Über einen Ort, der nicht blieb, aber dennoch weiterlebt – und die Klimabewegung umtreibt. «Lützerath bleibt!» – das war der Slogan, der in den letzten zwei Jahren zu einem Kristallisationspunkt der Klimagerechtigkeitsbewegung wurde. Doch Lützerath blieb nicht.
Die Bilder von Polizist·inn·en, die gegen Aktivist·inn·en Gewalt ausübten, Greta Thunberg von der Abbruchkante des Tagebaus Garzweiler II forttrugen und die Kohlebagger des Energiekonzerns RWE beschützten, gingen um die Welt. Als auch die letzte Bastion der Verteidigung – ein Tunnel unter dem kleinen Ort, in dem sich die beiden Aktivist·inn·en Pinky und Brain verschanzt hatten – fiel, besiegelte die Abrissbirne das Schicksal, das die Grünen-Politiker·innen Robert Habeck und Mona Neubaur bereits im Oktober mit RWE ausgehandelt hatten: Lützerath muss verschwinden, damit unter ihm die Braunkohle aus dem Boden gebaggert werden kann.
Vielerorts wurde danach der freie Fall der Klimabewegung beschworen. Gelähmt, gespalten, erfolg- und orientierungslos würde sie nach Lützerath auf den schlammigen Boden der Tatsachen fallen. (…)
Spricht man jedoch mit Mitgliedern der Klimabewegung wie den Aktiven von Fridays For Future, Ende Gelände[1], der Letzten Generation[2], den Scientists for Future[3] und der Initiative «Alle Dörfer Bleiben»[4], so ist der Abriss des Dorfes keine Niederlage, sondern ein Moment der Wiederbelebung. Bestes Beispiel für diesen Ermächtigungsmoment waren mehr als 35.000 Menschen, die aus ganz Deutschland zu einer Demonstration ins rheinische Kohlerevier angereist waren, um ein Zeichen für den Klimaschutz zu setzen. Diese Solidarisierung innerhalb der Bewegung sowie die Unterstützung von Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus kommentiert das Presseteam von Ende Gelände so: «Wir waren richtig viele. Vor allem waren wir viele, die zivil ungehorsam waren, die organisiert und unorganisiert durch Polizeiketten geflossen sind und die Polizei bis zu ihrem militärischen Festungsring um Lützerath zurückgedrängt haben. Die Menschen waren wütend und entschlossen, und wir haben gemerkt: Gemeinsam haben wir unglaubliche Kraft.»
Neue Solidarität
Und diese Kraft strahlt weiter: Zoe Ruge und Sumejja Dizdarević, Pressesprecher·innen der Letzten Generation und der Fridays for Future berichten von unzähligen neuen Aktiven, die seit der Räumung in ihren Gruppen mitarbeiten. Die Klimabewegung ist durch Lützerath nicht nur gewachsen, sie hat auch Solidarität neu gelernt: «Zu der Letzten Generation gab es vor der Räumung ein distanziertes Verhältnis von anderen Gruppierungen innerhalb der Bewegung, das sich aber durch ihre Mitarbeit im Bündnis Lützerath aufgeweicht hat: Als die Polizeieinheiten auf dem Weg waren, kurz davor Ende Gelände durch einen Bagger zu räumen, wurden sie von Aktivist·inn·en der Letzten Generation, die sich auf die Zufahrtsstrasse klebten, blockiert», berichtet Christopher Laumanns, Mitbegründer des Bündnisses «Alle Dörfer Bleiben», in dem sich Betroffene aller deutschen Braunkohlereviere zusammengeschlossen haben. Lützerath fungierte als Ort, an dem sich die Aktiven der verschiedenen Gruppierungen persönlich kennenlernten, Vorbehalte abgebaut wurden und man erkannte, dass sich unterschiedliche Taktiken nicht widersprechen müssen, sondern ergänzen können. Und so lebt auch Lützerath weiter – nicht als Ort, sondern als Lehre. Dieser Narrativwechsel vom Erhalt eines realen Dorfes zum Fortbestand einer kollektiven Ermächtigung hat sich in der Klimabewegung bereits seit einigen Monaten vollzogen: «Lützi lebt» löste «Lützi bleibt» ab.
Dass Lützerath weiterlebt, ist jedoch kein Automatismus: Es gilt, die neu gewonnene Stärke und die anfänglichen Solidarisierungserfahrungen auszubauen. Doch mit der Zerstörung eines realen Ortes der Zusammenkunft, der Vernetzung und des Austausches kann dieses Momentum schnell wieder verloren gehen. Denn Lützerath war, um es mit den Worten des Soziologen Erik Olin Wright auszudrücken, eine reale Utopie: Ein Ort, der mit der kapitalistischen Realität brach und es Menschen ermöglichte, alternative Gesellschaftsformen zu praktizieren.
«Das Zusammenleben in Lützerath war darauf fokussiert, nur das zu nehmen, was man braucht, und der Gruppe das zu geben, was man kann», schildert Dizdarević ihre Erfahrung. Für sie ging es dabei «nicht nur darum, den Privatbesitz abzuschaffen, sondern ohne die Einwirkung äusserer Zwänge, der wir im Kapitalismus ausgesetzt sind, auf sich selbst und seine Mitmenschen zu achten». Gleichzeitig konnte sich Lützerath nur zu einer antikapitalistischen Hochburg entwickeln, weil das Dorf aus Perspektive der Klimagerechtigkeit und der Industriepolitik zu einem relevanten Ort wurde. Hier ging es um Kohleabbau und Klimaschutz, um Enteignung und soziale Gerechtigkeit. Und: Hier wurde die jüngste Geschichte der deutschen Klimabewegung geschrieben: Vor zwölf Jahren habe die Gruppe ausgeco2hlt5 den Grundstein mit den ersten Klimacamps im Rheinland gelegt, Ende Gelände habe hier 2015 die erste Aktion zivilen Ungehorsams gestartet, berichtet Laumanns. Unweit des Hambacher Forstes wurde das Dorf nach dem Sieg der Bewegung, die den Erhalt des Waldes sicherte, zum nächsten Kristallisationspunkt im Kampf gegen die Konzerninteressen fossiler Energiekonzerne.
Die Kombination aus einer Dekade Organisierung, Klimagerechtigkeit und dem Schutz von Anwohnenden kam in Lützerath auf einzigartige Weise zusammen. Einen neuen Ort mit gleicher Strahlkraft zu finden, könnte schwierig werden. Doch die Klimabewegung scheint nach keinem neuen Ort zu suchen: «In Lützerath ging es darum, den Braunkohletagebau und insbesondere Garzweiler II anzugreifen. Damit machen wir weiter, bis der letzte Kohlebagger stillsteht», heisst es etwa von Ende Gelände. Auch stünden, um die Kohle unter Lützerath endgültig abbaggern zu können, weitere Enteignungen von Landeigentümern und der Abriss von sieben Windrädern an, berichtet Laumanns. «Die Grünen haben jedoch versprochen, dass es keine weiteren Enteignungen gibt und stehen anderswo für den Ausbau der Erneuerbaren ein – dies gilt es jetzt auch durchzusetzen», so der «Alle Dörfer Bleiben»-Aktivist. Fridays for Future möchte, dass die Regierung Pläne der Massnahmen vorlegt, die getroffen werden sollen, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, sollte die Kohle unter Lützerath abgebaggert und verfeuert werden. Und sie fordern ein Braunkohlemoratorium, das vor dem Kohleausstieg 2030 kommen soll. Erneuerbare Energien sollen schnellstmöglich ausgebaut werden, um die hochgehaltene Energiesicherheit zu gewährleisten. (…)
Der grüne Lack ist ab
Hier wird jedoch die zweite Herausforderung deutlich, der sich die Klimabewegung nach Lützerath stellen muss: die demokratische Repräsentation. Einerseits berichten alle Gruppierungen von dem Erfolg, in Lützerath die Grünen «demaskiert zu haben» (Zoe Ruge, Letzte Generation), (…) «die neoliberale Fratze der Grünen» für alle sichtbar gemacht zu haben (Sumejja Dizdarević, Fridays for Future) oder den «grünen Lack von Habeck und Co abgekratzt» (Ende Gelände-Presseteam) zu haben. Gleichzeitig verstehen sich alle Gruppierungen als demokratische Akteurinnen und Akteure – die meisten richten ihren Forderungen direkt an die Regierenden und wollen diese in die Pflicht nehmen. Ohne eine Partei, die die Forderungen der Bewegung aufnimmt und in Gesetzestexte umsetzt, kann die Bewegung zwar auf der Strasse wachsen, wird auf politischer Ebene jedoch wenige Erfolge erzielen.
Lützerath habe, so der Tenor aus der Bewegung, auch den letzten Grünen-Anhänger·inne·n gezeigt, dass die sich selbst als «bewegungsnah» bezeichnende Klimaschutzpartei diese Rolle nicht erfüllen wird: «Die Grünen sind eine neoliberale Partei, die fossile Standort- und Energiepolitik unterstützt», resümiert Ende Gelände[3]. Aber auch die Linkspartei habe bisher in Regierungsverantwortung auf Landesebene wie etwa in Brandenburg eher als Bremsklotz in Kohleausstiegsverhandlungen agiert, berichtet Pao-Yu Oei. Er ist Initiator des Offenen Briefes «Ein Moratorium für die Räumung von Lützerath» der Scientists for Future. «Immer wieder wird Klimaschutz gegen die Interessen von Arbeitnehmenden ausgespielt, anstatt darauf hinzuweisen, dass eine sozialgerechte Energiewende Arbeitsplätze und ökologische Lebensgrundlagen retten kann», so Oei. Trotzdem, so ist sich Laumanns sicher, «hat Lützerath dazu beigetragen, dass der Platz links der Grünen grösser geworden ist». Diesen gilt es nun zu besetzen, damit Gewalterfahrung und Wut, die auch bürgerliche Menschen aus Lützerath mitgenommen haben, nicht in Frustration und politische Verdrossenheit umschlagen. (…)
Tatjana Söding, 21. Februar 2023*
*Tatjana Söding forscht mit dem Zetkin Collective über die Zusammenhänge zwischen Ökofaschismus und Kapitalismus und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv. Sie schreibt u. a. für die TAZ, ak – analyse und kritik sowie die Berliner Gazette. Die vollständige Version dieses Artikels ist in ak 690 erschienen.
Ende Gelände ist ein breiter Zusammenschluss von Menschen aus den Anti-Atom- und Anti-Kohle-Bewegungen.
Die Letzte Generation ist ein Bündnis von Aktivist·inn·en aus der Umweltschutzbewegung in Deutschland und Österreich.
Scientists for Future ist ein unabhängiges und überparteiliches Kollektiv von Wissenschaftlern, Forschern und Akademikern, das die globale Klimabewegung unterstützt.
Alle Dörfer Bleiben ist ein deutschlandweites Bündnis, das gegen Zwangsumsiedlung und Klimazerstörung kämpft.
Die Gruppe ausgeco2hlt ist Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung und setzt sich für den sofortigen Kohleausstieg ein. Der Fokus ihrer Aktivitäten liegt im rheinischen Kohlerevier.