In den letzten Wochen hat die internationale Mainstream-Presse mehrere polnische und internationale Ereignisse besprochen, welche die derzeitige Politik des Landes in Frage stellen. Diese Medien scheinen uns jedoch nicht ausreichend auf die grosse Gefahr hinzuweisen, die von der Machtausübung der nationalistischen Partei PiS («Recht und Gerechtigkeit») ausgeht.
Gefährlich sind vor allem die Konsequenzen ihrer Politik, mit der die Geschichte «korrigiert» wird, ihre Unterstützung ultra-nationalistischer Bewegungen und die Etablierung einer hasserfüllten Opferkultur, die alle Minderheiten und jeden sozialen Fortschritt befeindet.
Vor genau einem Jahr, am 73. Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz-Birkenau und am Vorabend des Internationalen Gedenktages für die Opfer des Holocausts, verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz zum Gedenken an die Shoah, das die Behauptung oder auch nur die Andeutung, Polen trage eine Mitverantwortung für die von Nazi-Deutschland begangenen Verbrechen, mit bis zu drei Jahren Haft bestraft. Am 21. und 22. Februar 2019 störten etwa 30 Personen, die der rechtsextremen Zeitung Gazeta Polska nahe stehen, ein an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften (EHESS) stattfindendes Symposium über die «Neue polnische Schule der Shoah». Organisator·inn·en wie Teilnehmende wurden beleidigt und bedroht, unter anderem mit antisemitischen Parolen. Der «anti-polnische» Charakter der Veranstaltung wurde gebrandmarkt. Während die französischen Behörden, insbesondere über deren Hochschulministerin, dieses Vorgehen scharf kritisierten, versuchte ihr polnischer Amtskollege, Vizepräsident Jaroslaw Gowin, den Vorfall herunter zu spielen. Er protestierte gegen die kritischen Bemerkungen der Vortragenden über seine Regierung und erklärte sich durch diese beleidigt. In Polen wurde die Veranstaltung von den ultrakonservativen Unterstützer·inne·n der PiS-Partei als lügnerisch verschrien. Diese Positionen wiederholen sich tendenziell immer wieder gegen Forscher·innen, die sich mit der Verantwortung eines Teils der polnischen Zivilbevölkerung für Verbrechen an Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkriegs befassen. Die «Neue polnische Schule der Shoah» zeigt auf, wie historische Rekonstruktionen und eine viktimistische und nationalistische Interpretation der Geschichte die derzeitigen Obrigkeiten dahingehend beeinflussen, dass sie die Mitverantwortung polnischer Bürger·innen an der Shoah negieren. Zweifelsfrei vergiftet der gegenwärtige nationalistische Kontext das Bildungswesen, denn er verstellt den Blick auf die Geschichte und fördert patriotische Ressentiments1. Ein PiS-Minister erlaubte sich gar, im nationalen Fernsehen zu erklären, dass Flüchtende ein Problem darstellten, weil sie Krankheiten mit sich brächten. Wie der polnische Jurastudent Michael es formuliert, «vergleicht diese Rhetorik die Ukrainer·innen, welche die grösste Minderheit in Polen ausmachen und zumeist in sehr prekären Verhältnissen arbeiten, mit Viren. Andere nationalistische Bewegungen haben eine mehr ökonomische Rhetorik, sie behaupten, in Polen müsse es Vollbeschäftigung geben, aber nur für Pol·inn·en, weil alle anderen ihnen nur ihre Arbeitsplätze wegnähmen.»
Immer weiter nach rechts
Wir hatten vor kurzem über den besorgniserregenden Marsch am 11. November letzten Jahres, dem 100. Geburtstag der polnischen Nation, informiert. Wenige Tage nach diesem Ereignis kündigte das radikale nationale Lager die Gründung einer neuen Partei an: die «Föderation für die Republik». Diese positioniert sich rechts von der PiS2, wo schon nicht viel Platz verbleibt. Sie geht ins Rennen für die Europawahlen und hofft vom Erfolg der damaligen Grossdemonstration zu profitieren. Nicht weniger als fünf derzeitige Abgeordnete sind mit dem radikalen nationalen Lager verbunden. Diese antieuropäische und äusserst fremdenfeindliche Bewegung bringt viele sehr unterschiedliche Menschen zusammen, die oft nicht viel mehr eint als ihre gemeinsamen Feinde, die da wären: Kommunist·inn·en, Sozialist·inn·en sowie alle LGBT-Personen, die in ihren Augen das Ideal der polnischen Familie zerrütten. Sie misstrauen allen ausländischen Einflüssen, vor allem denjenigen aus der EU. Sie sind sehr durchmischt, wie Michael es uns während unserer Polenreise erklärte: «Zum Beispiel sind sie auf der einen Seite absolut nicht antikapitalistisch und auf der anderen Seite aber absolut antikapitalistisch und gehören zur gleichen Bewegung. Dieser Marsch gab ihnen die Gelegenheit, ihre Ideen in der politischen Landschaft Polens zu normalisieren. Es ist ziemlich überraschend oder interessant zu sehen, dass kein einziges Mitglied der Linken im Parlament vertreten ist (…) und selbst Parteien, die sich liberal nennen, haben diese Hassrhetorik. Zum Beispiel gibt es diese Partei namens ‚Novosadska‘, die Fortschrittspartei: Sie sagen, sie seien besser als die ‚Bürgerplattform‘, der die vorherige Regierung angehörte, weil sie wirklich liberal seien. Sie begannen damit, fortschrittliche Ideen für LGBT-Bürger·innen und Flüchtende vorzuschlagen. Als dann diese Anti-Flüchtlingswelle über Polen hereinbrach, als alle Parteien sagten, dass die Flüchtenden Teil einer islamischen Verschwörung seien, änderten sie ihre Ideologie nicht völlig, versteckten aber bestimmte Aspekte ihrer Ideen, um auf der Höhe ihrer Popularität zu bleiben. Nachdem sie alle progressiven Punkte ihres Programms versteckt hatten, wurden sie zu einer Partei wie alle anderen. Das ist traurig zu sehen, denn sie wurden gegen die ‚Bürgerplattform‘ gegründet und letztendlich werden sie mit ihr koalieren. So sehen wir, wie der politische Diskurs immer weiter nach rechts rutscht.» Michael ist in einer Partei aktiv, die 1,5 Prozent der Bevölkerung vertritt und nicht im Parlament vertreten ist und «Razem» heisst: das «Linke Bündnis». Er sagt dazu: «Diese kleinen Parteien haben absolut keine Mittel – die Medien verweigern uns sogar die Sendezeit, auf die wir gesetzlich Anspruch hätten, um zu zeigen, dass nicht alle Parteien in Polen gegen Flüchtlinge und gegen Europa sind.»
Zweckdienliche Märtyrer
Eine weitere Gruppe, die an der Organisation der Kundgebung teilnahm, «Mlodziez Wszechpolska» («Allpolnische Jugend»), steht unter institutionellem Schutz seitens der Regierung, die Blockaden gegen ihre Demonstrationen mit Härte unterdrückt. Es handelt sich um eine radikal ultra-nationalistische und pro-katholische Jugendbewegung, vor dem Zweiten Weltkrieg gegründet, die regelmässig mit homophoben und antifeministischen Aktionen Schlagzeilen macht. Sie organisieren Demonstrationen zum Gedenken an den Widerstand der polnischen Armee gegen Ende des Krieges, der sowohl gegen die Sowjets als auch gegen die Nazis gerichtet war und der zum Warschauer Aufstand führte. Die aus dem Untergrund aufgetauchte Widerstandsbewegung wurde dann fast vollständig vom NKVD, der kommunistischen Geheimpolizei der Sowjetunion, niedergemetzelt. Laut Michael fehlt es der Fetischisierung dieser sogenannten «verfluchten Soldat·inn·en» seitens der jetzigen Regierung entschieden an Nuance: «Die Soldaten, die noch am Leben waren und sich den Sowjets widersetzten, wurden als die ‚verfluchten Soldaten‘ bezeichnet. Es gibt eine Fetischisierung ihres Kampfes gegen den Kommunismus, der von der derzeitigen Regierung als ihr Feind betrachtet wird. Der Widerstand war auf jeden Fall stärker antikommunistisch als antifaschistisch. Einige dieser ‚verfluchten Soldaten‘, die gegen die Sowjets kämpften, waren zuvor Teil der Milizen, die den SS-Soldaten der Wehrmacht halfen. Ein Soldat namens Ogin, was auf Polnisch soviel wie Feuer bedeutet, massakrierte slowakische Zivilisten und Zivilistinnen, andere vertrieben Jüdinnen und Juden. Sie waren wirklich schrecklich.»
Mitschuld der Medien
Michael sagte uns noch: «Wie wir während der Demonstration gesehen haben, gehen die Regierung und die Nationalist·inn·en Hand in Hand. Das ist vergleichbar mit der Situation in Ungarn, wo es eine rechtsextreme und eine faschistische Partei gibt. Die beiden Bewegungen versuchen, sich gegenseitig zu assimilieren, und haben eine Art Romanze. Natürlich gibt es Spannungen, weil die herrschende Partei nicht von rechts überholt werden will. Aber auf verschiedenen Ebenen sehen wir eine starke Präsenz der nationalistischen Agenda, was zum Beispiel physische wie auch rechtliche und politische Angriffe auf Minderheiten betrifft. Ich möchte hinzufügen, dass auch die staatlichen Medien nationalistische Propaganda verbreiten.» So hat die Partei von Kaczynskis Bruder, der ohne jedes Wahlmandat effektiv das Land führt, seit ihrem Amtsantritt stetig neue Bildungs-, Rechts- und Erinnerungspolitiken umgesetzt, die mit den nationalistischen Opfer-Ressentiments der polnischen Bevölkerung spielt. So sind Helden der Vergangenheit wie Ogin aus dem Boden geschossen. Ein anderer Student, Gola, erzählte uns: «Die Geschichte wird nur aus der Sicht der Nation, der Kriege, der Könige erzählt, Polen wird als Opfer der es umgebenden Kräfte des Bösen dargestellt. Es gibt einen sehr markanten Diskurs über Märtyrer fürs Vaterland.»
Anlässlich der Ermordung des Bürgermeisters von Danzig, Pawel Adamowicz, am 13. Januar 2019, wurde von einigen die Mitschuld der Medien3 an dieser zu Hass und Gewalt führenden nationalistischen Propaganda angeprangert. Adamowicz verkörperte den fortschrittlichen Widerstand und war insbesondere der Vorsitzende eines Bundes von Bürgermeister·inne·n jener Städte, in denen Flüchtende willkommen geheissen werden. Die Bürgermeister·innen dieser Gemeinden, zu denen auch die Hauptstadt Warschau gehört, hatten erklärt, dass sie sich in die Lehrpläne der Schulen einmischen wollten, um sich der nationalistischen Propaganda zu widersetzen und stattdessen die Ideale der Anerkennung und Toleranz gegenüber Minderheiten zu verbreiten. In unserem nächsten Artikel im Archipel kommenden Monats werden wir genauer betrachten, wie polnische Nationalisten und Nationalistinnen Schulen und Universitäten beschlagnahmt haben, um ihre Propaganda unters Volk zu bringen und ihr Gedankengut den jüngeren Generationen einzuträufeln. Wir werden auch sehen, wie sich der Widerstand der Studierenden formiert, um sich der Situation zu stellen und wie diese versuchen, sich Gehör zu verschaffen.
Max, Hannah, EBF Frankreich
- vgl. Artikel der gleichen Autore·inne·n im Archipel Nr. 278, 271
- Die «Föderation für die Republik» wird wahrscheinlich andere Parlamentarier·inne·n zusammenbringen, die früher Mitglieder von Kukiz’15 waren, aber auch Führungskräfte des ONR («Radikales Nationales Lager»), der Nationalbewegung (Ruch Narodowy) und der «Jugend ganz Polens» (M Bodzie| Wszechpolska).
- Nach dem Attentat organisierten PiS-Gegner·inne·n Demonstrationen vor dem Hauptsitz des größten polnischen Fernsehsenders, TVP. Vier Tage vor dem Mord strahlte TVP-Info um 20 Uhr eine Knetfiguren-Animation aus, in der die ehemalige Warschauer Bürgermeisterin (PO) Hanna Gronkiewicz-Waltz sich das vom Großen Wohlfahrts-Orchester gesammelte Geld in die Tasche steckte. Als er erstochen wurde, unterstützte Pawel Adamowicz gerade diese Stiftung. Im Sommer 2016 war der von der PiS zum TVP-Chef ernannte Jacek Kurski, ein 30-jähriger Verbündeter und mehrfacher Abgeordneter der polnischen Rechten, vom Nationalen Medienrat abberufen worden, hatte es aber geschafft, seinen Platz trotz sinkender Zuschauerzahlen, hoher finanzieller Verluste und Kritik an seiner Redaktionslinie zu halten. Jaroslaw Kaczynski, der allmächtige Präsident der PiS, war sofort eingeschritten, um ihn zu retten und die TV-Regulierungsbehörde setzte ihn sofort wieder ein. Mit diesem Schutz verspricht Jacek Kurski nun, jeden zu verfolgen, der TVP mit dem Mord an Pawel Adamowicz in Verbindung bringt.