Aserbaidschan sperrt seit über einem Monat die Lebensader Bergkarabachs. Abertausende sind ohne Lebensmittel, ohne Heizung und Medikamente. Ilham Alijew, der seit 2003 eines der ruchlosesten Regimes im postsowjetischen Raum führt, folgt dem von Wladimir Putin in der Ukraine vordemonstrierten Beispiel.
Die armenischen Nachrichtensendungen fangen seit Wochen täglich mit den letzten Entwicklungen aus dem «belagerten Bergkarabach» an. «Aufgrund der Blockade ist die Stromversorgung beeinträchtigt, und es kommt regelmässig zu Stromausfällen», hiess es am 17. Januar in der Internet-Plattform «Civilnet». «Die Gasversorgung ist zudem erneut unterbrochen worden». Und: «Die Gefahr der Unterernährung wird immer greifbarer».
Das Leben sei schwieriger geworden, bestätigt im Telefongespräch auch die 68-jährige pensionierte Amalia Arakelyan aus Bergkarabachs Hauptstadt Stepanakert. «Die Menschen rennen durch die Stadt und suchen nach Nahrungsmitteln, suchen nach Medikamenten, nach Babymilch und Treibstoff, aber die Läden, die Apotheken, die Tankstellen sind leer. Unser Leben spielt sich wie in einem Käfig ab.»
Der politische Beobachter Tigran Grigorjan ergänzt, dass die Behörden sich gezwungen sehen, immer wieder von Neuem Rationierungsregelungen für lebenswichtige Güter einzuführen. «Ein Kilo Kartoffeln ist nirgends mehr zu finden und meine Mutter, die Diabetes hat, muss ohne die lebensnotwendigen Medikamente durchkommen», schrieb er auf Twitter. Mit jedem Tag, der vergeht, wird die Lage der Zivilbevölkerung dabei etwas schlimmer, aussichtsloser.
Blockade der Ökokrieger·innen
Es war am frühen Morgen des 12. Dezembers, als eine Gruppe angeblich zorniger aserbaidschanischer Demonstrant·inn·en unvermittelt an den unweit der historischen Stadt Schuschi (auf Armenisch/Schuscha auf Aserbaidschanisch) von russischen Friedenstruppen aufgestellten Barrikaden vorbeidrang und auf der Hauptstrasse des sogenannten Latschin-Korridors ihre Zelte aufstellte. Jenseits der Barrikaden beginnt das nach dem armenisch-aserbaidschanischen Krieg 2020 noch als Rumpfstaat übrig gebliebene, von Armenier·inne·n besiedelte Gebiet Bergkarabach, auf armenisch «Artsakh». Als bewusste «Umweltschützer·innen» protestierten die Demonstrant·inn·en gegen die «illegale Ausbeutung von Goldminen, die Bergkarabachs Umwelt verschmutzen», erklärte eine in einen teuren Pelzmantel gehüllte Lady, die sich als ihre Sprecherin ausgab. Die selbsternannten «Umweltschützer·innen» liessen sich seither trotz frostiger Temperaturen mitten auf dieser Strasse nieder.
Der private Verkehr aus und nach Bergkarabach brach zusammen. Seit dem 12. Dezember lassen die Ökokrieger·innen keine Medikamente und keine frischen Nahrungsmittel, kein Treibstoff und kein Baumaterial mehr durch. Da die Route über den Latschin-Korridor aber der einzige Weg ist, der Bergkarabach mit Armenien und damit mit der Aussenwelt verbindet, zeichnet sich für seine 120.000 Bürgerinnen und Bürger, darunter 30.000 Kinder, eine humanitäre Katastrophe ab.
Familien wurden plötzlich voneinander getrennt. Nach armenischen Angaben sind 1.100 Bürger·innen, darunter Dutzende Minderjährige, gestrandet und haben nicht die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren. Von der Blockade arg getroffen sind die Kinder: Ungeheizte Kindergärten und Schulen mussten schliessen, nach Angaben des staatlichen «Artsakh Info Centers» haben beinah 7.000 Kinder keinen Zugang mehr zur Bildung. Prekär ist auch die Lage im Gesundheitssystem, da die Einfuhr von Medikamenten nur in geringen Mengen und nur durch Vermittlung des IKRK möglich ist.
Von einer «Blockade» will der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew allerdings nichts wissen. «Völlig falsche Informationen», sagte er in einem viel beachteten Interview an lokalen Fernsehsendern am 10. Januar. Ilham Alijew führt seit 2003 eines der ruchlosesten Regimes im postsowjetischen Raum, der Andersdenkende nicht duldet. Nun spricht ausgerechnet Alijew aber begeistert vom «berechtigten Protest der aserbaidschanischen Zivilgesellschaft». Die jungen Menschen, die «Tag und Nacht bei Frost und Schnee protestieren, sind eine Quelle unseres Stolzes». Und Aserbaidschans starker Mann ermutigt die Armenier·innen Bergkarabachs, die nicht unter seiner Führung leben wollten, Bergkarabach von selbst zu verlassen: «Niemand wird sie daran hindern». Menschen aushungern und frieren lassen: Ilham Alijew folgt dem von Wladimir Putin in der Ukraine vordemonstrierten Beispiel. Aserbaidschan werde immer einen Vorwand finden, um die Strasse zu schliessen und die Gaslieferungen zu Bergkarabach zu unterbrechen, schrieb vor kurzem Benyamin Poghosyan, Vorsitzender des angesehenen «Center for Political and Economic Strategic Studies» in Jerewan. Alijews strategisches Ziel sei es, die volle Kontrolle über Bergkarabach zu erzielen, selbst wenn dies mit einer Vertreibung der armenisch-stämmigen Bevölkerung und der Vernichtung ihrer tausendjährigen Kultur dort einhergehen würde. Allmählich bezeichnen auch kühle Analytiker·innen in Armenien die Drohung einer ethnischen Säuberung in Bergkarabach als «reell».
Getäuschte Hoffnungen
Völker, die einen Genozid erlebt haben, werden über Generationen hinweg von den erlebten Albträumen verfolgt. «Die Trauer über den Genozid und die ständige Angst, nicht in Sicherheit zu leben, bekommen wir mit der Muttermilch mit», sagte mir eine Übersetzerin. Beim von den Jungtürken geplanten und 1915 verordneten Völkermord kamen weit über eine Million Armenier·innen des Osmanischen Reichs ums Leben, ihre Kultur wurde in Kleinasien ausradiert. Das Trauma des Genozids trieb Armenien in den Schoss Russlands. Nur Russland würde ihre Nation vor einer totalen physischen Vernichtung retten können, hiess es fortan. Und so orientierte sich die kleinste Republik des Südkaukasus ausschliesslich an Moskau und wurde aus Überzeugung zum treuesten Alliierten Russlands.
Im Krieg um Bergkarabach 2020 sah der Kreml aber tatenlos zu, wie Aserbaidschan und die Türkei seinem «strategischen Partner» im Südkaukasus eine vernichtende Niederlage bescherten. Die russischen Friedenstruppen, die nach dem Krieg 2020 in Bergkarabach stationiert sind, haben zudem wenig gegen den Ansturm der aserbaidschanischen Ökokrieger im Latschin-Korridor unternommen. Dabei sieht ihre Mission in erster Linie vor, den freien Verkehr durch diesen Korridor zu «kontrollieren» und zu «schützen».
Der russische Aussenminister Sergej Lawrow hat Mitte Januar von Baku «eine rasche und vollständige Freigabe des Verkehrs durch den Latschin-Korridor» gefordert. Ihm ist allerdings bewusst, dass ein härteres Durchgreifen der russischen Friedenstruppen gegen die Ökoaktivist·inn·en Aserbeidschans Baku ein Argument liefern würde, um den Abzug der russischen Friedenstruppen aus Bergkarabach zu fordern. Ein härteres Durchgreifen könnte zudem Spannungen in den Beziehungen zwischen Russland und der Türkei auslösen. Allmählich schwindet in Jerewan die Hoffnung, wonach Russland in der gegenwärtigen Situation entscheidende Massnahmen zur Beendigung der Blockade ergreifen kann. Armenien fühlt sich von Russland im Stich gelassen, die anti-russische Stimmung im Land hat ein bislang beispielloses Ausmass erreicht.
Am 20. Dezember hielt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf Antrag Armeniens eine Dringlichkeitssitzung zur Lage im Latschin-Korridor. Eine Reihe von Diplomat·inn·en äusserten sich besorgt über die «potentiell schwerwiegenden humanitären Folgen» und forderten die sofortige Freigabe des Korridors. Mitte Januar haben die USA und Frankreich auf der Sondersitzung des Ständigen Rates der OSZE Aserbaidschan und Russland aufgefordert, den ungehinderten Transit unverzüglich wiederherzustellen und die Rechte der örtlichen Bevölkerung zu achten. «Die westlichen Regierungen wissen sehr wohl, dass allein Aufrufe und Erklärungen auf Twitter Aserbaidschan nicht dazu zwingen werden, die Blockade zu beenden», kommentierte Edmond Azadian in der internet-Plattform «Armenian-Mirror». Die Hoffnung, wonach der Westen seinen deklarierten Prinzipien treu, Krieg als Mittel für politische Ziele und den nackten Terror gegen die Zivilbevölkerung nirgends dulden würde und nicht nur in der Ukraine, auch diese Hoffnung schwindet. «Keine westliche Regierung wird Sanktionen gegen Aserbaidschan auch nur erwägen, um den alltäglich ausgeübten Terror in Bergkarabach zu beenden» – so Edmond Azadian.
Drehscheibe der Energiesicherheit
Ilham Alijew weiss tatsächlich, dass er gegenwärtig am längeren Hebel sitzt. Der Krieg in der Ukraine hat Aserbaidschan und seinen engsten Alliierten, die Türkei, plötzlich zu einer Drehscheibe für die europäische Energieversorgung gemacht. Selbst Moskau ist auf Baku angewiesen, exportiert neulich über Aserbaidschans Pipelines russisches Erdöl und Erdgas nach Europa. Baku und Ankara wissen ihre neue Machtstelle gut auszunützen. Verbale Proteste wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, in Bergkarabach oder etwa in der Kurdenfrage, lassen sie beide kalt. Es ist bezeichnend, dass Alijew seit kurzem in aller Öffentlichkeit erklärt, nicht nur die völlige Kontrolle Bergkarabachs anzustreben, das seit 1921 eine breite Autonomie genoss, sondern auch die «Befreiung Westaserbaidschans», das Bakus Ausführungen zufolge dem Territorium der Republik Armenien gleichkommt.
Am 12. Januar, dem einmonatigen Jahrestag der Blockade, fasste der De-facto-Ministerpräsident Bergkarabachs Ruben Vardanjan in einer Videokonferenz mit Jerewan die Lage in seinem Gebiet mit deutlichen Worten zusammen: «Wir haben drei Möglichkeiten: Bürgerinnen und Bürger Aserbaidschans zu werden, zu gehen oder diese Situation zu überwinden. Dies ist ein Kampf ums Leben, wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht». Kurz danach kam es in Bergkarabach zu einem grossflächigen Internetausfall. Obwohl die Internetverbindung eine Stunde später wiederhergestellt wurde, führte der Ausfall den Zivilist·inn·en Bergkarabachs einmal mehr vor Augen, dass sie den Launen Alijews machtlos ausgeliefert sind. Sowohl die Internet- wie auch die Hochspannungsleitungen von Armenien nach Bergkarabach führen durch ein Gebiet, das seit dem Krieg 2020 von Aserbaidschan kontrolliert wird.
Amalia van Gent*
*Amalia van Gent ist Journalistin und Autorin. Ihre Spezialgebiete sind die Türkei und die Kaukasusstaaten. Ausserdem ist sie eine hervorragende Kennerin der Lage des kurdischen Volkes im Nahen Osten. Dieser Artikel wurde in einer ersten Fassung am 01/01/2023 in Infosperber publiziert und jetzt von der Autorin für den Archipel aktualisiert.