Einige Jahre nach der französischen Erstveröffentlichung sind die «Gespräche mit Pınar Selek» von Guillaume Gamblin auch auf Deutsch erschienen.* Eine bemerkenswerte Lebensgeschichte zwischen Feminismus, Antimilitarismus und Ökoanarchismus.
Mit dem Buch «Die Unverschämte» veröffentlicht und erläutert Guillaume Gamblin Auszüge aus fünf Gesprächen mit der türkischen Soziologin, Romanautorin und Aktivistin Pınar Selek. Der französische Journalist führte sie 2017 und 2018 für die Zeitschrift «Silence: écologie – alternatives – non-violence» (Schweigen: Ökologie – Alternativen – Gewaltfreiheit). Der Buchtitel verweist auf den armenischstämmigen türkischen Journalisten Hrant Dink, der 2007 ermordet wurde. Er war mit Pınar Selek befreundet und nannte sie voller Hochachtung «die Unverschämte». In vier Kapiteln bekommen die Leser•innen Einblicke in den Lebensweg der 1971 Geborenen, in ihre Gedanken und vielfältigen Aktivitäten – und wie sie sich trotz Verfolgung und Folter ihren Mut und ihre Lebensfreude nicht nehmen lässt.
Die Strasse als Schule für das Leben
Pınar Selek verlebt eine glückliche Kindheit in einer liebevollen Familie in Istanbul. Mit ihrer eineinhalb Jahre jüngeren Schwester verbindet sie eine tiefe Freundschaft. Ihre Mutter ist als selbstständige Apothekerin und wichtige Anlaufstelle für die Nachbarschaft ein grosses emanzipatorisches Vorbild. Ihr Vater ist Anwalt und politisch engagiert, die Familie geht gemeinsam auf Demonstrationen und hat einen grossen Freundeskreis. Nach dem Militärputsch 1980 wird ihr Vater verhaftet. Die verlangte Anpassung und Unterwerfung in der Schule und in der Öffentlichkeit weckt die Rebellin in Pınar Selek: «Ich lehne heute alles ab, was an Uniformität, Zwang und Disziplin erinnert.» (S. 27). Sie will verstehen, was geschieht, liest und führt viele Gespräche mit ihrem kommunistischen Grossvater.
Im ersten Kapitel wird ihre Politisierung beschrieben. Schon früh entwickelt Pınar Selek feministische Ideen, lässt sich vom Schicksal der Künstlerin Camille Claudel (1864-1943) berühren und liest Texte der Anarchistin Emma Goldman (1869-1940). Beide betrachtet sie als Freundinnen. Mit 16 Jahren lernt Pınar Selek Strassenkinder kennen und erlebt hinter deren abschreckendem Äusseren so viel Freundschaft und Solidarität, dass sie später sogar zeitweilig mit ihnen auf der Strasse lebt – aus Sicherheitsgründen als Junge verkleidet. Dort kommt sie in Berührung mit vielen Ausgegrenzten und Verfolgten und vertieft ihre Abneigung gegen Hierarchien und Anpassung. Inspiriert von den Gedanken des Öko-Anarchisten Murray Bookchin (1921 -2006) findet Pınar Selek zu einer grundlegenden Kritik an der Moderne. In einem Nachruf auf ihn schreibt sie später: «Wenn wir Bookchin lesen, sehen wir, wie die Banalisierung der Tierversklavung oder die Inbesitznahme der Wälder oder der Meere die Sklaverei, die Kolonisierung und die Ausbeutung der Menschen fördern.» (S. 78).
Auf Reisen nach Frankreich und Deutschland lässt sich Pınar Selek Anfang der 1990er Jahre von der Hausbesetzungsbewegung inspirieren. In Istanbul organisiert sie mit den Strassenkindern und vielen anderen Menschen Veranstaltungen für Kunst und Kultur. «Es war das erste Mal, dass man in der Türkei solche Workshops mit solch einer personellen Diversität sah: Strassenkinder, Obdachlose, Sinti und Roma, Prostituierte, Transsexuelle, Student•innen etc.» (S. 68).
Neben ihrem Aktivismus studiert Pınar Selek Soziologie und nutzt die Mittel der Wissenschaft für Studien über die Lebenswelten von denjenigen – und gemeinsam mit denjenigen, die viel zu oft unsichtbar bleiben. Sie forscht über die bewaffnete kurdische Bewegung, gerade weil sie selbst immer mehr von der Notwendigkeit von Gewaltfreiheit überzeugt ist, wenn nicht neue Gewalt- und Herrschaftssysteme entstehen sollen.
Weiterleben trotz Gefängnis und Folter
Im zweiten Kapitel ist beschrieben, wie Pınar Selek 1998 verhaftet wird. Mit tagelanger Folter soll sie gezwungen werden, die Namen von Kurd•innen preiszugeben, die sie interviewt hatte. Sie hält stand, wird schwer verletzt, von anderen Gefangenen gepflegt und zum Schreiben ermutigt. Gemeinsam organisieren sie Workshops. Als «Tochter einer Hexe» (S. 97) nutzt Pınar Selek das naturheilkundliche Wissen, das ihre Mutter ihr vermittelt hatte, um Mitgefangene zu behandeln. Kurz nach ihrer Verhaftung wird Pınar Selek zusätzlich angeklagt, auf dem Gewürzmarkt in Istanbul ein Attentat begangen zu haben. Weitere Vorwürfe folgen. Ende 2000 wird nachgewiesen, dass es sich bei der Explosion auf dem Gewürzmarkt um einen Unfall mit einer Gasflasche handelte. Die Anschuldigung gegen sie war unter Folter zustande gekommen. Nach zweieinhalb Jahren wird sie gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassen.
Das dritte Kapitel beschreibt die Jahre nach der Haftentlassung. Zunächst geht es Pınar Selek sehr schlecht, aber sie kämpft sich ins Leben zurück. Ausgangspunkt ihrer vielfältigen Aktivitäten ist ihr breites Selbstverständnis als Feministin: «Wenn du den Kampf gegen das Patriarchat beginnst, stösst du auf enorme Machtstrukturen. Du bekämpfst daher in gleicher Weise den Staat, den Kapitalismus, das umweltzerstörerische System, den Nationalismus, den Rassismus, den Militarismus, den Heterosexismus.» (S. 116).
Über die seit den 1980er Jahren entstehende antimilitaristische anarchistische Bewegung schreibt Pınar Selek: «Ganz plötzlich entstand eine neue Definition dessen, was Mut bedeutet. Bis dahin bedeutete Mut zu haben, sich zu bewaffnen. Nun aber wurde der Mut selbst zur Waffe.» (S. 131). Ein Buch zur Gewaltfreiheit, das sie 2004 unter dem Titel «Barışamadık» (Wir konnten uns nicht versöhnen) veröffentlichte, beeindruckte sogar den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan.
Wurzeln schlagen in der Fremde
2009 muss Pınar Selek von einem Tag auf den anderen die Türkei verlassen. Ihr wird erneut der vermeintliche terroristische Anschlag auf dem Gewürzmarkt vorgeworfen, obwohl sie bereits zweimal freigesprochen wurde. Um einer erneuten Verhaftung zu entgehen, geht sie zunächst nach Berlin. Bald fragt sie sich: «Was soll ich mit meinem Leben anfangen? Warum fühle ich mich so unsicher?» (S. 147). Sie stellt fest: «Das Exil ist zuallererst ein Orientierungsverlust.» (S. 148).
In Deutschland wird sie vom Schriftstellerverband PEN und von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt. Weil Pınar Selek in Istanbul das Französische Gymnasium besucht hatte, siedelt sie 2011 nach Frankreich um, wo ihr die Sprache vertraut ist. Um ihre Jahre im Exil geht es im vierten Kapitel. Dank ihrer breiten Vernetzung und ihres Engagements findet sie in Frankreich Anschluss an politische Gruppen, Medien und wissenschaftliche Kreise. 2014 promoviert sie an der Universität Strassburg. Nachdem sie in Frankreich zuerst als politisch Verfolgte anerkannt wird, erhält sie 2017 die französische Staatsbürgerschaft. Heute lebt sie in Nizza.
Elisabeth Voß, Dipl. Betriebswirtin und Publizistin, Berlin**
*Guillaume Gamblin (Hrsg.): Die Unverschämte, Gespräche mit Pınar Selek. Aus dem Französischen von Lou Marin, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2023, 228 Seiten, 20,90 Euro, ISBN 978-3-939045-50-2
**Der Artikel von Elisabeth Voß erschien bei der Freitag Community und ist zur breiten Veröffentlichung bestimmt.
Neue Manipulation gegen Pınar Selek
Unter Anwesenheit von zahlreichen internationalen Beobachter•innen hat das Berufungsgericht in Istanbul am 28. Juni 2024 beschlossen, weiterhin den internationalen Haftbefehl gegen Pınar Selek einzufordern und ihre Auslieferung aus Frankreich zu verlangen. Da die bisherige Anklage nachweislich nicht haltbar ist, wurde über das türkische Innenministerium in letzter Minute ein neues Konstrukt hinzugefügt: Pınar Selek hätte im April dieses Jahres eine Veranstaltung von der kurdischen «Terrororganisation PKK» in Frankreich geleitet. Damit soll sie aufs Neue als Terroristin abgestempelt werden, um ihre Verfolgung weiterhin zu rechtfertigen. In Wirklichkeit handelte es sich bei dem inkriminierten Anlass um eine Veranstaltung der Universität Côte d’Azur in Nizza, die Pınar Selek moderierte und bei der exilierte kurdische Frauen zu Wort kamen. Die Verteidigung demaskierte den Manipulationsversuch vor Gericht, worauf der Richter den Prozess kurzerhand auf den 7. Februar 2025 verschob. Jetzt geht es darum, die starke Mobilisierung auch für dieses Datum aufrechtzuerhalten.