Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Sie lesen hier gerade die dreihundertste Ausgabe des Archipels, vielleicht alleine in Ihrer Wohnung, vielleicht maskiert in der Strassenbahn oder auch im Wartezimmer Ihrer Hausärztin. Vielleicht haben Sie sich aber auch auf eine Parkbank oder eine Wiese am Fluss gesetzt, wenn es nicht zu kalt ist – viel-leicht.
Zur Zeit ist alles eher viel als leicht. Es ist viel, was wir auf uns nehmen müssen. Er ist nicht einfach, der Seiltanz auf dem Seil der Vernunft, der Spagat zwischen Wollen und Dürfen.
Wir, die doch immer schon zu zivilem Ungehorsam aufgefordert haben, uns gewehrt haben gegen jede Form der Unterdrückung; jetzt sollen wir, um der Gesundheit Willen, alle staatlichen Direktiven befolgen und unser soziales Leben auf ein Minimum reduzieren? Das ist hart und die Massnahmen bisweilen nicht nachvollziehbar bis unerträglich. Aber solange wir es nicht schaffen, diese Wirtschaftsordnung umzukrempeln, das Problem also an der Wurzel zu packen, wird uns nicht viel anderes übrig bleiben, als die nächsten Monate und vielleicht noch länger, sehr vorsichtig zu sein. Das heisst aber auch: Nicht einzustimmen in das Gebrüll derer, die meinen, sie müssten sich jetzt aufstemmen gegen «die Bösen da oben», gegen die «Lügnerinnen» und «Geldhinterzieher», gegen die «Wahlfälscher» und «Virusproduzentinnen». Denn aus diesem brüllenden Eck kommt Gefahr und Gewalt.
Im Editorial der ersten Archipelnummer, im Oktober 1993 schrieb Lucie Aubrac (1912-2007), Widerstandskämpferin und Autorin, über den Ungehorsam, den sie unter den Nazis und dem Vichy-Regime gelernt hatte. Der Widerstand gegen den Faschismus war für sie eine Pflicht. Es ging damals darum, Menschenleben zu retten.
Und heute? Auch heute müssen wir Widerstand leisten, Widerstand gegen Diskriminierung und Rassismus, gegen Gewalt an Frauen, Fremdenhass, Repression...
Wir können die unterstützen, die unter der momentanen Situation extrem leiden – Geflüchtete, Obdachlose, Kranke, Arbeitslose und alle, die von unserer kompetitiven, industrialisierten und fantasielosen Konsumgesellschaft ausgegrenzt werden.
Bitte, denkt an das, was Rosa Luxemburg im Dezember 1917 aus dem Breslauer Gefängnis am Ende einer ihrer zahlreichen Briefe an ihre Freundin Sonja Liebknecht geschrieben hat: „(…) So ist das Leben und so muss man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd – trotz alledem.“
Constanze Warta