FRANKREICH: Die umstrittene Rentenreform

von Contre attaque, 13.03.2023, Veröffentlicht in Archipel 323

Seit Monaten wird in Frankreich gegen die Rentenreform gestreikt und protestiert. Konkret verlängert diese Reform schrittweise die Beitragsdauer, die notwendig ist, um eine Vollrente zu erhalten. Für eine Mehrheit der Bevölkerung wird es also darum gehen, sich zu entscheiden, ob sie alt und arm sein will oder bei der Arbeit stirbt.

Die Reform sieht eine Beitragsdauer von 172 Quartalen vor. Mit einem späten Berufseinstieg oder Zeiten der Arbeitslosigkeit wird man in den meisten Fällen bis 67 arbeiten müssen, um eine volle Rente zu erhalten: Wen interessiert dann noch das gesetzliche Rentenalter von 64 Jahren? Ohne umfassende Änderungen werden junge Menschen ihre Rente ohnehin nicht sehen.

Um den Massen ein gutes Gefühl zu vermitteln, gibt es nichts Besseres, als die Anstrengungen anderer Länder aufzuzeigen. Japan wird oft als Beispiel angeführt, wobei die Medien von einer möglichen Rente mit 70 Jahren ohne Altersgrenze schwärmen. In den letzten Tagen blühen zahlreiche Berichte über japanische Angestellte, die mit über 80 oder sogar 90 Jahren arbeiten. Dabei wird nicht erwähnt, dass das Rentenniveau so niedrig und die Lebenshaltungskosten so hoch sind, dass Senior·inn·en oft keine andere Wahl haben. Der Blickwinkel ist jedoch allzu oft ein kultureller und sogar ein rassistischer: Die engagierten Japaner·innen würden gerne ewig arbeiten, nicht wie die faulen Franzosen und Französinnen, die mit 60 Jahren in Rente gehen möchten.

Welche Beitragsdauer in Europa?

Die Regierungspropaganda rechtfertigt weiterhin die Reform, indem sie sich auf das stützt, was in anderen Ländern gemacht wird. Zwar wird eingeräumt, dass die Systeme sehr unterschiedlich und schwer vergleichbar sind, doch allein beim Renteneintrittsalter sollen sie als Inspiration dienen. Die Rede wäre ganz anders, wenn man sich bei der Beitragsdauer, die Macron so schnell wie möglich auf 43 Jahre anheben will, davon inspirieren liesse. In England kann ein-e Beitragszahler·in nach 30 Jahren mit einer vollen Rente in Pension gehen, während in Belgien, Deutschland und Spanien 35 und in Italien 36 Jahre erforderlich sind. Griechenland plant, von 37 auf 40 Beitragsjahre zu erhöhen: Selbst die Dampfwalze der Troika ging nicht so weit wie Macron, als die Europäische Union und der IWF Griechenland zu liberalen Reformen zwangen.

Wenn eine Person nicht genügend Beiträge eingezahlt hat, kann sie trotzdem im gesetzlichen Rentenalter in Rente gehen, muss aber einen Abschlag hinnehmen. Und auch hier kennt der französische Staat keine Gnade: Bis zu 25 Prozent weniger Rente für diese Bevölkerungsgruppen, die oftmals prekärer sind als andere (häufig Frauen oder Menschen, die lange Zeit arbeitslos waren). Zum Vergleich: Unser Nachbarland Deutschland begrenzt das Abschlagssystem auf 7 Prozent des Rentenbetrags.

Das Beispiel des CPE[1] im Jahr 2006

Aber warum dann die Fokussierung auf ein gesetzliches Alter, das nichts an der sozialen Ungerechtigkeit dieser Reform ändert? Um als Sicherung zu dienen: Der Staat zeigt sich in einem symbolischen Punkt der Reform unnachgiebig, die Proteste steigen, sie dauern an, die Streikenden werden müde, verlieren Geld und Energie im Kampf, erschöpfen sich, und wenn die Regierung wirklich in Schwierigkeiten gerät, wenn sie zurückweichen muss, dann brennt ihr die Sicherung durch. Dieses politische Manöver ist wohlbekannt, und eines der anschaulichsten Beispiele der letzten Jahre ist der CPE im Jahr 2006. Dass aufgrund der riesigen Protestbewegung, dieses Gesetz nicht erlassen wurde, wird oft als gewerkschaftlicher Sieg dargestellt, der eine Generation von Aktivist·inn·en geformt hat. In Wirklichkeit handelt es sich um eine riesige Niederlage: Ein ungerechter Gesetzentwurf zur «Chancengleichheit», der die Prekarität erhöht, Legalisierung der Nachtarbeit ab 14 Jahren für Auszubildende und eine Menge anderer Schandtaten der Chirac‘schen Rechten. Um die Pille zu versüssen, fügte die Regierung einen Artikel hinzu, der die Aufmerksamkeit auf sich zog: die Möglichkeit, einen Vertrag über die Ersteinstellung, eben den CPE, zu unterzeichnen, eine Art unbefristeten Arbeitsvertrag, bei dem die Probezeit zwei Jahre dauert, ohne dass die «Schutzbestimmungen» der Arbeitnehmerschaft gelten. Sofort wurde gestreikt, aber die Regierung wartete zwei Monate, bevor sie den Artikel zurückzog, der ohnehin nie vor den Verfassungsrat gekommen wäre. Die Gewerkschaften riefen damals «Sieg!», beendeten die Streiks und riefen dazu auf, die Besetzungen an den Hochschulen aufzuheben. Alles andere im Gesetz geht durch wie nichts – eine Beschneidung der sozialen Rechte. Seither wird das Arbeitsgesetzbuch von den aufeinanderfolgenden Regierungen methodisch verwüstet.

Und heute? In zwei Monaten, im Falle einer sehr starken Mobilisierung, wird das gesetzliche Rentenalter vielleicht auf 63 Jahre «herabgesetzt», die Regierung wird «Zugeständnisse» gemacht haben und Laurent Berger von der CFDT[2] wird diesen gewerkschaftlichen «Sieg» bereitwillig unterschreiben. Das ist der Zeitpunkt, an dem wir wachsam sein müssen, an dem wir am stärksten durchhalten müssen, an dem wir am solidarischsten und offensivsten sein müssen, denn erst dann kann eine echte Bewegung etwas Besseres fordern.

Contre attaque (Gegenangriff), 29. Januar 2023*

  • Wir haben den Artikel für Archipel übersetzt und gekürzt. Sie können ihn in seiner Originalversion auf Französisch hier lesen: www.contre-attaque.net/2023/01/29/le-saviez-vous-lage-de-la-retraite-on-sen-fout/
  1. CPE = «Contrat première embauche»: Ersteinstellungsvertrag. Ein Gesetzesentwurf, der von der Chirac-De Villepin-Regierung vorgeschlagen wurde und nach langanhaltenden Protesten von Arbeitnehmer·inne·n, Studierenden und Aktivist·inn·en zurückgezogen werden musste.

  2. «Confédération française démocratique du travail» (französischer demokratischer Gewerkschaftsbund)