BOLIVIEN: Reise ins Koka-Land

17.03.2006, Veröffentlicht in Archipel 135

Villa Fatima in den Vororten von La Paz, der Hauptumschlagplatz der Kokablätter, ist ein unumgänglicher Ort für die Kokaanbauer, die Cocaleros, aus der strahlend grünen Hügelregion der Yungas im Nord-Osten des Landes. Dieses Jahr wurden zwischen Januar und Oktober

11,5 Tonnen Kokablätter verkauft.

Aus der Hauptanbaugegend Yungas kommen ab 4Uhr30 die ersten Produzenten an. Sie sind halb tot vor Erschöpfung nach 90 km Fahrt auf einer der gefährlichsten Straßen Boliviens voller Schlaglöcher und Spurrinnen, am Rand schwindelerregender Abhänge, zusammengequetscht im Laderaum eines Lastwagens. Die Reichsten kommen im Auto, andere mit Taxis, die bis zum Rand mit Koka gefüllt sind.

Villa Fatima ist eine Art großer Bazar. Vor den gelangweilten Augen der Bewohner dieses populären Viertels der Andenstadt spielt sich ein lebensfrohes Durcheinander ab, ein nicht enden wollendes Hin und Her von Kunden und Händlern. Neun weiße, unverputzte Kauf- und Verkaufshallen stehen der Menschenmenge im Marktbereich offen. Der Kokageruch schwebt über den Cocaleros und den Händlern. Unter die Käufer, die Detallistas, mischen sich die Taciseros, Marktangestellte, die Plastiksäcke voll mit Kokablättern schleppen.

Es werden so große Mengen verkauft, weil die Blätter der Büsche mit den roten und gelben Früchten im ganzen Land konsumiert werden. Bei den meisten religiösen Zeremonien, in der Gruft bei einem Begräbnis, als Heiratsgeschenk, zum Empfang eines Gastes; Koka ist heilig für die Eingeborenen Aymara und Quecha die zwei Drittel der 8,5 Millionen Einwohner Boliviens darstellen. Am Grunde der Minen von Potosi, früher eine der reichsten Städte der Welt, kauen es die Arbeiter, um ihre Schmerzen zu vergessen. Es wird als Shampoo verwendet und gegen den Soroche (Höhenschwindel), oder den Quinoa-Galetten beigefügt. Wahrsagerinnen behaupten sogar, aus seinen Blättern, die auf einem traditionellen Andengewebe ausgebreitet werden, die Zukunft lesen zu können.

Der Markt

Fermin Pilco sitzt in grünem Hemd und dunklen Jeans auf einem Stuhl vor dem Eingang zu den Gebäuden und beobachtet zerstreut das Geschehen. Der Inspektor der Vereinigung der Koka-Produzenten des Departements (ADEP) überprüft die für den Verkauf notwendigen Dokumente. „Der Vertreter des Produzenten muss für seine Ware Menge, Herkunft und Transportmittel angeben.“ Ist der Papierkram erst erledigt, darf er sich im Inneren des Marktes frei bewegen.

Kontrolliert von diesen grünen Amtspersonen bieten die Cocaleros , die oft mit der ganzen Familie anreisen, ihre Erzeugnisse an. Auf einer an die Mauer gelehnten schwarzen Tafel sind die gängigen Preise angeschlagen. Auf Grund des zu hohen Angebotes sind sie dabei zu sinken. Die Käufer, oft Frauen, schlagen sich ihren Weg durch das ohrenbetäubende Tohuwabohu, sie diskutieren mit den Bauern, greifen tief in die Säcke, um die Qualität der angebotenen Ware zu vergleichen. Werden sich Verkäufer und Kunde einig und haben sie sich gegenseitig ihre Karte gezeigt, so werden die Säkke abgewogen. Zahleinheit ist dabei der Taci, ein ungefähr 50 Pfund schwerer Sack (1 Pfund ist ca.500g). Ist der Handel abgeschlossen, kehrt Arturo Dehesa, ein junger Produzent aus den Yungas, nach Hause zurück, nach Villa Remedios. Wie immer hat er seine gesamte Ernte von 150 Pfund verkauft.

Rolando Loiaxa, ein Käufer aus Potosi, geht dem Ausgang zu, wo ihn die Funktionäre der Koka-Generaldirektion erwarten (DIGECO). Sie überprüfen die Genehmigung der Käufer, die erstandene Menge (nicht mehr als 10 Tacis pro Monat) und den Bestimmungsort. Wenn alle Papiere in Ordnung sind, dürfen die vollen Säcke aus der Halle transportiert werden. Polizisten in Zivil und in Uniform streichen um den Ausgang herum. Allem Anschein nach ist das System gut überwacht. Trotzdem bleiben einige Fragen offen. Einige Personen, die zweifellos mit Kokablättern angefüllte Säcke tragen, sieht man beim Eingang wieder heraus kommen.

„Jeder kann ohne Genehmigung im Detail sein Pfund Kokablätter kaufen,“ erklärt der Agent der ADEP, der die Eingänge kontrolliert. Wenn der Einzelne aber jeden Tag aufs Neue das gerade noch erlaubte Gewicht kauft, kommt er dann bis zum Monatsende nicht doch auf eine für den illegalen Drogenhandel durchaus beachtliche Menge? Der Angestellte der ADEP lächelt: „Außerhalb des Marktes passt die Polizei auf; jeder der solche riskanten Dinge unternimmt, tut dies auf eigene Gefahr.“

Ein Blick auf die Straße zeigt, dass die Polizeibeamten nicht so zahlreich sind, wie gerade angedeutet wurde. Wir sehen hier Auto- und Lastwagenchauffeure, die geduldig auf das Abladen warten, und den Gehsteig entlang sitzen an Klapptischen Marktangestellte, um ihre Suppe zu essen. Etwas weiter weg kann man zwei Polizisten erkennen, doch die scheinen sich eher um den Straßenverkehr zu kümmern.

Fermin Pilco, der knapp den Minimallohn von 600 Bolvianos (ca. 60 Euro) verdient, gibt schließlich zu: „Es gibt auch Korruption unter den Agenten. Man muss dazu sagen: Wir bekommen ein miserables Gehalt. Daher ist für einige die Versuchung groß, manchmal ein Auge zuzudrücken.“

Im zweiten Stock sehen Familien fern, andere dösen auf Matratzen. Manche bleiben mehrere Tage hier. Nicht weit von hier befindet sich die Marktdirektion. Der Direktor, Adolfo Condori, ist sich der Mängel und Fehler seines Betriebes wohl bewusst: „Wir bräuchten mehr Mittel, um das Überwachungspersonal besser zu bezahlen - schon das würde die Korruption einschränken - aber auch um die so genannten Kontrollen zu verschärfen.“ Aber nicht nur in seinem Teil, auch bei den anderen, insbesondere in der Nähe der Föderation der Detaillistas, am Platz Harendia, einem nächtlichen Umschlagplatz, wo illegales Koka verkauft wird, wahrscheinlich an Drogenhändler.

Viele wundern sich über die Nachlässigkeit der Ordnungskräfte, welche die Entwicklung dieses parallelen Marktes zugelassen haben.

Anbau

Weit entfernt von diesen Überlegungen ist Arturo Dehesa inzwischen heimgefahren, nach Villa Remedios, in den Yungas, ungefähr 100 km nordöstlich von La Paz. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern auf dem Land seines Vaters, nicht weit von den andischen Hochebenen. Die saftig grünen Hügel in dem heiß-feuchten Klima sind ein Paradies für Schmetterlinge und Mangoliebhaber. Hier, auf 2000 Meter Höhe, wird, unter bleiern schwerem Himmel, Koka neben Bananen, Papayas und Kaffee angebaut.

Arturo hat sich verschuldet, um ein kleines Stück Land von 3 Hektar im Tal zu kaufen. Der kleine muskulöse Mann musste 3000 Dollar hinlegen, eine beachtliche Summe für einen kleinen Kokaproduzenten. Sein Gelände befindet sich unterhalb der Hügel nicht weit vom Rio, ein Refugium der Boas, wie man sagt. „Hier bringt der Kokaanbau weniger als 2000 Meter höher, aber ich kann trotzdem davon leben,“ erklärt er. Keine Gebäude, schon gar keine Wolkenkratzer, der einzige Reichtum ist hier die Erde. Es gibt zwar auch einige Goldminen, doch sie beschäftigen nicht viele Leute. Seit der Landreform von 1952 kann jeder sein eigenes Stück Land besitzen, die Herrschaft der Großgrundbesitzer, denen man Steuern in Form von Naturalien und Arbeitstagen schuldete, ist vorbei. Doch mit der Zeit sind andere Probleme aufgetaucht; das Land wird rar.

„Von Zeit zu Zeit gieße ich meine Pflanzen“, erzählt der junge Bauer und zeigt auf die Schläuche in den Reihen, „denn die, die im Winter während der Trockenzeit gießen, haben bessere Ernten.“ Doch während der Regenzeit kann man sich darüber in dieser feuchten Region nur wundern. Aber anscheinend ist diese Praxis nicht neu: „Schon unsere Urahnen haben bewässert“, führt Arturo an. Er geht den Hügel entlang quer über ein Feld und dann ca. 50 Meter in einen kleinen Wald hinein. Hier bleibt er stehen und zeigt auf vertikal nebeneinander liegende gräuliche Elemente, die von Moos überwuchert und von Blättern bedeckt sind: eine unter dieser ganzen Vegetation beinahe unsichtbar gewordene Steinkonstruktion. „Hier haben schon die Inkas durch den Bau von Terrassen das Wasser für ihre Koka-Parzellen bewahrt“, e rzählt Arturo stolz. „Durch diese Architektur konnten sie verhindern, dass das ganze Regenwasser bis in den Fluss im Tal wegläuft. Einige Steine bezeugen noch die Technik, die heute verloren gegangen ist.“

Die Bewässerung ist also nicht ein Hirngespinst der Cocaleros , die ihre Ernte um jeden Preis vergrößern wollen. Und trotzdem: Die Produktivität ihrer Kulturen beschäftigt die Bewohner der Yungas sehr und nicht alle haben gleich viel Glück. Die Bodenbeschaffenheit ist verschieden in Chulumani, Coripata oder Asuntas; dort ist die Erde reicher und wird besser bewässert, was fünf oder sechs Ernten ermöglicht, im Gegensatz zu vier an anderen Orten. Kaffee wird nur einmal geerntet, also kein Vergleich. Die Cocaleros haben Hühner und ein paar Schafe, aber ihren Hauptverdienst beziehen sie aus den Kokapflanzungen.

Gegenseitige Hilfe

Auch wenn der Arbeitstag schon beim ersten Tageslicht begonnen hat, wird bis zum Sonnenuntergang gearbeitet. Glücklicherweise kann Arturo auf Juan-Carlos Perdero zählen, der ihm im Feld helfen gekommen ist. Juan-Carlos ist ein Jornalero, ein Taglöhner, der seine Arbeitskraft für einen anderen verkauft. Während gewisser Perioden kommen aus dem Altiplano (Gebirge oberhalb von La Paz) Erntearbeiter. Bei Juan-Carlos, dem man die indianischen und afrikanischen Ursprünge ansieht, ist dies allerdings anders: „Ich habe ein kleines Landstück in der Nähe von Irupan, wo ich wohne, aber ohne Zusatzeinkünfte komme ich nicht aus. Also arbeite ich hier, für 40 Bolivianos pro Tag (4 Euro), Unterkunft und Essen.“

Die zwei Männer kennen sich gut. Sie teilen nicht nur die Arbeit, sondern auch ihre Herkunft. Beide stammen von der afrikanisch-bolivianischen Gemeinschaft ab. Die Schwarzafrikaner wurden zuerst in die Goldminen von Potosi geschickt, im Zentrum des Landes. Zehntausende Sklaven starben in den Minen, hauptsächlich auf Grund der miserablen Arbeitsbedingungen; die Kolonialherren entschieden daher, sie in die Yungas zu „versetzen“, eine niedrigere Region, deren feuchttropisches Klima dem afrikanischen ähnlicher ist. Während Jahrhunderten ernteten sie Kokablätter, doch endgültig von der Sklaverei befreit wurden sie erst 1952. Sie haben einen Musikstil geschaffen, die Saya, und bis heute haben sie einige Rituale bewahrt, wie z.B. die Wahl ihres Königs.

Gegenseitige Hilfe ist hier eine Notwendigkeit. Der Vater Arturos, Bonifacio Deheza, 69 Jahre alt, macht sich Sorgen. Er braucht Unterstützung für die morgige Ernte. Die Kokablätter haben die richtige Größe, und während der Regenzeit kann jeder verlorene Tag dramatisch sein. Also fragt er, wen er kann, Männer und Frauen.

Sie schuften gebeugt unter der Hitze im Feld, die Blätter ernten sie in ein großes, um ihre Taille gebundenes Leintuch. Sie machen nur kurze, manchmal durch Regenfälle erzwungene Pausen. Um die Müdigkeit weniger zu spüren, kauen sie Kokablätter. Oft fangen sie den Arbeitstag schon mit einem Koka-Kügelchen an, genauso wie die Minenarbeiter. „Die Liste aller guten Eigenschaften der Kokapflanze wäre endlos“, behauptet Dr. Jorge Urtado, Arzt und Spezialist der Universität für das kleine grüne Blatt. „Sie wirkt gegen Höhenschwindel, erhöht die Resistenz bei großen Anstrengungen und hilft, das Hungergefühl zu hemmen, denn sie ist sehr reich an Nährstoffen wie Vitamine, Proteine, Fasern und Eisen.“ Das Problem dabei ist, dass ein hoher Kokakonsum, wie er in den Minen gang und gäbe ist, zu Unterernährung führen kann, weil die Illusion entsteht, dass man sonst nichts mehr braucht.

Die mit Blättern gefüllten Tücher werden in Plastiksäcke geleert und zum Cachi gebracht, dem Trokkenplatz, einem leicht abschüssigen, mit schwarzen Steinen oder einer einfachen Plane ausgelegten Hang. Nach ca. 10 Stunden sind die Blätter gebrauchsfertig. Einen Teil behalten die Familien für den Eigenbedarf, der Rest wird über Großhändler in Villa Fatima im übrigen Land verkauft. Manche verstauen ihre Produktion vorläufig in einem Lager in Chulumani, der nächstgelegenen größeren Stadt. Arturo wird in einer Woche wieder auf den Markt nach La Paz fahren. Nach dem langen Tag trinkt er langsam und genüsslich einen Mangosirup mit Milch, draußen im Hof, unter dem Licht einer Glühbirne.

Koka ist nicht Kokain

„Wenn man diese Pflanze sieht, kann man sich kaum vorstellen, was in Europa und in den USA daraus gemacht wird“, empört sich Arturo, einige Blätter kauend. Wie ein Echo auf den vom gerade gewählten bolivianischen Präsidenten Evo Morales ständig wiederholten Satz: „Coca no es cocaïna“. Unersetzbar im Leben der Bolivianer bleibt Koka im Ausland schlecht angesehen, weil es immer schnell mit Kokain in Verbindung gebracht wird, das durch chemische Veränderungen aus der Pflanze gemacht wird. Die Bolivianer haben genug davon, immer verteufelt und sogar als Drogenhändler hingestellt zu werden. Koka wird von Kleinbauern auf 27.000 Hektar angebaut, und das seit mehreren Jahrhunderten. Auf alle Fälle existieren hier keinerlei Anzeichen für die Verarbeitung von Koka in Kokain (für

1 kg Kokain braucht man 323 kg Kokablätter).“Das ist nicht unsere Kultur“, wirft mir Juan Carlos hin, „wir kauen und produzieren für die Leute unseres Landes die kleinen Blätter, die so herrlich den Gaumen erfreuen. Die chemischen Produkte für die Verarbeitung zu Kokain wären für uns sowieso unerschwinglich…“. Um Kokain zu produzieren, muss man die Blätter erst einmal ziehen lassen, um das Alkaloid herauszuziehen, dann wird das Produkt mit Azeton, mit Salzsäure und Kaliumpermanganat gereinigt. Insgesamt braucht man ca. 20 verschiedene chemische Bestandteile, alles Produkte, die unter strenger Kontrolle importiert werden.

„Wenn wir Cocaleros bei der Produktion von Kokain ertappen, denunzieren wir sie“, fügt Prudencio Gracia, ehemaliger Gewerkschafter und Produzent aus Villa Remedios hinzu. Solche Fälle kommen hier jedoch selten vor. Es gibt zwar einige Mazerationsbrunnen, doch vor allem im Norden des Landes. Die Yungas gehören zu den Regionen, die davon am meisten bewahrt blieben. Die Kokainproduktion wurde oft mit der im Osten gelegenen und während langer Zeit fast unkontrollierbaren Region des Chapare in Verbindung gebracht. Nach Ansicht mehrerer Experten ist sie allerdings dabei sich zu stabilisieren. „Die Händler scheinen seit kurzer Zeit in andere Zonen auszuwandern“, erklärt Colonel Machado von der Spezialeinheit für den Kampf gegen Drogenhändler (FELCN), „Sie liebäugeln mit den Urwäldern des Beni, wo man nur schwer hineinkommt, und die für die Kokainproduktion daher sicherer sind.“ Seit 1997 haben die Regierungen mehrere 10.000 Hektar „überschüssiges“ Koka vernichtet, denn das Gesetz 1008 aus dem Jahr 1988 fixiert 12.000 Hektar als Obergrenze, um das für den traditionellen und medizinischen Gebrauch bestimmte Koka zu produzieren. Im Chapare hat die Regierung von Carlos Mesa den Produzenten eine zeitlich begrenzte Genehmigung für 3200 Hektar zugestanden. Nach Schätzungen des FELCN und des UNO-Drogenbüros wird Koka auf ca. 27.000 Hektar angebaut, davon 17.000 Hektar in den Yungas.

Alt ernative Programme

Die Entwicklungsprogramme, die größtenteils aus Washington finanziert wurden, zeigten keine bemerkenswerten Resultate. „Es wäre durchaus möglich, hier mehr Ananas, Bananen und Kaffee anzubauen, oder z.B. Mangosaftkonzentrat herzustellen“, schätzt Arturo und lässt das Auge über seine Felder schweifen. „Das Problem dabei ist der lächerlich niedrige Preis, den man für diese Waren bekommt, hier und auf dem Weltmarkt.“ Außerdem haben die Landwirte wenig Informationen über Anbaumethoden, über Unterhalt, Parasiten, Bodenbeschaffenheit etc. Agraringenieure fehlen, genauso wie Straßen und Industrien. Unter diesen Umständen wird es schwierig, andere Produkte anzubauen, anstatt der Versuchung der Koka-Monokultur zu erliegen oder gar Kokain herzustellen. Bolivien ist weltweit drittgrößter Kokainproduzent und kann diese Tatsache nicht verbergen. Die Behörden können wohl immer wieder daran erinnern, dass die Drogen aus Peru und Brasilien durch das Land geschleust werden, doch ein bedeutender Teil wird auch im Land selbst produziert, in geheimen Laboratorien. Dies ist schwer einzubremsen, denn die Korruption nagt an den Sicherheitsdiensten und der Verwaltung. Der Staat hat alle nur denkbaren Schwierigkeiten, gegen den Drogenhandel anzukämpfen. Er hat zwar die FELCN, doch diese Organisation mit 1700 Angestellten ist umstritten. Ihre Verbindungen zu den Amerikanern, vor allem zur DEA, sind bekannt, und ihre Operationen zur Vernichtung der Kokafelder – meistens werden sie verbrannt - werden von den Landwirten nicht gut aufgenommen. Die FELCN, die 1886 gegründet wurde, verfolgt nicht nur die Drogenhändler, sondern auch die Produzenten von Überschuss-Koka. Sie betrachtet ihre Bilanz für das vergangene Jahr als zufriedenstellend. Ihr Chef Louis Caballero führt stolz die Zahlen vor: ein Rekord an Beschlagnahmungen (fast 10 Tonnen Kokain), mehr als 6500 Operationen, viele Verhaftungen….

Doch die Resultate sind nicht sehr überzeugend. „Meistens verhaften sie nur die Bürger der dritten Zone, Besitzer von kleinen Mengen, einen kleinen Verarbeiter bei seinem Mazerationsbrunnen, niemals die Großen“, klagt Dionisio Nunez, Abgeordneter der Yungas und selbst Cocalero . „Außerdem richten sich die Operationen immer gegen die Produzenten, niemals gegen die Geldwäscher, ganz zu schweigen davon, dass es ohne den Absatz im Ausland auch kein Kokain gäbe.“

Der Kampf der Regierungen gegen den Drogenhandel wird allgemein mit Skepsis betrachtet, da sie in der Vergangenheit alle hineinverwickelt waren. Die Liste der Skandale ist lang: Fotos, die Präsidenten und Minister gemeinsam mit Drogenbaronen zeigen, peinliche Beschlagnahmungen von Kokain in hohen gesellschaftlichen Kreisen….

In den Yungas hat man eher schmerzhafte Erinnerungen an die gewaltsamen Interventionen der Antidrogen-Spezialeinheit. 1982 war die Bevölkerung von Villa Remedios, dem Wohnort Arturos, der Repressalien müde und erhob sich gegen das mafiöse Verwaltungssystem der Produktion. Blut floss, und Villa Remedios wurde in ein Schlachtfeld verwandelt. Die Erinnerung daran ist noch sehr lebendig. Einige fragen sich sogar, ob das Gesetz 1008 nicht überhaupt auf die Bedürfnisse der Drogenhändler zugeschnitten wurde. Der konservative Kandidat Jorge Quiroga, alias Tuto, dachte nicht daran, das umstrittene Gesetz zu verändern. Evo Morales will dies tun, zum großen Leidwesen der Amerikaner, die eine spektakuläre Erhöhung der Kokainproduktion befürchten.

Jedenfalls hat der ehemalige Gewerkschaftsführer der Kokaanbauer aus der Region Cochabamba die feste Absicht, das Problem anzupacken. Die ersten Erklärungen des Wahlsiegers nach seinem Amtsantritt am 22.Januar waren eindeutig. „Es lebe das Koka, nein den Yankees!“ rief er zwei Tage nach dem ersten Wahldurchgang bei einer Pressekonferenz aus. Hat der Indigena aus dem Stamm der Aymara die Absicht, die Amerikaner auf diesem äußerst heiklen Gebiet herauszufordern? Kann das ärmste Land Südamerikas auf die Entwicklungshilfe aus den USA verzichten?

Evo Morales Ayma wird vor allem versuchen, die anderen Andenländer mit einzubeziehen, um den Vereinigten Staaten nicht alleine gegenüber zu stehen, und Unterstützung wo anders suchen, vor allem in Europa. An das in Lima im Februar stattfindende Gipfeltreffen der Kokaproduzenten wird der Staat Bolivien eine offizielle Delegation schicken. Ausserdem will der Staatschef eine breite Studie über den reellen Kokakonsum im Land in Gang setzen. „Mit allen Produzenten und Detaillistas, aber auch mit den Konsumentenvereinigungen“, präzisiert Dionisio Nunez, „um die Zahlen, auf die das Gesetz 1008 gestützt wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach oben zu revidieren."

„Es ist nicht sicher, ob Evo Morales seine Ideen konsequent verwirklichen wird“, warnt ein guter Kenner des Dossiers, „Das wird auch sehr auf seine Mitarbeiter ankommen.“ Sein Ziel ist die Straffreiheit für den Handel mit Koka auf internationaler Ebene. Doch erst in drei Jahren wird die nächste Debatte über die Konvention der Vereinten Nationen von 1961 stattfinden, welche die Liste der Suchtmittel erstellt. Vorläufig erregt die Jahrhunderte alte Beschreibung der wohltuenden Eigenschaften der Kokapflanze noch immer Erstaunen.

David Giraud,

Journalist

3.1. 2006