Seit seiner Gründung 1989, gleich nach dem Fall der Berliner Mauer, legte sich das Europäische Bürgerforum (EBF) auf bestimmte Themenbereichen fest. Das sind einerseits alle Probleme, die die Immigration, das Recht auf Asyl, die Bewegungsfreiheit von Menschen und andererseits die Entwicklung und Zukunft der ländlichen Gebiete betreffen.
Die Ausbeutung der Immigranten in der Landwirtschaft
Das veranlasste uns, im Februar 2000 auf einen der schlimmsten Ausbrüche von rassistischer Gewalt in Europa seit 1945 zu reagieren: Tausende Marokkaner, die in El Ejido, in Andalusien, in den Gewächshäusern arbeiten, waren Opfer brutaler Ausschreitungen. Dieses Ereignis enthüllte die furchtbaren Konsequenzen der hyperintensiven landwirtschaftlichen Produktion und der Ausbeutung von Immigranten, die meistens keinen legalen Status haben.
Im April 2000 sandten wir eine internationale Delegation nach El Ejido, um die Gründe und Umstände dieser Pogrome zu untersuchen1 . Wir haben eine kaum bekannte und wenig erfreuliche Realität unserer modernen Gesellschaften entdeckt. Die intensive Produktion von Obst und Gemüse, nicht nur in Spanien, sondern in ganz Europa, ist abhängig von der unmenschlichen Ausbeutung von Immigranten, meist Menschen ohne Papiere (Sans Papiers). Zu dieser unbekannten Seite unserer Landwirtschaft organisierten wir zwei Treffen: in Paris im Juni 2001 und in St. Martin de Crau im Departement Boûches-du-Rhône (F) im August 2001. Ihre Resultate sind im Buch "Le goût amer de nos fruits et légumes" (Der bittere Geschmack von unserem Obst und Gemüse)2 nachzulesen.
Diese Immigranten sind Teil einer großen Armee von rechtlosen Arbeitern. Sie halten eine Schattenwirtschaft in Gang, auf der zahlreiche Sektoren beruhen – die Bauwirtschaft, die öffentlichen Dienstleistungen, das Gaststätten- und Hotelgewerbe, der Bereich der Hausangestellten, Textilwerkstätten... Die Situation der Saisonarbeiterin der Landwirtschaft ist dabei wahrscheinlich die am wenigsten bekannte. Sie arbeiten in ländlichen Regionen, weit weg von den existierenden Immigrantengemeinschaften in den Städten und den Vereinigungen zur Verteidigung der Rechte der Migranten. Mitglieder des EBF wurden von mehreren Institutionen und Organisationen eingeladen, um die Resultate ihrer Arbeit zu diesem Problem zu präsentieren, u.a. vom Europarat, dem Europäischen Parlament, der Internationalen Arbeitsorganisation, der österreichischen Menschenrechtsliga, dem Niederländischen Gewerkschaftsbund, dem Internationalen Festival der Aktionstheater, dem Ost-West-Festival von Die (Departement Drôme, F)...
Vor Ort, im Departement Boûches-du-Rhône, gehört das EBF seit mehr als einem Jahr einem Kollektiv3 an. Diese Gruppierung denunziert die zahlreichen Missstände, deren Opfer vor allem marokkanische Saisonarbeiter sind, die in diese Region per OMI-Verträge4 gekommen sind.
Das Kollektiv, das wahrscheinlich einmalig in Europa ist, hat eine "Charta" erarbeitet, die ebenfalls beim EBF bestellt werden kann. In dieser Region hat das EBF im März 2002 zwei öffentliche Veranstaltungen organisiert mit Christian Jacquiau, Autor des Buches "Hinter den Kulissen der großen Handelsketten", das sehr gut die unheilvolle Rolle der Supermärkte und großen Handelsketten beleuchtet. Um die Situation in der BRD und den Ländern Mitteleuropas besser kennen zu lernen, organisiert das EBF im April 2003 ein Treffen auf dem Hof Ulenkrug in Mecklenburg-Vorpommern.
Sans Papiers und der Arbeitsmarkt
Ultraliberale träumen davon, ein völlig flexibles Arbeitskräftereservoir zu haben - gering entlohnt und so gehorsam wie möglich, ohne jeden Schutz – das man je nach Konjunktur einstellen und entlassen kann. Alles ist ein Problem von Angebot und Nachfrage. Das Angebot ist gigantisch und wird es ohne Zweifel bleiben: Hunderte Millionen Menschen dieses Planeten leiden unter der Misere oder politischen Repressionen. Und die Nachfrage ist so hoch, dass – hat ein Migrant das Mittelmeer oder die Weiten Asien überquert und akzeptiert er die abscheulichen Arbeitsbedingungen in Europa – kann er sicher sein, fast sofort eine Arbeit zu finden.
Tatsächlich sind diese "illegalen" Arbeiter nur dem Namen nach illegal. Verantwortliche Politiker und Verwaltungen sind gut über sie informiert. Die Polizei greift nur ein, um den Angstpegel hoch zu halten, nicht aber um das Funktionieren dieser beachtlichen und rentablen Sektoren zu stören. Nur dank dieser "illegalen" Arbeiter können die europäischen Konsumenten Gemüse oder Kleidung zu lächerlich niedrigen Preise kaufen.
Dies ist der wirkliche Hintergrund der Problematik der Sans Papiers in Europa. Dennoch wird dieser Aspekt in den Medien kaum erörtert. In den vergangenen Jahren hat sich das EBF im Kampf um die Legalisierung der Sans Papiers und um ihre Rechte eingesetzt.
In der Schweiz war es beteiligt an der Gründung von Kollektiven in der Basler Region und im Jura, die Teil der nationalen Koordinationsgruppe sind. Mit dieser Gruppe organisierte das EBF im Mai 2002 eine internationale Konferenz zu Problemen der Sans Papiers in Bern, an dem Vertreter aus rund zehn Ländern teilnahmen.
Etwa 20 Prozent der schweizerischen Bevölkerung sind Ausländer, und die Wirtschaft des Landes ist sehr von den ausländischen Arbeitern abhängig. Zwischen 150.000 und 300.000 von ihnen sind Sans Papiers. Der Wert dieser "Schwarzarbeit" wird auf 35 Milliarden Schweizer Franken pro Jahr geschätzt, das sind neun Prozent des BIP. Wie in anderen Ländern auch, tragen die verantwortlichen Politiker zu dieser Entwicklung bei, in dem sie die Legalisierung der Sans Papiers ablehnen und die wachsende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen akzeptieren.
Ein anderer Aspekt dieser Problematik, der das EBF beunruhigt, ist die aktuelle Politik zahlreicher Regierungen und europäischen Institutionen. Angesichts des großen Mangels an Arbeitern in zahlreichen Wirtschaftssektoren, nehmen mehrere Regierungen von der Forderung nach absoluter Null-Immigration Abstand. Sie akzeptieren neue Immigranten, um den Bedarf des Arbeitsmarktes zu decken. Dafür erfinden sie neue Statuten für Zeit- und Saisonarbeit, die es ermöglichen, Arbeiter kommen zu lassen, ohne ihnen die gleichen Rechte wie den anderen Arbeitern zu gewähren – z.B. das Recht auf bezahlten Urlaub oder auf Familienzusammenführung.
Die Erweiterung der Europäischen Union
In der gleichen Zeit bereitet die EU die Erweiterung um zehn Länder Mitteleuropas vor, in denen der Lebensstandard viel schlechter ist als in den Ländern Westeuropas. Die sozialen Konsequenzen werden enorm sein, z.B. in Polen, wo ungefähr eine Million Kleinbauern gezwungen sein werden, ihr Land zu verlassen. Um diese Realität besser zu verstehen, nahm kürzlich eine Delegation des EBF an einer Konferenz in Krakau über die Zukunft der polnischen Landwirtschaft teil.
Diese Entwicklung wird eine größere Immigration zur Folge haben und in den westeuropäischen Ländern die Konkurrenz um Billiglohn-Arbeitsplätze zwischen den traditionellen Migranten aus dem Süden und den Menschen aus dem Osten in Gang setzen, die den Unternehmern große Vorteile bringen wird.
Wir konnten dieses Phänomen schon im Frühjahr in Huelva beobachten, einer andalusischen Region, die bekannt ist für ihre Erdbeerproduktion. 55.000 Saisonarbeiter, darunter 10.000 Ausländer, sind hier jedes Jahr von März bis Juni beschäftigt. Dieses Jahr legte die spanische Regierung eine Quote von 7.000 ausländischen Saisonarbeitern fest, die vor allem an polnische und rumänische Frauen vergeben wurden. Und das, obwohl mehrere Tausend Marokkaner schon eine spezielle Arbeitserlaubnis für die gleiche Ernte erhalten haben.
Für ein anderes landwirtschaftliches Produktionsmodell
Die Ausbeutung der Migranten ist nur einer der zahlreichen unheilvollen Aspekte der industriellen Landwirtschaft, die auch fatale Konsequenzen im ökologischen, gesundheitlichen und sozialen Bereich hat. Seit seiner Gründung beschäftigt sich das EBF mit alternativen Modellen der landwirtschaftlichen Produktion und dem ländlichen Leben.
Deshalb nahm das EBF auch Ende Februar 2003 an einem internationalen Seminar teil, das in Forcalquier (Südfrankreich) stattfand und organisiert wurde von PaïsAlp, einer Kleinproduzentenorganisation im Departement Alpes-de-Haute-Provence. Rund 100 Personen aus 15 Ländern West- und Osteuropas tauschten ihre Erfahrungen aus und diskutierten darüber, wie man auf europäischem Niveau Anerkennung für diese Form der Produktion durchsetzen kann. Die wesentlichen Kriterien dieser Produktionsform sind der kleinflächige Anbau, die Transparenz, die Direktvermarktung und die Anerkennung spezieller Lieferbedingungen.
Mitglieder des EBF haben ebenfalls an Treffen und Aktivitäten, organisiert durch die Vereinigung Kokopelli, teilgenommen. Kokopelli setzt sich dafür ein, die Biodiversität zu schützen und die eigene Saatgutproduktion zu fördern. Dazu wird im Juni 2003 ein Weiterbildungsseminar in Limas (Südfrankreich) stattfinden.
Die Situation in den Ländern der Migranten
Seit dem Aufenthalt der Untersuchungskommission in El Ejido im April 2000 hat das EBF Kontakte mit zahlreichen marokkanischen Immigranten knüpfen können. Dadurch erfuhr es mehr über die Situation unter dem marokkanischen Regime, das immer mehr Jugendliche, darunter Zehntausende diplomierte Arbeitslose, dazu bringt, ihr Glück anderswo zu suchen. Die Emigration wird zu einer wirklichen Bedrohung für das Land. Lotfi Chengly, Mitglied von Attac Marokko und Autor eines Artikels in "Le goût amer de nos fruits et légumes", sagte dazu: "Was es unbedingt braucht, sind Verbindungen der Bürgerinnen und Bürger von beiden Ufern des Mittelmeeres" .
Aus diesem Grund organisierte das EBF im Oktober 2002 eine Reise nach Marokko, um sich mit der Realität in den Städten und den ländlichen Gebieten vertraut zu machen. Diese Reise wurde organisiert mit Hilfe von Tizi-Rando, einer Tourismus-Agentur, deren Ziel es ist, die Touristen in direkten Kontakt mit der Bevölkerung vor Ort zu bringen, zum besseren Kennenlernen und um u.a. zu einem lokalen Entwicklungsprozess beizutragen.
Beziehungen rund um das Mittelmeer
Im Oktober 2000 hat das EBF ein Treffen von Vertretern der Anrainerstaaten des Mittelmeeres in Limans mitorganisiert, das parallel zum offiziellen Gipfel in Marseille stattfand: Drei Tage voller leidenschaftlicher Diskussionen mit algerischen, tunesischen, marokkanischen, italienischen, spanischen Freunden...
Andererseits nahm das EBF an mehreren Delegationen nach Tunesien teil, um Personen zu schützen, die unter der brutalen Repression des Regimes von Ben Ali leiden. Dank dieser Aktionen konnten zwei Oppositionelle aus dem Gefängnis befreit werden.
In der französischen Provence hat das EBF eine Solidaritätskampagne für Salah Karker, einen tunesischen Oppositionellen begonnen, der seit zehn Jahren in Digne unter Hausarrest gestellt ist, ohne das er bisher verurteilt wurde.
Seit 1998 unterhält das EBF Beziehungen zu Freunden in Kalabrien in Italien. Im Dezember 1997 landete das Schiff "Ararat" an der kalabresischen Küste, mit Hunderten kurdischen Flüchtlingen an Bord. Wir organisierten eine Solidaritätskampagne für das Dorf Badolato, das eine grosse Zahl dieser Flüchtlinge empfing.
2002 waren zwei EBF-Delegationen im Nachbardorf Riace, in dem eine Gruppe von Einwohnern eine Vereinigung zum Empfang von Flüchtlingen gründete. Wir nahmen an verschiedenen lokalen Aktivitäten teil, wie z.b. dem Gingster-Fest im Mai und der Olivenernte im Herbst. Im Februar 2002 waren einige Vertreter des EBF für längere Zeit in Riace, um beim Empfang der Flüchtlinge zu helfen.
Kooperation mit Ex-Jugoslawien
Seit 1991 engagiert sich das EBF sehr stark in verschiedenen Solidaritätskampagnen und Kooperationsprojekten mit Partnern aus Ex-Jugoslawien. In den letzten zwei Jahren war es dabei vor allem in zwei Bereichen präsent. So ist es immer noch Partner des Netzwerkes unabhängiger Journalisten, AIM, das Redaktionen in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, Albaniens und Bulgariens umfasst. AIM wurde 1992 während einer Konferenz des EBF in Ushgorod, Ukraine, gegründet. Seine wesentlichen Aktivitäten sind die Produktion von Hintergrundartikeln in den verschiedenen Landessprachen, die den regionalen Medien angeboten werden; die Organisation von Ausbildungsprogrammen für junge Praktikanten verschiedener Hauptstädte und dazugehöriger Regionen sowie transnationale Seminare.
Das EBF fördert die Kontakte der verschiedenen Redaktionen durch die Organisation regelmässiger Versammlungen zur internen Koordination des AIM. Während dieser Versammlungen, die oft im EBF-Büro in Österreich, nahe der slowenischen Grenze, stattfinden, versuchen die EBF-Vertreter von "aussen" einzugreifen, um anstehende Konflikte zu lösen. Auch hat das EBF sein Kontaktnetz in Europa in den Dienst von AIM gestellt, um seine Arbeit besser bekannt zu machen und um politische und finanzielle Unterstützung zu finden.
2002 war das Jahr tiefgreifender Veränderungen des AIM. Grund war die Streichung von Subventionen für diese Art Projekt. Es war nötig, dass Koordinationsbüro in Paris zu schliessen und diese Arbeiten dem EBF in Forcalquier zu übertragen, das jetzt versucht, die Verwaltung und die Verbindungen zur Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten. Das Netzwerk hat die Produktion von regelmässigen Hintergrundartikeln beendet, wird aber alle zwei Monate ein transnationales, thematisches Dossier erarbeiten.
Zu Beginn des Jahres 2003 hat AIM ein neues Projekt, "AIM-Neue Generation", gestartet. Mehr als 400 junge Leute haben seit 1995 an Ausbildungskursen von drei bis sechs Monaten teilgenommen. Oft haben sie den Wunsch geäussert, gemeinsam Kursende weiterzuarbeiten. Eine überregionale Redaktion wurde gegründet, bestehend aus den jungen Journalisten unter Leitung von Svetozar Sarkanjac, einem erfahrenen Kollegen aus Osijek in Kroatien. Sie werden eine neue Internetseite schaffen, die mit der aktuellen AIM-Internetseite verbunden sein wird.
Ebenfalls im Medienbereich organisierte das EBF im Juli 2002 in Österreich, in Kooperation mit der österreichischen Vereinigung freier Radios, ein Seminar über mehrsprachige Radiosendungen. Die Teilnehmer kamen aus zehn Ländern, darunter Albanien, Bulgarien, Ungarn, Serbien und Slowenien.
Das EBF führte seine Teilnahme an den Aktivitäten von Gemeinden Gemeinsam, Schweiz, ebenfalls weiter. Diese Organisation wurde auf unsere Initiative hin 1992 gegründet. Sie stellte Partnerschaften zwischen Gemeinden der Schweiz und Gemeinden verschiedener Länder des ehemaligen Jugoslawien her.
Nach den NATO-Bombardements in Jugoslawien 1999 fand der bisher letzte Sommerkongress des EBF in Mecklenburg-Vorpommern statt. Vertreter von Friedensgruppen, mit denen das EBF in der BRD verschiedene Aktionen unternommen hatte, waren zu diesem Kongress gekommen. Sie organisierten in den folgenden Monaten Ausstellungen über die Bombardierung der kleinen Stadt Vavarin in Serbien und empfingen eine Gruppe aus dieser Stadt, die die Regierung der BRD auf Schadensersatz verklagte. Gemeinsam mit den Gruppen aus der Region und darüber hinaus organisierte das EBF Versammlungen, Ausstellungen, Demonstrationen auch zu den folgenden Kriegen gegen Afghanistan und den Irak.
Im Frühjahr 2001 war es an Aktionen gegen die Residenzpflicht5 in mehreren mecklenburgischen Städten und an der grossen Demonstration in Berlin beteiligt.
Archipel
Dieses Resümee ist weit davon entfernt, umfassend zu sein (u.a. geht es nicht auf unsere Beteiligung an den Kampagnen gegen den Krieg im Irak ein, nicht auf die Teilnahme an den Sozialgipfeln in Florenz und Porto Alegre, nicht auf die zivilen Missionen in Palästina...). Doch monatlich kann man darüber in der Zeitschrift des EBF, dem Archipel, nachlesen. Auch die neu eingerichtete Internetseite www.forumcivique.org gibt Informationen zu unseren Aktivitäten.
- Ein Gesetz von 1982, das so nur in der BRD existiert und die Flüchtlinge verpflichtet, den Kreis nicht zu verlassen, indem sie die Zuweisung zu einem Flüchtlingsheim haben.