DIGITALE IDENTITÄT: Die digitale Brieftasche

von pasdenumeros[at]siseup.net, 13.10.2023, Veröffentlicht in Archipel 329

Smart Cities, Smart Planet... Willkommen in der Netzwerkgesellschaft, in der ausnahmslos jedes Objekt – vom Stadtmobiliar bis zur Gartenbewässerung, von Fahrzeugen bis zu Smartphones – ständig Computerdaten produziert, die der optimierten Kontrolle der Bewegungsflüsse und Verhaltensweisen derer, die sie erzeugen, dienen.

Willkommen in einer Gesellschaft maschineller Effizienz und automatischer Verwaltung, an der wir Menschen als vernetzte Subjekte und kommunizierende Objekte teilhaben. Eine Gesellschaft der technologischen Prothesen, die uns nach und nach entfremden und ersetzen. Die digitale Brieftasche, eine neue App für Smartphones, wird wahrscheinlich einer der entscheidenden Meilensteine in dieser Geschichte unserer endgültigen Integration in das Internet der Dinge sein. Ihre Einführung birgt das Risiko, uns jeden Weg zurück zu verbauen. Dies ist weder eine x-te Verschwörungstheorie noch Science-Fiction. Diese Dystopie wird tatsächlich geschrieben:

2022: Start des Projekts «Digitale Identität» durch die Europäische Kommission (EK); Überarbeitung der europäischen Verordnung zur elektronischen Identifizierung (ELDAS); Verabschiedung des Gesetzes LOPMI (zur Technologisierung der Polizei), das die Einführung der digitalen Identität in Frankreich vorsieht; 2023: Entwicklung eines Prototyps der europäischen digitalen Brieftasche (durch die Unternehmen Scytales und Netcompany) ; 2024: Alle EU-Mitgliedstaaten müssen ihren Bürger·innen (sowie Einwohner·innen und Unternehmen) digitale Brieftaschen zur Verfügung stellen, die mit denen der anderen EU-Mitgliedstaaten interoperabel sind. 2030: Die EK erwartet, dass mindestens 80 Prozent der Europäer·innen die digitale Brieftasche nutzen und dass die öffentlichen Dienste bis dahin vollständig digitalisiert sind (Ziele «Digitaler Kompass 2030» der EK). Um eine Smartphone-Anwendung, die in jedem EU-Land genutzt werden kann (alle «Brieftaschen»-Anwendungen, die in den verschiedenen EU-Ländern in Betrieb genommen werden, müssen nach gemeinsamen technischen Standards gestaltet und untereinander «interoperabel» sein, d. h. miteinander kommunizieren und funktionieren).

Worum handelt es sich?

Jede «persönliche digitale Brieftasche» wird virtuell auf einem Smartphone vereint:

  • Offizielle Dokumente und Identifikatoren (von den Behörden generiert): Personalausweis, Führerschein, Gesundheitsversicherungskarte, Sozialhilfe- und Steuerdaten, Wohnsitznachweise, Nachweise für erworbene Diplome usw. usw.
  • So genannte private Identifikatoren, insbesondere für geschäftliche Transaktionen: Bankdaten, mit denen bezahlt werden kann, Kundenkonten usw. Mit anderen Worten: alles, was dazu dient, eine Person zu identifizieren und Nachweise für Zugangsgenehmigungen zu Räumen, Rechten oder Dienstleistungen zu verschaffen: eine Prüfung ablegen, eine medizinische Untersuchung machen, ein Auto mieten, einen abgelaufenen Pass verlängern, nachweisen, dass man alt genug ist, um Alkohol zu konsumieren, daran erinnert werden, dass Impfungen aufzufrischen sind oder Punkte vom Führerschein abgezogen werden, Verträge unterschreiben, eine Reise reservieren, einen Kaffee bezahlen ... – alles wird künftig über diese «Brieftasche» laufen. Einige derartige «Lösungen», die bereits auf dem Markt sind (z. B. die Digital ID Wallet von Thales), nutzen die Gesichtserkennung, um die Brieftasche zu öffnen und generieren QR-Codes mit den für jeden Vorgang erforderlichen Informationen, die von den jeweiligen Behörden gescannt werden, um Zugang zu verschiedenen Dienstleistungen zu verschaffen.

Woher kommt die Idee?

Von den Kirchenbüchern bis hin zur digitalen Identität: Die Machthabenden nehmen sich schon seit Langem die Aufgabe zu Herzen, die Bevölkerung, für die sie sich zuständig erklären, zu identifizieren, zu registrieren und zu klassifizieren. 1921 zum Beispiel wurde der Personalausweis in Frankreich eingeführt – und nicht sehr wohlwollend aufgenommen. «Warum tätowieren wir uns nicht gleich den Personenstand auf den Bauchnabel, wenn wir schon dabei sind?», war in damaligen Zeitungen zu lesen. Der Besitz eines Personalausweises ist offiziell immer noch keine Pflicht, aber versuchen Sie einmal, ohne ihn durchzukommen!

Die Anthropometrie (Messung der dimensionalen Merkmale eines Menschen), Vorläuferin der heutigen Biometrie, wurde 1880 entwickelt, um Straftäter·innen und später «Nomaden» zu erfassen. Während des Zweiten Weltkriegs diente sie zur Erfassung der jüdischen Bevölkerung, bevor sie auf alle Menschen ausgeweitet wurde. Heute ist der neue elektronische Personalausweis, wie auch der neue Führerschein, mit einem Chip ausgestattet, der Ihre biometrischen Daten (Fingerabdrücke und Foto) enthält.

Das 1998 in Frankreich eingerichtete FNAEG (Nationales Register der genetischen Fingerabdrücke) sollte zunächst nur die DNA von Personen speichern, die wegen Sexualverbrechen angeklagt waren. Später wurde sie auf fast alle Straftaten ausgeweitet und speichert heute die DNA von 5,2 Millionen Personen (von denen nur 17 Prozent für schuldig befunden wurden). Die Geschichte der Perfektionierung und Digitalisierung der Identifizierung ist lang. Die zahlreichen Episoden (SAFARI, digitalisierter Personalausweis, INES...) führten zu zahlreichen Widerständen. Um den Widerstand gegen das Projekt SAFARI (Automatisiertes System für behördliche Dateien und Personenregister, 1974) zu besänftigen, gründete der französische Staat die CNIL (Nationale Kommission für Informatik und Freiheiten). Zunächst mit einer Genehmigungsbefugnis ausgestattet und damit auch mit der Befugnis, ein Projekt zu verhindern, hatte diese Kommission die «schlechte» Idee, eben diese zu benutzen, und zwar gegen ein Projekt zur Vernetzung von Polizeidateien (STIC). Seit dem Jahr 2004 hat die CNIL daraufhin nur noch eine beratende Funktion bekommen. Anders gesagt, sie ist nutzlos. Nachdem sich die Nutzerinnen und Nutzer nun an die digitalen Portale FranceConnect und FranceIdentité (gekoppelt mit dem neuen elektronischen Personalausweis) gewöhnt haben, und damit an so etwas wie eine zentrale Anlaufstelle, könnte die «Brieftasche» es ermöglichen, den langjährigen Widerstand gegen die Vernetzung der Dateien zu umgehen.

Wo führt das hin?

Die Identifizierung ist die Grundlage für Aussortierung, Zielgruppenerfassung, Passierscheine und andere konditionierte Zugangssysteme. Ohne Identifikation würde keines dieser Systeme funktionieren. Unternehmen nutzen die Identifizierung, um gezielter zu werben, um die Kreditwürdigkeit eines/r Kunden/in zu überprüfen, um Daten, die Geld wert sind, am richtigen Ort zu speichern. Für Staaten ist das Identifizieren entscheidend, um die Bevölkerung zu regieren – und vor allem um sie mit Maschinen zu verwalten. Identifizieren ermöglicht es, Personen, die als konform gelten, Zugang zu bestimmten «Rechten» (oder Privilegien) zu gewähren und sicherzustellen, dass niemand ungerechtfertigt in den Genuss eines Vorteils kommt, und somit im Umkehrschluss Personen, die als nicht konform gelten, den Zugang zu verweigern. Hat der Covid-Gesundheitspass Ihnen gefallen? Dann wird die digitale Brieftasche Sie begeistern! Identifizieren dient natürlich auch der Justiz und der Polizei, um zu entscheiden, wen sie bestrafen oder von der Gesellschaft fernhalten sollen, was mit entsprechender Überwachung einhergeht.

Die Symbiose dieser verschiedenen (kommerziellen und administrativen) Zwecke auf dem Smartphone hat bereits zu den äusserst beunruhigenden Beispielen des Sozialkreditsystems in China oder des Smart Citizen Wallet geführt, das derzeit in Bologna, Italien, getestet wird: Einwohner·innen, die dies wünschen, können dort Sozialkreditpunkte sammeln, wenn sie öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ihren Müll richtig trennen, konventionierte kulturelle Aktivitäten besuchen...

Wenn Sie den Eindruck haben, dass diese Beispiele noch fern von Ihnen liegen, hier ein Zitat aus einem Bericht der Delegation für Zukunftsforschung des Senats in Frankreich: «Die medizinischen Daten einer [mit Covid 19] positiven Person könnten mit ihren Geolokalisierungsdaten abgeglichen werden und im Falle einer Verletzung ihrer Quarantäne [...] zu einer Deaktivierung ihrer Zahlungsmittel führen.» Natürlich ist das nur «Zukunftsforschung», nur für Krisenfälle empfohlen… Aber ob Krise oder nicht, müssen wir davon ausgehen, dass die Verbreitung der «Brieftasche» die allgemeine Identifizierungspflicht noch um einiges verstärken wird – denn sie wird ja so einfach werden! Und unter allen Umständen wird es leichter sein, allerlei Detailinformationen über jede einzelne Person zu überprüfen.

Den logischen Sinn zerstören

Die Befürworter der «digitalen Brieftasche» machen vor keiner Sinnverkehrung halt, was Ursachen und Wirkungen betrifft. Sie behaupten mit Verve und ohne Beweise das Gegenteil dessen, was logisch oder feststellbar erscheint, und erwarten unser volles «Vertrauen», ohne ein Murren. Sie sagen, dass die «Brieftasche» unser Leben vereinfachen wird – auch wenn jede Information nun eine Vielzahl komplexer technischer Netzwerke und energiefressender Computerserver durchlaufen muss, die seltene Metalle und andere Rohstoffe verbrauchen, um ein Dokument zu öffnen, das man früher einfach nur aus seiner Tasche ziehen musste. In Wirklichkeit «vereinfacht» diese technische Lösung eine administrative oder kommerzielle Schwerfälligkeit, die der Staat und der Handel erst selbst geschaffen haben.

Die Technokraten rechnen mit unser Hilfe, um die Brieftasche flächendeckend einzuführen – wie sonst sollen physische Büros, in denen man menschliche Ansprechpartner·innen treffen kann, überflüssig werden, da die Europäische Gemeinschaft (EG) ja bis 2030 alle öffentlichen Dienstleistungen «entmaterialisieren» will? Und freundlicherweise versprechen sie uns «ein noch breiteres Spektrum» an «umfassenden Identitätsdiensten à la carte». Identitätsnachweise werden nur noch mehr von uns verlangt werden. Die Befähigung, sich diesem Zwang zu unterwerfen, indem man die entsprechenden Nachweise erbringt, wird (mit den Worten der EK) zu einem «Recht» erklärt. Man sagt uns sogar, dass unsere Privatsphäre dank der «Brieftasche», die so ziemlich alles vereint, was man über uns wissen möchte, besser geschützt sein wird; was für ein Paradox! Wurde doch FranceConnect im Sommer 2022 bereits gehackt… Man verspricht uns, dass jeder Zugriff auf unsere Daten unter unserer Kontrolle stattfinden wird ... aber die zuständigen Behörden können Dokumente aus der Ferne deaktivieren, und die Polizeiarbeit wird vereinfacht. In Estland soll die Polizei (laut Thales) dank der digitalen Identität bereits 50 Mal effizienter arbeiten als zuvor. Wie beruhigend!

Man versichert uns, dass die «Brieftasche» nicht obligatorisch sein wird. Dank der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) wird sie, wie so vieles andere, wohl tatsächlich nicht verpflichtend sein – sondern nur unumgänglich. Für Thales, das französische Flaggschiff der Rüstungsindustrie und einer der Weltmarktführer im Bereich der digitalen Identität, gibt es keinen Grund, sich zu fürchten. Auf ihrer Webseite kann man sogar lesen: «1984 hat nicht stattgefunden»!

Perspektiven?

A. Leichten Herzens ein kommunizierendes (und transparentes) Objekt werden; B. Ein trauriges, fatalistisches und von Erinnerungen an unerreichbare Freiheitsträume verfolgtes kommunizierendes Objekt werden; C. Reagieren, solange es noch möglich ist. Ärztinnen und Ärzte sind besorgt angesichts der zunehmenden «Nomophobie» (von No-Mobile-Phobie), der Angst, sein Smartphone nicht bei sich zu haben. Damit ist also der nötige Grad an Sucht erreicht, um die allgemeine Verbreitung der «digitalen Brieftasche» denkbar zu machen: Die Geburt eines «digitalen Zwillings» (CE), Ihres vollgültigen Avatars im grossen Netzwerk des Smart Planet! Ein Avatar, der es den Verwalter·innen der Datenströme ermöglichen wird, Ihre Worte und Taten zu antizipieren, zu verändern und zu optimieren. Willkommen in der Welt der automatisierten Regierung! Wenn Sie damit nicht einverstanden sind, sollten Sie einen Weg suchen, Ihr Smartphone loszuwerden. Das wäre schon ein guter Schritt, aber nur ein individueller Lösungsansatz. Die Tat muss ansteckend werden! Wieso sollten wir es «chic» finden, unser gesamtes Leben an einen Taschencomputer zu delegieren? Ohne ihn nicht mehr auszukommen?

Während die EG einen äusserst engen Zeitplan festgelegt hat (2024 ist morgen); während in Frankreich die Post bereits mit ihrer App für digitale Identität vorprescht... hoffen die Technokraten, dass unsere Verwandlung in kommunizierende Objekte in der grossen Flut der Smartphone-Innovationen unbemerkt bleibt. Machen wir sie bekannt! Organisieren wir uns, denken wir nach, reden wir darüber, suchen wir gemeinsam nach Ideen, bevor uns die Möglichkeit dazu genommen wird. Bilden wir Gruppen, um uns gegenseitig zu helfen. Tun wir unsere Ablehnung in allen Räumen kund. Beruhigen wir die Älteren, die sich mit der Digitalisierung schwertun: Sagen wir ihnen, dass sie Recht haben. Machen wir den Jüngeren Lust, Ausreisser·innen zu sein. Machen wir überall um uns herum die Instanzen ausfindig, die uns an das Digitale, das Smartphone, die Kontrolle und die «Brieftasche» gewöhnen: die Universität, die Bibliothek, die Schule der Kinder, das Büro, die öffentlichen Räume. Sorgen wir dafür, dass diese Gewöhnung nicht selbstverständlich wird! Stören wir die Veranstaltungen der Techno-Propaganda. Schaffen wir auf der Strasse, in den Verkehrsmitteln, überall dort, wo wir noch Menschen begegnen, Situationen, die geeignet sind, den Kopf vom Bildschirm zu heben. Zerbrechen wir diese Maschinen und unsere Faszination!

Im «schlimmsten» Fall, auch wenn wir kein Ergebnis garantieren können, wäre unser Leben dadurch zumindest etwas heiterer. Und wenn es helfen kann, das Ausmass der digitalen Überflutung unseres Daseins zu erkennen, sich der Entscheidungen zu bemächtigen, die ohne unser Wissen getroffen werden, andere Bedürfnisse zu hinterfragen, die von der Industriegesellschaft induziert werden; wenn es eine Gelegenheit sein kann, zu lernen, etwas anders zu machen, neue Perspektiven zu eröffnen; wenn es uns den Geschmack am Politischen wiederfinden lässt und uns ein wenig Gehirnzeit befreit – das wäre es schon wert.

Auszüge aus dem «Vortrag über die Brieftasche der digitalen Identität», 2023

Original auf Französisch: Extraits de l’exposé sur le portefeuille d’identité numérique. Mehr Informationen auf Französisch: pasdesnumeros@riseup.net