Archipel veröffentlicht eine Reihe von Artikeln über die Landwirtschaft in verschiedenen europäischen Ländern, nach Österreich und Slowenien berichten wir diesmal über Ungarn. Sämtliche Artikel wurden für das europäische Seminar "Die Zukunft der bäuerlichen Landwirtschaft" geschrieben, das von der Bauernvereinigung "Païs Alp" und dem Europäischen Bürgerforum im Januar 2003 in Südfrankreich veranstaltet wurde.
Seit 1990, dem Jahr der Wende, ist die ungarische Landwirtschaftspolitik von stetigen Regierungswechseln (alle vier Jahre) gekennzeichnet. Die konservativen Regierungen haben versucht, die Konkurrenzfähigkeit der bäuerlichen Landwirtschaft zu fördern, die Sozialliberalen die Agrarindustrie. So kommt es, dass die Bauern mit großen oder kleinen Betrieben ihre Ausrichtung nie für länger als vier Jahre festlegten.
Bei den letzten Wahlen im April 2002 wurde die konservative Regierung durch eine sozialliberale abgelöst. Die frühere Regierung hatte versucht, vor dem EU-Beitritt durch neue gesetzliche Bestimmungen die Position der Kleinbauern zu stärken. Sie führte das Statut der Familienbetriebe ein, das bisher nicht existierte. Es besagt, dass ein Betrieb eine Maximalgröße von 300 ha umfassen darf und zusätzlich zu den Familienmitgliedern zwei Angestellte haben kann.
Bis zu den Wahlen konnten 17.000 Höfe registriert werden mit einer Gesamtfläche von 1.000.000 ha. Diese Betriebe bekamen 10 Prozent höhere Fördermittel als alle anderen landwirtschaftlichen Unternehmen und profitierten von staatlich garantierten zinslosen Krediten. Auch ein Vorkaufsrecht auf alle zum Kauf freigegebenen Ländereien in der Umgebung eines Betriebes war vorgesehen. Sämtliche Maßnahmen wurden von der neuen Regierung, welche vor allem große landwirtschaftliche Betriebe unterstützt, aufgehoben.
Die frühere Regierung hatte mit der Europäischen Union einen Vertrag ausgehandelt, der vorsah, dass nach dem EU-Beitritt während sieben Jahren kein Land an Ausländer verkauft werden darf. Bisher scheint es, dass die Sozialliberalen an dieser Abmachung festhalten, obwohl sie den Landkauf, mit dem Ziel, vermehrt Anleger anzuziehen, liberalisieren wollen.
Die beiden unterschiedlichen Ausrichtungen haben eine Gemeinsamkeit: die Förderung der Exportpolitik. Die ungarische Landwirtschaft produziert 25 bis 30 Prozent Überschuss. In den letzten 10 Jahren betrugen die Fördermittel abwechselnd zwischen 8-12 Prozent des Bruttosozialproduktes. Mit dem EU Beitritt kommen schwere Zeiten auf die ungarische Landwirtschaft zu:
Das Gesamtpaket der Fördermittel (EU und nationale) wird gleich bleiben.
Der Import der stark subventionierten Agrarprodukte aus der EU wird liberalisiert.
Die GAP (Gemeinsame Agrarpolitik) hat die Preissenkung der Agrarprodukte zum Ziel.
Die ungarische Regierung hat es unterlassen, über die zweite Säule der GAP, das Maßnahmenpaket zur Förderung der ländlichen Entwicklung, zusätzliche Fördermittel zu finden.
Ab 2003 wird die Regierung die Kleinbetriebe mit weniger als 5 ha Land als "soziales Problem" behandeln. Jeder Betrieb erhält jährlich 2000 Euro und ist von allen anderen Förderungen ausgeschlossen. Nach Schätzungen der ,Nationalen Allianz der landwirtschaftlichen Betriebe‘ werden diese Maßnahmen das Verschwinden von 400.000 Vollzeitbetrieben verursachen (ohne von den 700.000 Bauern zu sprechen, die ausschließlich für die Selbstversorgung produzieren). Nur die Betriebe mit einem Minimaleinkommen von 12.000 Euro können landwirtschaftliche Fördermittel beantragen. Ungefähr 50 Prozent der Bauern verdienen weniger.
Die Bestimmungen über die Verarbeitung der landwirtschaftlichen Produkte führen dazu, dass das Bestehen der kleinen Betriebe immer ungewisser wird: Sie haben das Recht verloren, ihre Produkte für die Direktvermarktung zu verarbeiten. Bisher konnte noch Milch, Rahm und Quark direkt auf Bauernmärkten verkauft werden. Sehr strenge Kontrollen versagen jedoch vielen Produzenten den Zugang zu diesen Märkten. Unsere Genossenschaft zum Beispiel konnte bisher auf dem Bio-Bauernmarkt von Budapest wöchentlich 500 Liter Milch verkaufen, bis die Behörden kürzlich unter dem Vorwand nicht konformer Etikettierung die Milch konfiszierten...
Mit der Anpassung an die europäischen Bestimmungen werden ab Januar 2003 auch auf den Höfen produzierte Produkte wie Pickles, Konfitüren, Sauerkraut und Käse aus der Direktvermarktung gezogen. Der einzig verbleibende gesetzliche Rahmen bleibt der Zusammenschluss in Genossenschaften und der Bau gemeinsamer Einrichtungen. Die Mehrheit der Kleinbauern erkennt jedoch die Notwendigkeit solcher Initiativen nicht. Bisher bestehen nur sehr wenige Verkaufsnetze und Zusammenschlüsse von Konsumenten und Produzenten.
Wir haben die Absicht, Produzenten und Konsumenten einander näher zu bringen. Wir müssen eine Art "Sozialvertrag" aushandeln, und persönliche Kontakte sollen helfen, Probleme und Bedürfnisse zu verstehen und Lösungen zu vereinbaren. Einerseits sollten Qualitätsprodukte hergestellt und andererseits auf Lokalmärkten eingekauft werden. Das Ziel sollte ein gemeinsames europäisches Programm sein, das über verschiedene Wege (technische, finanzielle) unterstützt werden könnte.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten über die "ausgelagerten" Kosten der "über" - konservierten, - verpackten, - transportierten, - entlokalisierten und chemisch behandelten Produkte sollten die Forderung belegen, dass Ergänzungszahlungen in der gleichen Höhe an biologisch produzierende Betriebe für Lokalprodukte, die nicht die gleichen Unkosten verursachen, gezahlt werden.
Wir arbeiten an solchen Projekten, sie kommen jedoch nur langsam vorwärts, da wir nicht über genügend Geldmittel verfügen.