Der bosnische Dichter Stevan Tontic schrieb vor genau zehn Jahren einen Text für Archipel, in dem er auf seine Art die Verträge von Dayton kommentierte und den wir hier auszugsweise als Ergänzung zum vor-hergehenden Artikel nochmals abdrucken.
In dem großen Wälzer der Dayton-Abkommen hat eine eigenartige, beim ersten Überfliegen des Textes unbedeutend erscheinende Stelle meine Aufmerksamkeit erweckt. Im Zusammenhang mit den „Demarkationslinien“ zwischen den neuen Teilstaaten wird im Absatz 3 von den Flüssen gesprochen. Die überraschende Frische dieses Wortes - Fluss - hob sich merkwürdig von der Trokkenheit der abstrakten juristischen und politischen Sprache des Textes ab. Es entsprang unverhofft eine frische Quelle in der Wüste: eine lexikalische Erfrischung. Mitten in diesem Sammelsurium juristischer und politischer Begriffe, die alle einer denaturierten, vom Krieg geprägten Realität entstammen - der selber alles andere als natürlich ist - kam plötzlich eine allseits wohlbekannte Sache zum Vorschein: die Natur.
Dieses Wort allein hat mich in Freude versetzt, hat unerwartet Erinnerungen an die Flüsse meiner Kindheit geweckt, gab mir über den Umweg eines Satzes eine Oase, in der ich Luft schnappen konnte, bevor ich mich zur nächsten Etappe in dieser mühsamen, ekelerregenden Lektüre aufmachte.
Jeder Bosnier kennt die Wasserläufe seines Geburtslandes: Bald sind sie schnell und springend, bald schlängeln sie sich träge und sehnsüchtig durch die Landschaft, oft rein und klar oder schon lange verschmutzt.
Aber niemand versteht den Ausdruck „implementation“, der im Abkommen gebraucht wird, jedoch nirgends übersetzt ist. Wahrscheinlich befürchtete man Sprachverwirrungen - das Babel-Syndrom: Heißt es etwa Anwendung? Durchführung? Vollstrekkung?
Was soll man beispiels-weise von dem Wort „Ombudsmann“ halten, bei dem wir uns in unserer Sprache die Zunge brechen? Wie hätten wir uns früher vorstellen können, als Frieden herrschte, und wir in den Flüssen unserer Kindheit badeten, ins Wasser sprangen, das sogar im Sommer eiskalt ist, dass eines Tages von weit her gekommene „Ombudsleute“ Recht sprechen und uns voreinander beschützen werden, obwohl wir doch eine für alle verständliche Sprache sprechen, unsere gemeinsame Sprache? Oder ist das nicht mehr der Fall? Man schafft sprachliche Abgründe zwischen den ethnischen Gemeinschaften, zwischen „Teilstaaten“, man arbeitet an immer klareren Trennungen, indem man nationalitäre Stigmen prägt, wo früher nur sprachliche Varianten mit beweglichen Grenzen waren.
„Meine Sprache“ ist das erste, unumgängliche Postulat der Selbstbestimmung, die erste Voraussetzung für jene Suffisance, für die die alte „gemeinsame“ Sprache immer ein unüberwindbares Hindernis gewesen zu sein scheint.
Früher teilten weder Wildbäche, Ströme noch Flüsse unsere Berge, unsere Täler und unsere Ebenen, wie es die Staatsgrenzen heute tun. Doch die zeitgenössische Geschichte erinnerte sich plötzlich dieser Wasserläufe, die sich ihrer geistigen Beschränktheit unschuldig anboten, um sie unverzüglich in „natürliche Grenzen“ umzuwandeln, auf die die neuen Staaten - oder besser gesagt die neuen halbstaatlichen „Entitäten“ - sehr erpicht sind. Je breiter und tiefer die Flussbetten sind, desto mehr werden die Grenzen als selbstverständlich angesehen, als ewige und unwandelbare, ja göttliche Gegebenheiten.
Hier der Absatz über die Flüsse:
„1 - Dort, wo die Demarkationslinie zwischen den Teilstaaten dem Fluss folgt, wird sie den natürlichen Veränderungen (Wasserspiegelerhöhungen, Erosion der Böschungen) des Flusslaufes folgen, außer wenn anders entschieden wird. Künstliche Veränderungen des Flusslaufes haben keinen Einfluss auf den Verlauf der Demarkationslinie, außer wenn anders entschieden wird.
2 - Im Falle einer unvorhergesehenen Änderung des Flusslaufes wird die Linie in gegenseitigem Einvernehmen beider Seiten bestimmt. Käme es zu einem solchen Fall während der Anwesenheit der IFOR, untersteht jeder Beschluss der Einwilligung des IFOR-Kommandanten.“ (Zitiert nach „Oslobodjenie“, europäische Ausgabe vom 7. bis 14.12.95)
An dieser Stelle halten sich die Absurdität des Definitiven und die groteske Anmaßung, Unvorhersehbares festzulegen und aufzuteilen, die Waage - Unvorhersehbares, das am Grunde dieser Flüsse mit den Steinen wandert... (...) Man akzeptiert einerseits die vorhersehbaren Veränderungen der Wasser-Grenz-Verläufe, weigert sich aber, die gezwungen-ermaßen unvorhersehbaren Unfälle und die künstlichen Eingriffe, die sie verändern, anzuerkennen, außer, wenn es von den betroffenen „Seiten“ in gegenseitigem Einvernehmen anders beschlossen wird - dasselbe gegenseitige Einvernehmen, dessen tragisches Hinscheiden Ursache des Krieges... und der Bildung eben der verschiedenen „Seiten“ war.
Aber der IFOR-Kommandant ist ja da, der das letzte Wort haben wird. Hier steht es schwarz auf weiß, das Recht des Stärkeren...
Aber ich wünsche mir auch nicht, in der Haut des IFOR-Kommandanten zu stecken. Man stelle sich nur vor, eine der Seiten leitet über Nacht den Bach hinter irgendeinen Hügel um und erklärt am nächsten Morgen, er sei nun in sein einstiges und einzig legitimes Bett zurückgekehrt. Wer wird hier ohne prähistorische Landkarten urteilen können?
Ärgerliches Detail: All diese bosnischen Flüsse sind ungestüm, schlagen immer wieder Breschen in ihre Böschungen und, was das ganze noch schlimmer macht, ganz willkürlich gefährliche, unerwartete Richtungen ein. Es ist nicht ganz unmöglich, die undisziplinierten Wasserläufe zu berichtigen, dank fanatischer Lokalpatrioten oder einfach verzweifelter Menschen, deren Dorf sich unglücklicherweise auf der „anderen Seite“ - auf feindlichem Gebiet - befinden würde. In den Tälern, die von solch „irrationalen“ Flüssen durchquert werden, fällt ganz Dayton ins Wasser. Das wilde Gebirgswasser des Frühlings schert sich nicht um den in Dayton erstellten Kodex von politisch korrektem, das heißt konstruktivem Verhalten. Was soll im Falle eines Hochwassers der Sawa in dem engen Korridor von Brcko und Orasje geschehen, wenn die empfindlichen Grenzen - nicht nur zwischen den Teil-, sondern auch den international anerkannten Staaten - völlig überschwemmt, also aufgehoben werden? Tudjman würde das wahrscheinlich nicht besonders stören, die Serben brächen in Panik aus und die Bosnier würden nach einer internationalen Intervention schreien. Die Amerikaner besitzen aber meiner Kenntnis nach kein Wundermittel gegen Überschwemmungen - mir sind noch die Bilder von der Sintflut im Mississippital in Erinnerung. Die einzige Lösung bestünde also in geduldigen Verhandlungen und Warten darauf, dass die Wasser der Sawa endlich in ihr wissenschaftlich kartographiertes und international anerkanntes Bett zurückzukehren geruhen... Den Dayton-Verträgen zu Folge sind alle Referenzkarten für Demarkationsfragen amerikanisch.
Und sie haben an die unzähmbaren bosnischen Flüsse gedacht. (...) Die amerikanischen Satelliten haben sicher schon seit langem die Veränderungen der kapriziösen Wasserläufe Bosniens aufgezeichnet.
Aber viel mehr beängstigen mich die Ströme des Hasses und der Beschränktheit, deren Quellen in den Herzen und Lenden meiner Mitbürger entspringen, ermutigt von „traditionellen Freunden“ und „Beschützern von draußen“. Ich fürchte sehr, dass noch viel Wasser die Una, die Drina und die Neresja hinabfließen wird, bevor sich diese anderen Ströme beruhigen und in „rationale“ Betten zurückkehren werden. Am besten wäre, sie würden völlig verschwinden, tief unter die Erde, wie unterirdische Flüsse, die oft große Schäden und wahre nationale Katastrophen anrichten, wenn sie plötzlich wieder an die Oberfläche treten. (...)
Wir wollen sehen, ob die amerikanischen Streitkräfte etwas Gutes und Dauerhaftes zustande bringen. Wie auch immer - selbst mit dem besten Willen der Welt gibt es kaum Anlass zu Optimismus, was die unwahrscheinlichen Windungen betrifft, deren Quelle in den harten Schädeln meiner Mitbürger entspringen. Der einzige Trost: Seit Dayton bringt man sich in Bosnien nicht mehr gegenseitig um.
Stevan Tontic