Marie Monique Robin ist eine französische Journalistin, Autorin und Dokumentarfilmerin, bekannt unter anderem durch die Werke «Mit Gift und Genen – Wie der Biotech-Konzern Monsanto unsere Welt verändert» und «Roundup, der Prozess». Wie für viele hat Corona ihr Schaffen stark beeinflusst – und gleichzeitig inspiriert.
Im Frühjahr 2021 ist ihr neues Buch erschienen (bisher nur auf Französisch), recherchiert und geschrieben in einer Zeit geprägt durch Lockdowns und Einschränkungen: ein «Buch aus dem Lockdown», in dem die Autorin der Frage nach den Ursachen der Covid-19-Pandemie nachgegangen ist. Für ihr Buch befragte die Autorin in Videokonferenzen 62 Wissenschafter⸱innen auf der ganzen Welt. Das Resultat ist eine erschreckende Feststellung: Was über viele von uns überraschend hereinbrach, war in Tat und Wahrheit von vielen Wissenschafter⸱innen schon seit Jahren vorhergesagt. Seit mehr als zwanzig Jahren schlagen sie schon Alarm: Der Niedergang der biologischen Vielfalt, verursacht durch menschliche Aktivitäten, wird zum vermehrten Auftreten, ja zu einer wahrhaftigen Epidemie von Pandemien führen. Während in den 1970er Jahren nur alle zehn Jahre eine neue Infektionskrankheit nachgewiesen wurde, werden seit den 2000er Jahren jedes Jahr mindestens fünf Neuauftretungen registriert. Mehr als 60 Prozent der zwischen 1940 und 2004 neu aufgetretenen Infektionskrankheiten zählen zu den Zoonosen.
Anthropisierung unserer Lebensräume
Zoonosen sind vom Tier auf den Menschen übertragene Infektionskrankheiten. Seit der Domestizierung von Tieren vor 17.000 Jahren – insbesondere aber seit dem Neolithikum vor 12.000 Jahren und dem Beginn der Landwirtschaft – sind Menschen und Tiere in einen engen und regelmässigen Kontakt getreten. Damit wurde auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Pathogene (Viren, Bakterien, Pilze, Parasiten) auf einen neuen Wirt überspringen. Einige der am meisten gefürchteten Infektionskrankheiten unserer Geschichte sind von Tieren auf den Menschen übergegangen, wie beispielsweise die Masern, deren Erreger von Rindern stammen. Auch das Coronavirus SARS-CoV-2 ist mit grosser Wahrscheinlichkeit von einer Tierart auf den Menschen übergesprungen. Wie lässt sich aber der rasante Anstieg von Zoonosen erklären? Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass das Risiko für ein Auftreten von Zoonosen in den Regionen der Welt am höchsten ist, die sich durch eine hohe Anthropisierung, der Umwandlung von Landschaften und natürlichen Lebensräumen durch menschliches Handeln auszeichnen. Weitere Faktoren, die ebenfalls ins Gewicht fallen: eine hohe Bevölkerungszahl, Klimawandel und eine starke Integration der jeweiligen Region in die Weltwirtschaft.
Bemerkenswert ist, dass eine wissenschaftliche Studie, basierend auf einer Modellierung, Wuhan in China als einen der potenziellen Hotspots für das Auftreten von neuen Infektionskrankheiten identifizierte – und das bevor Sars-CoV-2 überhaupt die Bühne betrat. Ein Faktor, der in allen Untersuchungen besonders ins Gewicht fällt, ist die starke Abholzung von Wäldern. Die vollständige oder teilweise Zerstörung eines tropischen Waldes verändert tiefgreifend das Verhalten und die Vielfalt der dort lebenden Tiere. Durch Habitatsverlust werden bestimmte Tierarten dazu gezwungen, ihren Lebensraum mit den Menschen zu teilen. Dadurch steigen die Kontaktpunkte mit den Menschen, was einen Austausch von mik-robiellen Erregern wahrscheinlicher macht. Vielerorts wird zudem auf den gerodeten Waldflächen eine Landwirtschaft mit Tierhaltung angesiedelt. Viele Nutztierarten können als Zwischenwirte für Pathogene figurieren und so eine epidemiologische Brücke zwischen den Wildtieren und den Menschen bilden. In intensiven Massentierhaltungen von Schweinen und Hühnern, durch Stress und geringe genetische Vielfalt unter den Tieren begünstigt, finen Pathogene ideale Bedingungen um an Virulenz zu gewinnen und auf den Menschen überzuspringen.
Der Rückgang von geeignetem Lebensraum durch Abholzung kann sich auch über den Verlust von biologischer Vielfalt auf das epidemiologische Geschehen auswirken. Verschwinden beispielweise Grossraubtiere, können sich kleinere Säugetiere stark vermehren. Unter ihnen befinden sich auch einige, die gute Reservoirs für Infektionskrankheiten sind wie zum Beispiel die Nagetiere.
Die Rolle der Biodiversität
Biodiversität kann uns also vor neu auftretenden Infektionskrankheiten schützen. Dabei würde man intuitiv annehmen, dass eine hohe Biodiversität an Tieren auch eine hohe Diversität an Pathogen bedeutet und somit auch eine hohes Risiko für Übertragungen auf den Menschen. Der erste Teil trifft auch tatsächlich zu: Biodiversitätshotspots sind gleichzeitig Orte, die sich durch eine Vielzahl an Pathogenen auszeichnen. Gleichzeitig gibt es aber eine positive Korrelation zwischen der Anzahl neu aufkommender Krankheiten in einer Region und der Anzahl gefährdeter Säugetier- und Vogelarten in derselben Region, was heisst: Je mehr gefährdete Arten, umso höher die Anzahl neu aufkommender Krankheiten. Anders ausgedrückt: Zoonose-Epidemien und vektorübertragene Krankheiten hängen mit dem Verlust der biologischen Vielfalt zusammen. Und in der Umkehr heisst das, dass eine vielfältige Umwelt uns vor neu auftretenden Infektionskrankheiten schützt.
Wie kann Biodiversität uns schützen? Einerseits treten in einem intakten Ökosystem Me-chanismen auf, welche die Populationsdichte einer Art gering halten, die als natürliches Reservoir für einen Krankheitserreger dienen könnte. Dieser Effekt wird als „Verdünnungseffekt“ bezeichnet und ist durch viele empirische Studien belegt. Andererseits spielt die biologische Vielfalt der Umwelt eine Schlüsselrolle für die Bildung des Immunsystems und eines ausgewogenen Mikrobioms1 bei uns Menschen. Neuste Forschungsergebnisse zeigen auf, wie wichtig der Kontakt mit einer natürlichen, vielfältigen Umgebung in der frühen Kindheit ist, um die Entstehung von Allergien, Autoimmunerkrankungen und Entzündungs-erkrankungen zu verhindern. Und vielleicht auch, um uns vor Viren wie SARS-CoV2 zu schützen: Die Entwicklung einer wirksamen und angepassten Immunantwort kann die Virusinfektion eindämmen, während die unkontrollierte Aktivierung der angeborenen Immunzellen durch einen Virus zu einem Zytokinsturm (2) und einer Hyperinflammation der Lunge führen kann, was wiederum ein akutes Atemnotsyndrom und multiple Organausfälle zur Folge haben kann.
One planet – alles ist vernetzt
Die Covid-19 Pandemie zeigt deutlich: Wir sind ein Teil der Ökosysteme, unsere Gesundheit ist eng verbunden mit der Gesundheit unseres Planeten. Alle menschlichen Aktivitäten mit Auswirkungen auf Biodiversität, Wasser, Boden, Klima, etc. spielen hier mit hinein und interagieren mit unserer Gesundheit. So verändert beispielsweise die Klimaerwärmung die Verbreitung von Infektionskrankheiten. Das Auftauen eines mit Anthrax infizierten Rentieres, seit 75 Jahren konserviert im sibirischen „Permafrost“, führte 2016 zum Wiederauf-flammen der tödlichen Epidemie für Rentiere und führte auch zum Tod eines Kindes. Auch Europa wird nicht verschont: Erste Fälle von Denguefieber sind in Südfrankreich aufgetre-ten und alles deutet darauf hin, dass die Überträgermücke ihre Ausbreitung in den Norden fortsetzen wird.
Tatsächlich kann die menschliche Gesundheit als Indikator für die Funktion von Ökosyste-men verwendet werden: Je schlechter es um die Umwelt steht, umso schlechter steht es um den gesundheitlichen Zustand der Menschen. Und das trifft auch auf die psychische Ge-sundheit zu. Die Liebe zur Natur und zu anderen Formen des Lebens in Ökosystemen, auch als Biophilie bezeichnet, ist uns Menschen angeboren. So erklären sich auch die positiven Effekte, die beispielsweise ein Aufenthalt im Wald auf Körper und Psyche der Menschen haben. „Waldbaden“ (Shirin Yoku) ist heute eine anerkannte Methode der Stress-Bewältigung. Es ist an der Zeit, dass die Politik versteht, dass die Gesundheit des Menschen von der Gesundheit der Ökosysteme und der Tiere abhängt – alles ist miteinander verbunden. Es ist auch an der Zeit, dass Politiker⸱innen handeln, um die Zerstörung der Artenvielfalt und den Klimawandel zu stoppen, deren Synergieeffekte bereits jetzt verheerende Folgen für die öffentliche Gesundheit haben. Und schlussendlich ist es auch höchste Zeit, soziale Ungleichheit drastisch zu reduzieren. Denn die Bürde der Gesundheitsbelastung ist nicht gleichmässig verteilt, die Ärmsten sind am stärksten betroffen. Die menschlichen Aktivitä-ten, die Ökosysteme zerstören, schaffen einige wenige Gewinner und viele Verlierer.
Nur durch tiefgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen heute können zukünftige Pandemien vermieden werden. Wenn wir unser Verhältnis zur Natur und zu der Tierwelt nicht radikal überdenken, werden wir in eine Ära der chronischen Lockdowns eintreten, mit fatalen Folgen für die Menschen und die Wirtschaft. Es reicht nicht, nur nach rein technischen Antworten zu suchen: Die Lösung ist nicht, dem x-ten Impfstoff hinterherzulaufen, der uns vielleicht vor der x-ten Krankheit schützen kann. Das beste Mittel gegen das Auftreten von neuen Infektionskrankheiten ist die Erhaltung der Biodiversität.
*Robin, Marie-Monique: «La Fabrique des Pandémies – Préserver la biodiversité, un impérative pour la santé planétaire.» La Découverte, 2021.
Mit dieser Buchbesprechung wollten wir jetzt schon auf das Werk und dessen interessanten Inhalt aufmerksam machen, obwohl bisher noch keine deutsche Fassung vorliegt. Wir hoffen, dass diese bald erscheinen wird, ebenso ist ein Dokumentarfilm in Planung. (Anm. der Red.)
1 Als Mikrobiom bezeichnet man die Gesamtheit aller Mikroorganismen (z.B. Bakterien, Viren, Pilze), die einen Makroorganimus (Mensch, Tier, Pflanze) besiedeln. 2 Ein Zytokinsturm ist eine potentiell lebensgefährliche Entgleisung des Immunsystems, bei der es zu einer sich selbst verstärkenden Rückkoppelung zwischen Zytokinen und Immunzellen kommt.