ERNÄHRUNGSSOUVERÄNITÄT: Ein gutes Leben für alle1

von Heike Schiebeck, Longo maï, Via Campesina Österreich, 31.12.2016, Veröffentlicht in Archipel 254

Auf dem Nyéleni Forum2 Ende Oktober 2016 in Rumänien haben sich europäische und zentralasiatische Aktivist_innen kennengelernt, ihre Organisationen vernetzt und Pläne für die Zukunft geschmiedet.

Wir fahren bei Oradea über die ungarisch-rumänische Grenze Richtung Cluj-Napoca. Die vielen Fahrverbotsschilder für Pferdewagen, Traktoren und Fahrräder auf der E 60 fallen auf. Grosse Schafherden mit mehr als 1‘000 Tieren ziehen über die Berghänge: Wir sind in Rumänien angekommen, doch die Idylle trügt.
Von Österreich sind vierzig, vor allem junge Leute, aufgebrochen, um vom 26. bis 30. Oktober am zweiten europäischen Nyéleni Forum teilzunehmen. Vor fünf Jahren hatten wir beim ersten Forum in Krems unser gemeinsames Verständnis von Ernährungssouveränität erarbeitet. Nun wollen wir Aktionen und Kampagnen besprechen, um die Ausbreitung der industriellen Lebensmittelproduktion mit ihren zerstörerischen Auswirkungen zu beenden und der bäuerlichen Landwirtschaft eine gerechte und nachhaltige Zukunft zu schaffen.
Mit diesem zweiten europaweiten Forum macht die Bewegung für Ernährungssouveränität einen grossen Schritt vorwärts. 500 Teilnehmer_innen aus mehr als 40 Ländern, von Norwegen über Portugal, die Türkei bis in die Mongolei, sind gekommen: Bauern und Bäuerinnen, Landar-beiter_innen, Gewerkschaf-ter_innen, Forschende, Fischer_in-nen, Hirten und Hirtinnen, Indigene, Verbraucher_innen und Menschenrechts_Aktivist_innen. Die Delegationen sind nach Länder-, Gender-, Alters- und Sektorenquoten zusammengesetzt. Wir diskutieren fünf Tage lang, wie wir unser Lebensmittel- und Agrarsystem im Sinne der Ernährungssouveränität verändern wollen. Ein Erfolg des Forums ist die Vernetzung osteuropäischer und zentralasiatischer Organisationen mit den westeuropäischen. Nicht zufällig wurde Rumänien gewählt. Drei kleine Höfe verschwinden hier jede Stunde. Die meisten Kleinbäuer_innen in der EU leben in Osteuropa. Die Auswirkungen der industrialisierten Landwirtschaft treffen die Bauern und Bäuerinnen hier besonders hart. Investoren haben in kurzer Zeit bereits zehntausende Hektar fruchtbares Land aufgekauft, um darauf etwa «Transsilvanian beef» für den Export zu produzieren. Die Bodenpreise steigen!3 Ramona Duminicioiu von Eco Ruralis, der rumänischen Gastgeberin: «Die meisten osteuropäischen Länder ähneln Rumänien: Sie haben eine grosse, lebendige, aber auch sehr verletzliche bäuerliche Bevölkerung, die beispielsweise durch Landraub des globalen Kapitals bedroht wird. In dieser Woche haben wir uns für den gemeinsamen Kampf in Osteuropa organisiert und die Zusammenarbeit mit der Bewegung in Westeuropa verbessert.»
Ökologie und soziale Gerechtigkeit
Beim Treffen in Cluj-Napoca wurden positive, vielfältige Alternativen für ein ökologisch und sozial gerechtes Ernährungs- und Agrarsystem im Sinne von Ernährungssouveränität und Agrarökologie4 entworfen. Der nachhaltige Umgang mit Boden, Wasser, Biodiversität und Nutztieren, sowie das Arbeiten in Kreisläufen sind Grundpfeiler dieses ganzheitlichen Konzeptes. Eine europaweite Lern- und Austauschplattform entsteht. Agrarökologie als zukunftsfähige Bewirtschaftungsweise trägt ausserdem zum Kampf gegen den Klimawandel bei.
«Millionen von Verbraucherinnen und Verbrauchern in ganz Europa unterstützen alternative Landwirtschaftsmodelle: Sie fordern eine Änderung der öffentlichen Politik. Diese soll bäuerliche agrarökologische Initiativen unterstützen, anstatt destruktive, rein kommerzielle Modelle zu fördern. Konsumentinnen und Konsumenten aus zahlreichen Organisationen und Ländern haben sich auf dem Forum kennengelernt und innerhalb der Bewegung für Ernährungssouveränität organisiert», so Jocelyn Parot, Generalsekretär von Urgenci, dem internationalen Netzwerk für solidarische Landwirtschaft.
Das Forum hat eine Reihe von Aktionen gewählt, um der Ausbeutung durch das industrielle Nahrungsmittelsystem entgegenzutreten: gleiche Rechte für Land-arbeiter_innen – insbesondere migrantische Erntehelfer_innen – durchsetzen; Politiken vorantreiben, die Gemeingüter (Land, Wasser, Saatgut) zurück in die Hände der lokalen Bevölkerung geben, statt sie den Grosskonzernen zu überlassen; Verteilungssysteme errichten, die lokal und nachhaltig produziertes Essen fördern; auf einen verbindlichen UN-Vertrag drängen, der Agrobusiness und Menschenrechte regelt5; eine umfassende Bewegung initiieren, die marginalisierte Menschen vertritt, um nur ein paar Themen zu nennen.
Selbstorganisation
Einige europaweite Arbeitsgruppen haben das Nyéleni-Europe-Forum während 18 Monaten vorbereitet: Finanzen, Logistik, Methodik. In einem vorgegebenen Rahmen ist es basisdemokratisch und möglichst hierarchiefrei organisiert. Wir wollen die Ergebnisse erarbeiten und nicht einfach schlucken, was ein Vorstand beschliesst. Selbstermächtigung lautet das Ziel. Die Delegierten teilen sich in thematische Gruppen auf (Produktion, Verteilung, Gemeingüter, Migration und Soziales), woraus sich wiederum Kleingruppen von 15 bis 20 Personen bilden. So können Viele das Wort ergreifen, ihre Erfahrungen und Ideen für Aktionen einbringen. Im Plenum wird jedesmal versucht, die Ergebnisse zusammenzutragen. Diesen Prozess haben wir mehrmals mit verschiedenen Themen durchlaufen. Er ermöglichte ein weites Kennenlernen und Zusammenfinden von Leuten, die Ähnliches tun, ist aber auch eine Herausforderung. Einmal verlässt ein Trupp von 20 landsuchenden Jungen frohen Schrittes das Plenarzelt, um sich als «farmers to be» zusammenzusetzen. Wir üben uns in Selbstorganisation und Geduld. Einen Überblick zu wahren, ist nicht möglich, vielleicht auch gar nicht erforderlich. Ein grosses Team von ehrenamtlichen Dolmetscher_in-nen sorgt dafür, dass möglichst Viele in ihrer Muttersprache sprechen können.
Eher ungewöhnlich für ein Forum über Ernährungspolitik, stellte die türkische Delegation die Auswirkungen von Krieg und Flucht zur Diskussion. Dazu Ali Bulent Erdem von Çiftçi-Sen, dem Kleinbäuer_innenverband der Türkei: «Der Krieg zwingt die Menschen, ihre Länder, ihre Häuser und ihre Existenz zurückzulassen. Die Flüchtlingskrise in der Türkei und Europa ist eine Folge des Krieges. Wir setzen uns für den Frieden ein, verteidigen die Rechte der Geflüchteten und empfangen sie in unseren Ländern. Auch das ist Teil des globalen Kampfes für Ernährungssouveränität: Ein gutes Leben für alle.»

  1. Das indigene, südamerikanische Konzept des «guten Lebens“ – el buen vivir – beinhaltet den Respekt der Tiere, Pflanzen und Umwelt, die Verminderung sozialer Ungleichheit, solidarisches Wirtschaften und pluralistische Demokratie mit neuen Räumen zivilgesellschaftlicher Partizipation. In Bolivien und Ecuador hat «buen vivir“ Verfassungsrang.
  2. Nyeleni ist der Name einer legendären malischen Bäuerin, die eine zentrale Figur für die Ernährungssouveränität ihrer Region und Gemeinschaft darstellte.
  3. Siehe auch: Kennt ein rumänischer Bauer seine Nachbarn noch? Von Attila Szocs, Archipel Nr. 235, 3/2015).
  4. What is agroecology? http://www.eurovia.org/main-issue/agroecology-environment/ and http://www.foodsovereignty.org/forum-agroecology-nyeleni-2015/
  5. http://nyelenieurope.net/news/european-states-must-negotiate-actively-and-constructively-HYPERLINK «http://nyelenieurope.net/news/european-states-must-negotiate-actively-and-constructively-towards-bindingtreaty»towards-bindingtreaty

Mehr Informationen zu Ernährungssouveränität und Nyéléni auf www.nyelenieurope.net,