Pia Klemp, die zusammen mit Carola Rackete im Mittelmeer Kapitänin der Rettungsschiffe Iuventa und Sea-Watch 3 war, um Menschenleben im Mittelmeer zu retten, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel «Wutschrift». Sie begründet hier ihre Wut auf den Ausbau von Frontex und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Sterben im Mittelmeer.
Pia Klemp, Kapitänin, Aktivistin und Seenotretterin, fordert mehr Wut von uns allen. Wut, die zu Engagement führt, die uns antreibt, um zu ändern, was schiefläuft. Wir leben in wütenden Zeiten: Frauen fordern ihre Gleichberechtigung mit Männern; People of Colour die Gleichberechtigung mit Weissen; junge Leute einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem Planeten; Menschenrechtsaktivist·inn·en ein humanes Verhalten gegenüber Geflüchteten. Wut ist ein Werkzeug, das wir nutzen können, um Wände einzureissen, anstatt sie hochzugehen. Eine Impulsgeberin, die aufzeigt, was uns wichtig ist. Denn wer nicht wütend ist, hat nur noch nicht richtig aufgepasst.
«Auf meinen Einsätzen habe ich nicht nur gesehen, wie Männer, Frauen und Kinder jämmerlich untergehen, sondern auch, dass Menschenrechtsverletzungen an der Haustür Europas auf der Tagesordnung stehen. Die EU lässt Flüchtende wissentlich und willentlich ertrinken, während sie zivile Rettungsschiffe blockiert und stattdessen libysche Milizen finanziert, die Menschen gewaltsam in ein Bürgerkriegsland verschleppen, wo ihnen Vergewaltigung, Folter oder Tod drohen. Als Ergebnis dieser brutalen Abschottungsstrategie ist das Mittelmeer die tödlichste Grenze der Welt. Seit 2014 sind im Mittelmeer weit über 22.000 Flüchtende gestorben (Stand August 2021), die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Offizielle Zahlen lassen sich auf der Webseite Missingmigrants finden. Diese Menschen sterben weiterhin und sie sterben nicht zufällig. Sie fallen keiner Naturkatastrophe, keiner göttlichen Allmacht, keinem Schicksal zum Opfer. Es ist skrupellose Politik – es sind Unterschriften, Stempel und Handschläge in klimatisierten Büros, welche zu diesen Toten führen. Warum geht kaum einer die Wände hoch?
Die EU betreibt ein Grenzregime, dessen Ziel nicht der Schutz von Flüchtlingen, sondern vor Flüchtenden ist. Bürokratische Hürden und physische Hürden machen es Flüchtenden nahezu unüberwindbar, ihr Recht auf einen Asylantrag in Anspruch zu nehmen. Festungsmauern werden geschichtsvergessen kontinuierlich höher gezogen und die Grenzschutzagentur Frontex mimt den passenden Türsteher dazu. Rechenschaftspflicht und externe behördliche Aufsicht der EU-Agentur sind quasi nicht existent. Trotz Intransparenz, Korruptionsvorwürfen und Verbindungen zur Waffenlobby lässt man Frontex bei der Militarisierung der Grenzen freie Bahn. Zeugnisse von Menschenrechtsverletzungen mehren sich und es liegt eine erdrückende Beweislast vor, dass Frontex rücksichtslose und völkerrechtswidrige Pushbacks durchführt. Währenddessen beschwört die EU die Achtung der Menschenrechte als einen ihrer bedeutsamsten Grundsätze, findet aber an den Aussengrenzen trotzdem keinerlei Verwendung dafür – ob nun im Mittelmeer oder in Kroatien und Polen, wo Schutzsuchende von Staatsdienerinnen und Staatsdienern aus der EU hinausgeprügelt werden und im Niemandsland der Grenzanlagen auf ein Wunder oder ihren Tod warten müssen.»
Pia Klemp: «Wutschrift – Wände einreissen, anstatt sie hochzugehen»
Penguin-Verlag, München, März 2022