FRANKREICH / GROSSBRITANNIEN: Menschen austauschen

von Justine Bosset, Genf, 12.12.2025, Veröffentlicht in Archipel 353

Das im August 2025 unterzeichnete französisch-britische «One in, one out»-Abkommen, das als humanitärer Fortschritt präsentiert wurde, sorgt weiterhin für Empörung. Am 10. Oktober haben etwa fünfzehn Organisationen den französischen Staatsrat1 aufgefordert, dieses Abkommen für nichtig erklären zu lassen. Sie prangern dessen unzugänglichen und entmenschlichenden Charakter an, der Leben auf eine einfache Tauschlogik reduziert.

Sobald man die Halle des Hauptbahnhofs von Calais betritt, wird eine Botschaft der Regierung auf einer Werbetafel angezeigt. «Achtung!», lautet die Ankündigung, «es gibt einen neuen Vertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich. Wenn Sie illegal mit einem Boot im Vereinigten Königreich ankommen, riskieren Sie nun die Ausweisung und dürfen weder ins Vereinigte Königreich zurückkehren noch sich illegal in Frankreich aufhalten.» Die Botschaft ist auf Französisch und Englisch verfasst. Seit dem Inkrafttreten des Abkommens am 6. August haben die beiden Länder den Pilotveruch des sogenannten «One in, one out»-Abkommens gestartet. Dieses Abkommen ist Ausdruck des Willens beider Regierungen, «legale Durchgangswege» anzubieten und zu regulieren, um die illegale Einwanderung zu bekämpfen. Es führt somit eine Logik des Austauschs ein: Für jede Person, die illegal in das Vereinigte Königreich eingereist ist und nach Frankreich zurückgeschickt wird, kann eine andere Person legal von französischem Gebiet aus nach Grossbritannien reisen.

Doch weit davon entfernt, sich von dieser Warnung entmutigen zu lassen, drängen sich auch heute wieder Gruppen von Exilant·innen in Bussen oder Zügen in Richtung Dünkirchen oder Boulogne. Einige haben Rettungswesten dabei, um mit dem Boot nach Grossbritannien zu gelangen. Sie werden heute Nacht oder morgen Nacht aufbrechen. Wie sie haben etwa 1500 Menschen in der letzten Septemberwoche die Überfahrt über den Ärmelkanal gewagt, in der Hoffnung, dort Stabilität zu finden – einen Ort, an dem sie leben und nicht mehr nur überleben können.

Träume von England

Amira aus Eritrea hat versucht, sich in der Schweiz niederzulassen. Dort hat sie ein Jahr lang Deutsch gelernt und um eine Aufenthaltsgenehmigung gekämpft. Diese wurde ihr jedoch verweigert. Nun ist sie wieder unterwegs und bereit, trotz Angst und Erschöpfung, die Überfahrt zu wagen. «Ich habe keine Wahl mehr», sagt sie, «Ich möchte nur einen Ort, an dem ich in Frieden leben und arbeiten kann.» Sie sitzt im Hof der Tagesstätte des «Secours Catholique» in Calais, trinkt einen heissen Tee und wärmt ihre Hände, die von der Herbstkälte taub geworden sind. Um sie herum sitzen Familien, alleinstehende Männer, Jugendliche, alle von derselben Überzeugung getragen: Auf der anderen Seite des Ärmelkanals wird das Leben vielleicht etwas gnädiger sein. Helen träumt davon, ihren Mann und ihren Sohn wiederzufinden, die bereits in der vergangenen Woche übergesetzt haben. Amin* sucht dort nach Stabilität, Arbeit, einem «normalen Leben». Er sagt sich, dass es für ihn einfacher sein wird, Englisch zu lernen als eine andere europäische Sprache. Seit fast einem Jahr ist er nun schon unterwegs, auf der Flucht vor der Gewalt in seinem Land.

Seit dem Brexit verkörpert das Vereinigte Königreich für viele einen Ausweg aus den Zwängen der Dublin-III-Verordnung, die Exilant·innen dazu verpflichtet, ihren Asylantrag in dem ersten europäischen Land zu stellen, in dem ihre Fingerabdrücke registriert wurden. Durch die Loslösung von diesem Rahmen ist das Land nicht mehr verpflichtet, illegal eingereiste Personen systematisch in einen anderen Mitgliedstaat zurückzuschicken, im Gegensatz zur Schweiz, Frankreich, Italien oder Deutschland, um nur diese zu nennen.

30 Jahre repressive Politik

Das Erreichen der britischen Küste ist für viele trotz der zunehmenden Risiken bei der Überfahrt weiterhin eine Hoffnung. Die Zahl der Abfahrten nimmt nicht ab. Sie finden zudem immer weiter entfernt von Calais statt, um oft sehr gewaltsame Polizeieinsätze zu vermeiden. Diese drängen die Menschen dazu, überstürzt an Bord zu gehen, manchmal ohne den Zustand des Bootes und seines Motors überprüfen zu lassen.

«Im Zuge der bilateralen Abkommen wird immer mehr Geld [...] insbesondere in die Repression gesteckt», kritisiert Laura Poignet, Koordinatorin des Vereins Utopia 56. Diese repressive Politik, die in den 1990er Jahren begann, scheint jedoch keine abschreckende Wirkung zu haben. «Gleichzeitig sehen wir, dass immer mehr Menschen versuchen, nach England zu gelangen und dabei immer grössere Risiken eingehen.» Seit Anfang 2025 hat der Verein etwa 17.256 Menschen in Not an der Küste gezählt, das sind mehr als im gesamten Vorjahr. Einige wurden vor der Küste von Dieppe aufgefunden, wodurch sich die zurückzulegende Entfernung im Vergleich zu den Überfahrten von den Stränden von Calais verdreifachte und die Dauer manchmal bis zu 12 Stunden betrug.

Leben und Überleben in der Wartezeit

In der Warteschlange für eine Mahlzeit, die vom Verein «La Vie Active» verteilt wird, spricht ein junger sudanesischer Exilant einen Freiwilligen an. «Weisst du, was sich durch dieses neue Abkommen ändert?», fragt er, «Ich verstehe nichts davon.» «Es ist noch zu früh, um das zu sagen», antwortet man ihm. Auf jeden Fall gilt das Abkommen nicht für Minderjährige.

Die Essensverteilung findet am Rande eines Lagers in Calais in der Nähe des Krankenhauses statt. Fast 300 Menschen schlafen dort in Zelten, die sie sich zu zweit oder zu viert teilen und die manchmal einfach auf dem feuchten Boden aufgestellt sind. Etwa zehn solche provisorischen Lager erstrecken sich zwischen Industriegebieten, Wäldern und Brachflächen rund um Calais. Ein grosses Grundstück wird in der Gemeinde Loon Plage, westlich von Dünkirchen, besetzt. Insgesamt leben dort zwischen 1000 und 2000 Menschen, die darauf warten, dass die Wetterbedingungen für die Überfahrt nach Grossbritannien günstig sind. Einige versuchen die Überfahrt auch per Lkw. Das Warten dauert mehrere Nächte, manchmal Monate, überschattet von einer permanenten Polizeipräsenz. In regelmässigen Abständen erinnern Räumungen daran, dass an der Küste das Verweilen verboten ist: Das ist das Prinzip der seit 2016 umgesetzten Politik der «Null-Fixierung». Polizeikonvois und Reinigungsdienste rücken an, um die Notunterkünfte abzureissen und die Bewohner·innen dieser Orte zu evakuieren. Diese Einsätze finden mehrmals pro Woche statt, oft im Morgengrauen. Im September zwangen die Räumungen des «Orange Squat» in Calais und des «Dschungels» von Dünkirchen mehr als tausend Menschen dazu umzuziehen, manchmal nur wenige hundert Meter weiter. Zelte, persönliche Gegenstände und Papiere werden meist beschlagnahmt oder vernichtet. Der Verlust und das Fehlen von Papieren führt zu einer grossen Verunsicherung. Im Rahmen des spezifischen «One in, one out»-Abkommens ist der Besitz von Ausweispapieren und, im Falle von Familien, von Geburts- oder Heiratsurkunden eine zwingende Voraussetzung, um sich für die neu vorgesehene Durchreisemöglichkeit zu bewerben.

Exilkompatible Kriterien

Der Besitz gültiger Dokumente reicht jedoch nicht aus, um den Zugang zu einem Visum für England zu garantieren. «Diejenigen, die noch Papiere besitzen, wissen nicht, wo sie dieses Formular ausfüllen können, wissen nicht, an welche Organisation sie sich wenden sollen. Wir sind der Ansicht, dass eine angemessene Begleitung erforderlich ist, damit jede und jeder die Chance hat, dieses Visum zu erhalten», betont Léa Biteau, Leiterin des «Secours Catholique» in Calais. Im Hof vor ihr beginnen fünf Männer eine Partie Fussball, während andere duschen oder ihre Kleidung waschen gehen. Drei Frauen gehen in einen Nebenraum, um ihre Telefone aufzuladen, während ihre Kinder mit freiwilligen Mitarbeiter·innen spielen. An jedem Nachmittag unter der Woche kommen zwischen 500 und 1000 Menschen in diese Tagesstätte.

Um diesem Bedarf an rechtlicher Begleitung gerecht zu werden, bietet die Organisation «Refugee Legal Support» alle zwei Wochen eine Sprechstunde in der Tagesstätte des «Secours Catholique» an. Diese Unterstützungs- und Rechtsberatungsgespräche helfen den Exilierten, das erforderliche Formular auszufüllen, um von diesem neuen Abkommen profitieren zu können. Dennoch «kommen nur sehr wenige Menschen zu Refugee Legal Support, um sich in dieser Angelegenheit beraten zu lassen. Viele sagen uns, dass sie Angst haben, weil nur sehr wenige Informationen über die Folgen einer Annahme verfügbar sind», erklärt Marie-Laure Richter, Mitarbeiterin des «Secours Catholique». Sie fügt hinzu, dass «einige seit einem Monat einen Antrag gestellt haben und immer noch keine Antwort erhalten haben». Die von den französischen Behörden angekündigte offizielle Frist beträgt 14 bis 28 Tage. Die Zulassungsbedingungen sind streng: Man muss sich in Frankreich aufhalten, darf keinen Schutzstatus und kein Aufenthaltsrecht haben und darf nie ohne Genehmigung in das Vereinigte Königreich eingereist sein. Diejenigen, die eine Einreiseerlaubnis erhalten, müssen innerhalb einer sehr kurzen Frist ihren Standort bestätigen, sonst scheitert der Antrag. «Die meisten Menschen, denen wir helfen, haben keinen Reisepass, was sie daran hindert, einen Antrag zu stellen», erklärt Basma Kamel, Sensibilisierungsbeauftragte bei «Refugee Legal Support». «Andere haben noch ihren Personalausweis, können aber nur sporadisch auf ihre E-Mails zugreifen oder haben Schwierigkeiten, ihren Standort zu beweisen. Der Antrag kann erst bearbeitet werden, wenn sie ihre Anwesenheit in Frankreich bestätigt haben, was viele nicht in der Lage sind zu tun. Ein weiterer häufiger Grund für die Ablehnung ist technischer Natur: Unscharfe Fotos oder unklare Angaben führen oft zur Ablehnung von Anträgen.» Ein weiteres Kriterium, das in krassem Widerspruch zur Realität der Migrationswege steht: Um Vorrang zu erhalten, wird empfohlen, sich in den letzten fünf Jahren bereits sechs Monate lang legal im Vereinigten Königreich aufgehalten zu haben. «Das sieht für uns nicht gut aus», kommentiert Poorya, ein iranischer Mann, als er von den Antragsbedingungen erfährt. Staatsangehörige bestimmter Nationalitäten, deren Asylanträge häufig vom Vereinigten Königreich angenommen werden, werden bevorzugt, während andere ausgeschlossen werden. Anschliessend erfolgt eine Auslosung, um über die Anträge zu entscheiden. Im Jahr 2024 erhielten 66 Prozent der Iraner·innen Asyl, die nach illegaler Überfahrt des Ärmelkanals im Vereinigten Königreich ankamen, gegenüber 99 Prozent der Syrer·innen und Sudanes·innen. «Es ist ohnehin eine sehr gefährliche Reise, von hier nach England zu gelangen. Ich möchte anderen nicht die Chance nehmen, dort zu bleiben», fügt Poorya hinzu. Abgesehen von den strengen Zulassungskriterien und seiner Willkür wird dieses Verfahren von vielen allein schon wegen seinem Inhalt abgelehnt. Sein syrischer Nachbar stimmt zu: «Ich bin gegen dieses Abkommen. Das würde bedeuten, den Platz einer Person einzunehmen, die für die Überfahrt bereits ihr Leben riskiert.»

Umstrittene Umsetzung

Seit Beginn des Pilotprojekts rühmt sich die britische Regierung damit, «42 illegale Migrant·innen» aus ihrem Hoheitsgebiet «entfernt» zu haben. Andere Personen sind weiterhin im Vereinigten Königreich inhaftiert und warten darauf, ob sie im Rahmen dieses umstrittenen Abkommens nach Frankreich zurückgeschickt werden. Ende August zählte die BBC «mehrere Dutzend» Fälle. Die lokalen Politiker·innen bleiben skeptisch, was das transformative Potenzial des Abkommens angeht. «Dieser Text befasst sich nicht mit den Ursachen der Migration», meint Bertrand Ringot, Bürgermeister von Gravelines, einer Gemeinde mit 12.000 Einwohner·innen östlich von Calais. «Er begnügt sich damit, die Ströme kurzfristig zu verwalten, [...] und dient eher dazu, politische Entschlossenheit zu demonstrieren, als das Problem der Überfahrten konkret zu lösen.» Da die Bürgermeister der Küstenregion bei der Ausarbeitung des Abkommens «in keiner Weise konsultiert» wurden, bedauert der Politiker die mangelnde Rücksichtnahme seitens der französischen Regierung sowie das Fehlen eines politischen Dialogs mit den britischen Regionalbehörden. «Wir lokalen Politiker haben rein technische Beziehungen zu den Behörden in Kent», betont Bertrand Ringot. «Was wir fordern, ist ein politischer Dialog mit den Briten. Ich denke, es ist höchste Zeit dafür. Man kann sich nicht nur auf Beziehungen von Staat zu Staat beschränken.»

In einem am 8. Oktober 2025 in Le Monde veröffentlichten offenen Brief prangert eine Gruppe von Organisationen und Bürger·innen «ein institutionelles Feilschen um Menschenleben» an. Der Verein Utopia 56 beschreibt seinerseits in einer Erklärung «ein System [...], das den Zugang zu internationalem Schutz opfert und in dem die betroffenen Personen wie austauschbare Zahlen behandelt werden». Die Bedingungen dieser Vereinbarung werden daher als unanständig und menschenunwürdig angesehen. Es ist jedoch das Verfahren, mit dem die Vereinbarung durchgesetzt wurde, das diesen Organisationen nun ermöglicht, Beschwerde einzulegen. Aufgrund der fehlenden Debatte im Parlament und der Bedingungen für die Umsetzung der Rückführungen haben etwa fünfzehn Vereinigungen2 an den Staatsrat appelliert – er ist für die Kontrolle der Einhaltung der internationalen Verpflichtungen Frankreichs zuständig. «Auf französischer Seite wurde das Abkommen durch einen einfachen Erlass bestätigt, obwohl es die Freizügigkeit von Personen betrifft, da Menschen im Vereinigten Königreich inhaftiert sind und sein werden», erklärt Amélie Moyart, Kommunikationsbeauftragte bei Utopia 56. «Da dies nicht im Parlament debattiert wurde, haben wir jetzt die Möglichkeit, diese Abkommen wegen Verfahrensfehlern anzufechten.»

Während beide Regierungen die Schaffung «legaler Durchgangswege» zwischen den beiden Ländern anpreisen, hat das Vereinigte Königreich Ende August die Familienzusammenführung für Geflüchtete ausgesetzt. Ehepartner·innen, Frauen oder Kinder von Personen, die in England Asyl erhalten haben, können daher nicht mehr legal zu ihnen ziehen. Dies veranlasst manche Menschen dazu, gefährliche und unter Strafe stehende Reisen anzutreten. «Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass dieses Abkommen nur ein PR-Gag ist», bedauert Amélie Moyart. «Gleichzeitig hat die englische Regierung gerade eine der wenigen wirklich sicheren Einreisemöglichkeiten für bestimmte Personen abgeschafft.»

Justine Bosset**

*Die mit einem Sternchen gekennzeichneten Vornamen wurden geändert.

**Justine Bosset hat kürzlich ihr Studium am «Institut des Hautes Etudes Internationales et du Développement» in Genf abgeschlossen. Während ihres Masterstudiums in internationaler Entwicklung konzentrierte sie sich auf die Themen Gender, Rassismus und Migration. Nach einigen Monaten Arbeit bei einer Organisation, die Menschen im Exil Nothilfe leistet, kehrte sie in die Schweiz zurück und schreibt jetzt Artikel für verschiedene Medien.

  1. Der «Conseil d‘Etat» in Frankreich ist zum einen das oberste Verwaltungsgericht und zum anderen ein Beratungsgremium der Regierung in Rechtsfragen

  2. Die Verbände sind: Gisti, Anafé, Ligue des Droits de l’Homme, Secours Catholique, Dom’Asile, ARDHIS, Médecins du Monde, Cimade, SALAM, Human Rights Observers, Accueil Demandeurs d’Asile (ADA), Fédération des associations de solidarité avec tou·tes les immigré·es und Groupe Accueil et Solidarité (GAS).