Und wenn es im Kampf gegen die Ungleichheit von Männern und Frauen nicht um die Umverteilung von Ressourcen ginge, sondern um die direkte Infragestellung der gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen von Männlichkeit und Weiblichkeit?* 2. Teil
Sein und Haben
Nichtsdestotrotz birgt der Begriff der Privilegien die gleichen Hindernisse wie jener der Gleichstellung von Männern und Frauen: Beide beruhen auf der Vorstellung, dass es (materielle, symbolische, emotionale etc.) Ressourcen gibt, die besser verteilt werden könnten. Anders gesagt, dass auch ausserhalb der jeweiligen Herrschaftsverhältnisse eine Gruppe „Männer“ und eine Gruppe „Frauen“ („Weisse“ und „People of Color“, „Bürgertum“ und „Proletariat“ etc.) existieren könnten, die als Gleichgestellte hätten leben können – es also auch weiterhin könnten –, die aber durch einen kontingenten und unglücklichen soziohistorischen Prozess ungleich wurden. Von Privilegien zu sprechen, beinhaltet, das Subjekt – sei es das herrschende oder das unterdrückte – als der Herrschaftsausübung vorausgehend zu begreifen, davon auszugehen, dass ein männliches Individuum bereits vor der Abwertung von Frauen existieren könnte.(1) Dass es also Männer gibt und dass diese, unabhängig davon, Privilegien geniessen. Die Darstellung der Geschlechterdifferenz als naturgegeben ist womöglich derart wirkungsmächtig, dass sie es schwierig macht, das Problem sofort zu erkennen. Auf das rassistische System übertragen erscheint es klarer: Die Idee, dass Menschen Privilegien nur besitzen aber nicht verkörpern können, lässt eine autonome Existenz einer weissen Gruppe und rassisierter Gruppen durchklingen, die nicht nur das Produkt von Fremdschreibungs- und Rassisierungsprozessen wären, sondern diesen vorausgingen und unabhängig voneinander und unabhängig vom Rassismus weiterexistieren könnten. Dass das unterdrückte Subjekt letztlich nicht das Produkt eines Herrschaftsprozesses (entsprechend von Klasse, Rassisierung oder Geschlecht) wäre, sondern dass die Differenz auch ausserhalb der Geschichte seiner Abwertung und Ausbeutung in seinem Wesen festgeschrieben wäre.
Davon zu reden, was wir haben, statt davon, was wir sind, verhindert also die Infragestellung der Kategorien an sich. Aber wie sollen wir uns Männer ohne Privilegien vorstellen? Wie könnte es Männer geben ohne Männlichkeit und Vaterschaft, ohne die Wertschätzung von Macht und Stärke, ohne physische Gewalt, Heterosexualität und Familienheim? Was würde Männer ausmachen, wenn sie nicht stärker, grösser, intelligenter, unabhängiger, erfinderischer, egoistischer, weniger zart, weniger kokett, weniger gute Köche, arbeitsmarktfähiger, verantwortlicher, besser bezahlt, tau glicher für Befehlsgewalt und Kampfeinsatz sein sollten als Frauen? Jene, die keine „wahren Männer“ sind, stellen in gewisser Weise die lebendige Grenze ihrer Klasse dar: Obwohl sie für Praktiken bestraft werden, die als unangemessen für ihr Geschlecht gelten, befinden sie sich nicht ausserhalb der Geschlechterkriterien, sondern nehmen, gegen ihren Willen, an deren Strukturierung teil. In Wirklichkeit bleibt von der Männlichkeit nichts, wenn wir beiseite lassen, was sie uns abspricht und nimmt, wo sie uns ausschliesst und wozu sie uns zwingt. Unter Männlichkeit verstehe ich keine „männliche Natur“ – was Männer von Natur aus und für alle Zeit wären – und auch keine „Virilität“ – die herrschaftliche und gewalttätige Form dessen, was ein Mann sein sollte –, sondern vielmehr die Gesamtheit der Grundsätze, Werte, Praktiken, Vorstellungen, Arten zu sein, zu denken, sich zu bewegen und zu tun, die Männern zugeschrieben werden. Freilich kann diese Männlichkeit vielfältige Formen annehmen. Sie ist immer durch andere Dimensionen der sozialen Position des Einzelnen vermittelt. Nicht jede Art, ein Mann zu sein, wird wertgeschätzt, aber selbst die Formen, die gesellschaftlich sanktioniert werden, wirken insofern an der Asymmetrie des patriarchalen Systems mit, als sie markieren, was ihnen gehören sollte und nicht wirklich unseres sein könnte. Jene, die keine „wahren Männer“ sind, stellen in gewisser Weise die lebendige Grenze ihrer Klasse dar: Obwohl sie für Praktiken bestraft werden, die als unangemessen für ihr Geschlecht gelten, befinden sie sich nicht ausserhalb der Geschlechterkriterien, sondern nehmen, gegen ihren Willen, an deren Strukturierung teil.
Männlichkeit abschaffen, bedeutet keinesfalls, dass Frauen sich keine als männlich bewerteten Züge aneignen sollten, ganz im Gegenteil, es bedeutet die Etiketten zu verbrennen. Wir können uns nicht mit einer blossen Reform zufriedengeben. Männer können durchaus Sensibilität entwickeln, doch solange diese als „weiblich“ gilt, hat sie keinen Wert. Sie wäre zugleich das Merkmal und die Rechtfertigung einer Herabsetzung der sensiblen Frauen, die also dem entsprechen, was von ihnen behauptet wird, der unsensiblen Frauen, denen etwas fehlt, und der sensiblen Männer, die ihre Klassen durch ihre Verweiblichung beschmutzen. Alternative und subversive Geschlechterverhaltensweisen sind emanzipatorische politische Praktiken und sicherlich eine der Möglichkeiten auf die Abschaffung der Geschlechtergruppen hinzuwirken. Doch Letztere muss dabei immer das Ziel sein: Das Ende eines kohärenten Geschlechtersystems, das durch die Hierarchisierung von Eigenschaften eine Hierarchie der Menschen definiert. Wenn wir einen fundamental konstruktivistischen Geschlechteransatz wählen(2), müssen wir die Ziele unseres feministischen Kampfes höher stecken. Da es nicht mehr um gerecht aufteilbare Ressourcen geht, sondern um die Existenz von Gruppen an sich, die durch ihren ungleichen Zugang zu diesen Ressourcen charakterisiert werden, müssen wir uns der Kategorien annehmen und des Prinzips, das sie hervorbringt. Ebensowenig wie man das politische Projekt einer „Gleichstellung von Bürgertum und Proletariat“ verteidigen könnte, kann ich mir als Person of Color wohl kaum wünschen gleichgestellt mit Weissen zu sein: Ich will das Unterscheidungsprinzip zerstört wissen, das uns trennt und mich herabsetzt. Ich will, dass Rasse-Kategorien ihren Sinn und ihre Realität verlieren, dass sie nichts mehr über jene Menschen aussagen, die sie angeblich fassen, definieren und einschliessen: Weder darüber, was sie sind oder sein sollen, noch über die materiellen Bedingungen ihrer Existenz oder über ihre sozialen und persönlichen Erfahrungen. Was kann ich mir als Feministin also anderes wünschen als die Aussicht auf eine Welt ohne Männer? Denn solange es Männer gibt, wird es Frauen geben: tote, ausgebeutete und gedemütigte.
Die Unmöglichkeit individueller Dekonstruktion
Ein weiteres Problem sind die aktivistischen Praktiken, die der Begriff Privileg bestärkt. Sich bewusst zu werden, einer herrschenden Gruppe anzugehören, also Privilegien zu haben, wird heutzutage oft als notwendiger Schritt zum aktivistischen – vor allem feministischen und antirassistischen – Engagement angesehen. Da Privilegien meist unbewusst sind – nicht erkannte Vorteile, in deren Genuss normale Leute kommen, ohne die geringste Ahnung, dass diese Vorteile unverdient sind und anderen vorenthalten werden. Dies sichtbar zu machen hilft in der Tat dabei, die Neutralität der herrschenden Gruppe als nicht naturgegeben zu entlarven und klarzustellen, dass Diskriminierte nur existieren, wenn anderen daraus ein Vorteil entsteht.
Aber nach diesem ersten Schritt neigen wir oft dazu, einen weiteren zu tun: Wir leiden unter der unverdienten Position, wollen die unberechtigten Privilegien zurückgeben und sind überzeugt, dass wir, wenn wir uns nur stark genug anstrengen, unsere Zugehörigkeit zur herrschenden Gruppe dekonstruieren können. (3) Allerdings haben wir bereits gesehen, dass Herrschaft keine Frage von Privilegien ist, die wir loswerden könnten, sondern eine Machtposition, die in unser Sein bis in den Leib eingeschrieben ist. Selbst mit allem guten Willen der Welt können wir diese Macht nicht aufgeben. Herrschende sind ebenso gefangen wie Unterdrückte: Ebenso wie wir dem Frausein nicht entkommen können – das heisst, eine Rolle zugewiesen zu bekommen und auf bestimmte materielle Existenzbedingungen reduziert zu werden, mit denen wir nur ringen können (4) –, kann ein Mann seine Privilegien nicht aufgeben, solange er weiterhin Mann bleibt. Inwiefern Privilegien unsere soziale Position festlegen und somit die Gesamtheit der alltäglichen Interaktionen, Lebensläufe und Vermögen, auf die wir Anspruch erheben dürfen, sowie die uns zugeschriebenen Eigenschaften, hängt tatsächlich sehr wenig vom individuellen Willen ab. Es existiert keine geschützte Insel im patriarchalen Ozean – keine Paarbeziehung, kein tiefstes Inneres – die undurchlässig wäre für die soziale Welt und nicht bis in die verborgensten Ecken durch die geschlechtliche Zuschreibung geprägt wäre. Auch Empörung, Scham und Abscheu können daran nichts ändern: Das Streben nach individueller moralischer Erlösung ist zum Scheitern verurteilt. Ich würde sogar behaupten, dass es von Ichbezogenheit zeugt – vielleicht ein neues Privileg für die Liste.
Für eine Theorie des Geschlechts und seiner Abschaffung
Männer und Frauen – und wenn ich „Männer“ sage, wenn ich „Frauen“ sage, dann spreche ich von alldem, was diese Worte transportieren, von den schleifenverzierten Kleidern bis zum Familienoberhaupt, vom Mutterinstinkt bis zum Moschusgeruch – sind keine angeborenen oder notwendigen Kategorien. Es sind aber auch keine fiktiven Kategorien, die man mit blosser persönlicher Willenskraft verschwinden lassen könnte. Männlichkeit und Weiblichkeit sind zwar nur Konstruktionen, aber ihre soziale Realität ist mächtig und zäh: „Es existiert nicht. Trotzdem produziert es Tote.“(5) Wollen wir über das sinnlose Ziel einer Gleichstellung von Männern und Frauen hinausgehen, müssen wir die materielle Geschlechterrealität, die definitiv und brutal binär ist, ernst nehmen und erkennen, wie stark ihr Einfluss auf die einzelnen Menschen ist, die sie differenziert und hierarchisiert. Wir müssen verstehen, dass es nicht um ein Verteilungsprinzip von Ressourcen und Privilegien geht, sondern um ein Prinzip, das Unterscheidbarkeit von Menschen produziert. Genau deshalb kann Feminismus weder auf eine öffentliche Politik der Gleichstellung noch auf einen Ansatz persönlicher Dekonstruktion reduziert werden, denn es geht letztlich darum, unsere Existenzmöglichkeiten kollektiv zu verändern.
Somit kann das Ende des Patriarchats nicht ohne die Abschaffung der Männer – und also der Frauen – gedacht werden. Das sind wahnsinnige Ambitionen, geht es dabei doch um die systematische Zerstörung der sozialen Unterschiede, die Geschlecht ausmachen: Die materielle Ungleichheit in Bezug auf Rechte und Ressourcen, die Frauen unmündig und abhängig machen; die zugewiesenen und verpflichtenden Rollen; die körperlichen Merkmale, die Frauen gefangen halten und klein machen; die geistigen Merkmale, die sie produktiv und versöhnlich machen. Die Beziehung zu Macht und Gewalt, zu anderen und deren Unversehrtheit, die Tote, Geschlagene und Vergewaltigte, Mörder, Schläger und Vergewaltiger hervorbringt. Die Bilder, Worte, Selbstverständlichkeiten und alles, was Männer zu Männern und Frauen zu anderen macht. Feminismus kann sich nicht mit einvernehmlichen Schlagwörtern zufriedengeben; Kulturen werden nicht im Einvernehmen zu Fall gebracht. Immerhin haben wir es auf die Erziehung, die Künste, den Markt, die Sprache, die politischen und sozialen Institutionen, die Familie, das Recht, die Liebe und das ganze alltägliche Leben abgesehen.
Mélusine
*Der Originaltitel des Artikels lautet „Horizons sans les hommes“. Ersterscheinung in Panthère Première Nr. 2, Frühjahr 2018 (https://pantherepremiere.org/numero/numero-2-printemps-2018/) Grossen Dank an Kathrin und Sascha für die Übersetzung ins Deutsche!
- Maxime Cervulle, La conscience dominante. Rapports sociaux de race et subjectivation, Cahiers du Genre, vol. 53, 2012, S. 37-54.
- Also keine naturgegebenen biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen anzunehmen, sondern davon auszugehen, dass die soziale Realität vielmehr das Produkt kollektiver und historischer menschlicher Konstruktionen (von Vorstellungen, Normen, Traditionen, Institutionen) ist als das Abbild einer unveränderlichen Natur.
- Ich denke da zum Beispiel an antirassistische Texte, die vorschlagen, wie man „die eigene Rasse verraten“ kann, indem man das Weiss-Sein und die damit einhergehenden Vorteile ausschlägt (Noel Ignatiev, How to be a race traitor: Six ways to fight being white, 1997, in: Richard Delgado und Jean Stefancic (Hrsg.), Critical white studies: Looking behind the mirror, Temple University Press; Pierre Tevanian, La Mécanique raciste, Editions Dilecta, 2008) oder an aktivistische Texte im Internet, die aufzeigen, wie ein Mann ein „guter Verbündeter“ im feministischen Kampf werden kann.
- In La Pensée straight (1992) schreibt Monique Wittig, dass Lesben keine Frauen seien, denn „das, was eine Frau ausmache, sei ihre besondere soziale Verbindung zu einem Mann […], die persönliche und physische Verpflichtungen ebenso umfasst wie wirtschaftliche Verpflichtungen“, eine Beziehung, der Lesben sich entzögen und die sie ablehnten. Dem kann entgegengehalten werden, dass Lesben Väter, Brüder und Söhne haben und dass sie, in unserer Gesellschaft Sanktionen ausgesetzt sind und genau deshalb bestraft werden, weil sie nicht so sind, wie Frauen sein sollen.
- „Nein, Rasse existiert nicht. Doch, Rasse existiert. Nein, sicherlich, sie ist nicht, was von ihr behauptet wird, aber sie ist dennoch die spürbarste, wirklichste, brutalste Realität.“ Auszug aus dem Artikel Je sais bien mais quand même ou les avatars de la notion ,raceʻ der Anthropologin Colette Guillaumin in Le Genre humain, 1981