgesichert. Diese Herrschaft des Schweigens wird aufrechterhalten, indem diese Kultur allein schon die für alle einfache Zugänglichkeit des Wortes «Patriarchat» verwehrt. Die meisten Kinder lernen nicht, wie sie dieses System institutionalisierter Geschlechterrollen nennen sollen, so selten benennen wir es in unserem alltäglichen Sprachgebrauch. Dieses Schweigen begünstigt die Verleugnung. Und wie können wir uns zusammenschliessen, um ein System zu hinterfragen und zu verändern, das nicht benannt werden kann?
Mantel der Opferrolle
Es ist kein Zufall, dass Feminist·inn·en begannen, das Wort «Patriarchat» zu verwenden, um die gängigeren Begriffe «männlicher Chauvinismus» und «Sexismus» zu ersetzen. Diese mutigen Stimmen wollten, dass Männer und Frauen sich bewusst werden, wie das Patriarchat uns alle beeinflusst. In der Blütezeit des zeitgenössischen Feminismus wurde das Wort in der Alltagskultur kaum verwendet. Anti-Männlichkeits-Aktivist·inn·en waren nicht mehr als ihre sexistischen männlichen Gegenüber darum bemüht, das System des Patriarchats und seine Funktionsweise hervorzuheben. Denn dies hätte automatisch die Annahme enthüllt, dass Männer allmächtig und Frauen machtlos seien, dass alle Männer Unterdrücker seien und Frauen immer die einzigen Opfer. Indem sie die Schuld an der Aufrechterhaltung des Sexismus ausschliesslich den Männern zuschrieben, konnten diese Frauen ihre eigene Loyalität zum Patriarchat und ihren eigenen Machthunger beibehalten. Sie verbargen ihre Sehnsucht, zu herrschen, indem sie sich den Mantel der Opferrolle überstreiften. Wie viele visionäre radikale Feminist·inn·en stellte ich die fehlgeleitete Vorstellung, dass Männer «der Feind» seien, in Frage. Diese wurde von Frauen vertreten, die einfach die Nase voll hatten von männlicher Ausbeutung und Unterdrückung. Bereits 1984 habe ich ein Kapitel mit dem Titel Männer: Genossen im Kampf in mein Buch Feminist Theory: From Margin to Center eingefügt, in dem die Befürworter·innen feministischer Politik aufgefordert werden, jegliche Rhetorik in Frage zu stellen, welche die alleinige Schuld an der Aufrechterhaltung des Patriarchats und der männlichen Herrschaft auf die Männer schiebt: «Die Ideologie des Separatismus ermutigt Frauen dazu, die negativen Auswirkungen des Sexismus auf die männliche Persönlichkeit zu ignorieren. Sie betont eine Polarisierung zwischen den Geschlechtern. Laut Joy Justice glauben Separatisten, dass es ‚zwei grundlegende Sichtweisen‘ in der Frage der Benennung der Opfer des Sexismus gibt:‘Es gibt die Sichtweise, dass Männer Frauen unterdrücken. Und es gibt die Sichtweise, dass Menschen Menschen sind, und dass wir alle durch starre Geschlechterrollen verletzt werden.‘» Beide Sichtweisen beschreiben unsere Situation sehr treffend. Männer unterdrücken Frauen. Menschen werden durch starre sexistische Rollenmuster verletzt, diese beiden Realitäten existieren nebeneinander. Die Unterdrückung von Frauen durch Männer kann nicht durch die Feststellung entschuldigt werden, dass es vorkommt, dass Männer durch starre sexistische Rollenvorstellungen verletzt werden. Feministische Aktivist·in-n·en sollten diese Verletzungen anerkennen und daran arbeiten, sie zu verwandeln – sie existieren. Dies beseitigt oder mindert nicht die Verantwortung der Männer an der Förderung und Aufrechterhaltung ihrer patriarchalischen Macht, Frauen auf eine Weise auszubeuten und zu unterdrücken, die weitaus schwerwiegender ist als der massive psychische Stress und die emotionalen Schmerzen, die durch die männliche Anpassung an starre sexistische Rollenmuster verursacht werden.» In diesem Text habe ich hervorgehoben, dass Vertreter·innen des Feminismus am Schmerz der vom Patriarchat verwundeten Männer mitwirken, wenn sie fälschlicherweise Männer als immer und allein mächtig darstellen, als immer und alleinig diejenigen, die Privilegien aus ihrem blinden Gehorsam dem Patriarchat gegenüber gewinnen. Ich habe betont, dass die patriarchalische Ideologie Männer einer Gehirnwäsche unterzieht, die sie glauben lässt, ihre Dominanz gegenüber Frauen sei von Vorteil, obwohl sie es nicht ist: «Häufig bekräftigen feministische Aktivist·inn·en diese Denkweise, obwohl wir diese Handlungen eigentlich beständig als Ausdruck perverser Machtverhältnisse, allgemeiner mangelnder Kontrolle über das eigene Handeln, emotionale Hilflosigkeit, extreme Irrationalität und in vielen Fällen völligen Wahnsinn bezeichnen sollten. Die passive männliche Verinnerlichung sexistischer Ideologien erlaubt es Männern, dieses gestörte Verhalten fälschlicherweise als positiv zu interpretieren. Solange Männer einer Gehirnwäsche unterzogen werden, die gewalttätige Herrschaft und Missbrauch von Frauen mit Privilegien gleichsetzt, werden sie keine Vorstellung von dem Schaden haben, der ihnen selbst oder anderen zugefügt wird, und keine Motivation finden, sich zu ändern.» Das Patriarchat verlangt von Männern, dass sie emotionale Krüppel werden und bleiben. Da es sich um ein System handelt, das Männern den vollständigen Zugang zu ihrer Willensfreiheit verweigert, ist es für jeden Mann, unabhängig von seiner Herkunft, schwierig, gegen das Patriarchat zu rebellieren, dem patriarchalischen Elternteil, sei es dem weiblichen oder männlichen, untreu zu sein. Der Mann, der seit mehr als zwölf Jahren meine Primärbeziehung darstellt, wurde durch die patriarchalische Dynamik in seiner Herkunftsfamilie traumatisiert. Als ich ihn traf, war er in seinen Zwanzigern. Er hatte seine prägenden Jahre zwar in der Gesellschaft eines gewalttätigen, alkoholkranken Vaters verbracht, aber mit zwölf Jahren änderten sich seine Umstände und er begann, allein mit seiner Mutter zu leben. In den ersten Jahren unserer Beziehung sprach er offen über seine Abneigung und Wut gegenüber seinem misshandelnden Vater. Er war nicht daran interessiert, ihm zu vergeben oder die Umstände zu verstehen, die das Leben seines Vaters in seiner Kindheit und in seinem Arbeitsleben beim Militär geprägt und beeinflusst hatten. In den ersten Jahren unserer Beziehung sah er männliche Dominanz über Frauen und Kinder äusserst kritisch. Obwohl er das Wort «Patriarchat» nicht benutzte, verstand er seine Bedeutung und bezog dagegen Stellung. Seine sanfte, ruhige Art führte oft dazu, dass die Leute ihn ignorierten und ihn als schwach und machtlos ansahen. Im Alter von dreissig Jahren begann er, eine eher machohafte Persönlichkeit anzunehmen; er nahm das Dominationsmodell an, das er einst kritisiert hatte. Als er den Mantel des Patriarchen überzog, erhielt er mehr Respekt und Aufmerksamkeit. Mehr Frauen fühlten sich von ihm angezogen. Er wurde stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Er stellte seine Kritik an männlicher Machthaberei ein. Und tatsächlich begann er, patriarchalische Rhetorik zu benutzen und sexistische Dinge zu sagen, die ihn in der Vergangenheit entsetzt hätten. Diese Veränderungen in seinem Denken und Handeln wurden durch seinen Wunsch, an einem patriarchalischen Arbeitsplatz akzeptiert und bestätigt zu werden, hervorgerufen, und durch seinen Wunsch, in seiner Karriere voranzukommen, rationalisiert. Seine Geschichte ist nicht ungewöhnlich. Jungen, die vom Patriarchat brutalisiert und schikaniert wurden, werden in den meisten Fällen selbst patriarchalisch, indem sie die misshandelnde patriarchalische Männlichkeit verkörpern, die sie erst eindeutig als schädlich erkannten. Nur wenige Männer, die als Jungen im Namen der patriarchalischen Männlichkeit brutal misshandelt wurden, widersetzen sich mutig der Gehirnwäsche und bleiben sich selbst treu. Die Meisten passen sich auf die eine oder andere Weise dem Patriarchat an. bell hooks
- bell hooks (Gloria Jean Watkins), geboren 1952 in Kentucky, Feministin, Aktivistin, Universitätsprofessorin und Autorin. Deutschsprachige Veröffentlichungen: Black Looks: Popkultur, Medien, Rassismus sowie: Sehnsucht und Widerstand, beide im Orlando-Verlag – fembooks
- John Elliot Bradshaw, geboren 1933 in Texas und gestorben 2016 ebenda, war ein US-amerikanischer Philosoph, katholischer Theologe, Psychologe und Autor. Er widmete sich stark der therapeutischen und persönlichkeitsentwickelnden Arbeit mit dem «inneren Kind» und und prägte den Begriff «dysfunktionale Familie». Veröffentlichungen: Familiengeheimnisse. Warum es sich lohnt ihnen auf die Spur zu kommen. Koesel, München 1997, Wenn Scham krank macht. Verstehen und überwinden von Schamgefühlen. Droemer Knaur MenSana, München 1993. (Techniken, um sich durch Affirmationen, Visualisierungen, Meditationen etc. von alten Schamgefühlen zu befreien), Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst. Droemer Knaur, München 1992.