Im Verlauf der Geschichte gibt es immer wieder Sprünge, Abgründe, Beschleunigungen – Momente, in denen ein über Jahrhunderte währender Weg unerwartet brüchig wird und Platz für Fragestellungen entsteht, die alle betreffen. Wir haben das Gefühl, heute an einem solchen Wendepunkt zu stehen.
Ventimiglia, Grenzort zwischen Italien und Frankreich, ist eine der Bruchstellen, an denen die territorialen, sozialen, politischen und humanistischen Karten dieser Welt neu gezeichnet werden. Hier hatte sich in den letzten Monaten eine große Gruppe von Menschen solidarisch gezeigt und ein NoBorder Camp aufgebaut, dessen Zerstörung im September vom Bürgermeister sowie vom italienischen Innenminister beschlossen und durchgeführt wurde (siehe Archipel 242: Die Gewalt der Grenzen). Die Menschen im Camp kamen aus Syrien, dem Sudan, Afghanistan, Irak, Somalia, Libyen und vielen anderen Nationen. Die Liste der Länder im Krieg ist lang und zwingt Millionen von Menschen zur Flucht. Die Gründe dieser Tragödie und der verschiedenen Exile sind immer das Ergebnis des gleichen Phänomens der Dominanz: einst der Kolonialismus und Imperialismus, heute die Globalisierung. Es ist der Kapitalismus, der seit Jahrhunderten Territorium um Territorium kahl frisst und so Menschen ins Exil und in die Misere treibt. (…)
Selbstverwaltung …
Die Lobeshymnen auf den Fall der Mauer und das Schengener Abkommen symbolisierten da-mals den Beginn einer neuen Zeit mit Bewegungsfreiheit und klingen heute wie ein schlechter Witz der Geschichte. Die Grenzen sind verstärkt, die mit Stacheldraht verzierten Betonmauern hören nicht auf exponentiell zu wachsen und umschnüren Europa in der Länge und in der Breite, hinauf und hinunter mit Hunderten von Kilometern. Es sieht so aus, als ob die Bewegungsfreiheit von Schengen nur für Waren bestehen bliebe. (…) Schon seit mehreren Jahren werden die Zäune in Ceuta und Melilla regelmässig erhöht und verschärfen so den Kontrast zwischen dem reichen Spanien und dem armen Marokko. Diese Situation erschien wie ein Anachronismus, aber so wie sich die Dinge jetzt entwickeln, handelte es sich um einen avantgardistischen Akt. Mit dem Vorwand, etwaiges Eindringen durch Abschreckung zu verhindern, wachsen jeden Tag mehr Mauern auf dem Kontinent der Menschenrechte: zwischen Griechenland und Mazedonien, Ungarn und Serbien, zwischen Bulgarien und der Türkei, in Calais. An allen diesen Mauern hängen Spuren von Verzweiflung und Tod. Dort, wo es keine Mauern und Zäune zu überwinden gibt, muss ein lebensgefährlich gewordenes Meer überquert werden. In allen Fällen geben sich die Flüchtenden in die Hände mafioser Banden, die ein gutes Geschäft mit deren Misere machen. Handelt es sich hier etwa nicht um einen Krieg gegen die Armen und Ausgeschlossenen, der zu abertausenden Todesopfern führt?
Der Versuch der Geflüchteten, sich einen Weg zum Überleben zu bahnen, nimmt ganz verschiedene Formen an; je nachdem, wo sie als Erstes angehalten werden. Nehmen wir zwei Beispiele:
Das erste anhand der 4000 Menschen, die im «Dschungel von Calais» an der Küste im Norden Frankreichs mehr schlecht als recht campieren. Das zweite anhand der 4000, die im Cara (Erstaufnahmelager für Asylbewer-ber_innen) im Herzen von Sizilien «geparkt» werden.
In Calais kommen die Migrant_innen nach einer oft jahrelangen Reise mit einem großen Ziel vor Augen an: Grossbritannien. Hier werden sie von den staatlichen Sicherheitsorganen festgehalten und daran gehindert, den Ärmelkanal zu überqueren. So vervielfachen sich die verzweifelten Versuche, auf einen Lastwagen oder einen Zug aufzuspringen, um – koste es, was es wolle – den Tunnel zu durchqueren. Das gelingt kaum jemandem; weitaus höher sind die Todesopfer. Während des Wartens auf eine Möglichkeit, die Insel zu erreichen, haben die Migrant_innen an der Peripherie von Calais Tag für Tag ein prekäres Städtchen, den «Dschungel», aufgebaut, wo tausende Menschen unterkommen. Diese Übergangssituation ist für eine Vielzahl von ihnen zum Alltag geworden. Die Sicherheitskräfte zerstören zwar regelmässig die Behausungen und versuchen immer wieder den ganzen «Dschungel» kaputt zu machen. Dies erweist sich aber als vergebliche Mühe, denn die Besetzungen werden ein paar Meter weiter wieder angefangen, jedes Mal etwas entschlossener, mit Schulen, kleinen Läden, sich vermehrenden Aktivitäten und Orten des Austausches - zwischen zwei Versuchen, über den Kanal zu kommen. Wegen den Schwierigkeiten und Widersprüchen, denen es zu begegnen gilt, entschliessen sich Einige, der Mär von England zu entsagen, und ziehen diesen prekären Ort vor, an dem sich nach und nach ein gesellschaftlicher Kern geformt hat.
… oder Wegsperren?
In unserem zweiten Fall kommen die Migrant_innen mit einem der nicht gekenterten Boote aus Libyen in Sizilien an Land. Dort werden sie von den Behörden im Erstaufnahmelager Mineo untergebracht. Mineo ist eines der grössten in Europa. Das Containerdorf, nahe dem Ort Catania, ist ursprünglich für amerikanische Soldaten von der Militärbasis Sigonella gebaut worden. Im Jahr 2010 wurden bessere Unterkünfte für die Soldaten gefunden. Mineo ist ein anonymer Ort, isoliert und abgeschnitten von den umliegenden Ortschaften (die nächste ist 10 km entfernt), ohne öffentlichen Nahverkehr. In dem Blechdorf verbringen die Asylbe-werber_innen oft Jahre, bevor sie einen Bescheid bekommen. Die Unterbringungen sind überbelegt und die Bedingungen unvorstellbar. Entwurzelt und vor dem Rest der Bevölkerung versteckt, sind die Migrant_innen unsichtbar. Es ist keine Möglichkeit vorhanden, selbst zu kochen, und als Privatbesitz existiert nur eine Telefonkarte mit stark begrenzten Einheiten. Zur Krönung gibt es unzählige Polizeikontrollen, um das Kommen und Gehen innerhalb des Lagers genauestens zu überwachen. Den Menschen wird nicht das leiseste Mitspracherecht gewährt. Militär, Polizei und das Rote Kreuz entmündigen und unterbinden jegliche Handlungsspielräume. Führen wir uns die Selbstmorde und Aufstände in Mineo vor Augen, wird schnell klar, dass dieses Lager wie ein klassisches Gefängnis geführt wird.
So schlecht die Situation in Calais auch sein mag, durch die Ansätze von Selbstverwaltung und Selbstermächtigung ist der «Dschungel» wenigstens kein Gefängnis. Beim Gegenüberstellen dieser beiden Beispiele, der Selbstverwaltung in Calais und der totalen Überwachung und Kontrolle in Mineo, wird klar, was wesentlich ist. So auch im Fall von Ventimiglia, der kleinen Schwester von Calais. Von der Erfahrung in Ventimiglia zu berichten, bedeutet, auf die Bedeutung der Selbstverwaltung von Menschen und gerade auch jener, die sich auf der Flucht befinden, hinzuweisen. (…) Was können wir aus Ventimiglia lernen?
Orte des Widerstands
Einerseits gibt es die wertvolle Umgestaltung eines Ortes, der als Übergangsort mit allen möglichen Repressionsmassnahmen gedacht war, hin zu einem Ort der Selbstorganisation mit einer stabilen widerständigen Gruppe. (…) Das bedeutet auch eine Stärke in der Konfrontation mit den Neofaschisten. Denn, wie wir wissen, nutzen die Rechtsextremen seit jeher auf brutalste Weise Krisensituationen aus und versuchen einen billigen Konsens auf Kosten der Ärmsten und Schwächsten zu schaffen. Wir dürfen ihnen nicht das Terrain überlassen. (…) Andererseits stimmt es auch, dass Orte an den militarisierten Nadelöhren der Migration, wie in Ventimiglia, nicht die besten Möglichkeiten bieten, sich gut zu organisieren, weder strategisch noch logistisch. Der wirkliche Empfang der Migranti_innen mit einer breiteren Logistik findet erst beim Erreichen einer großen Stadt statt. (…)
Auch die Bewegung gegen die Trasse für Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Lyon und Turin (NoTAV) im Val di Susa hat ein neues Bewusstsein geschaffen. Durch NoTAV konnten wir komplexe Zusammenhänge mit fatalen Folgen für Mensch und Natur begreifen und eine kollektive Erfahrung des Widerstands machen. «Holt das Tal in die Stadt», «das Tal ist überall» waren die Sätze dieses intensiven historischen Momentes. Etwas Ähnliches steht beim Widerstand gegen die Festung Europa auf dem Spiel. Es können etliche Dinge getan werden, um Ventimiglia in jede Stadt zu tragen. (…)
Wende in der Geschichte?
Wir haben das Gefühl, an einem Wendepunkt der Geschichte zu stehen. Die Vervielfältigung und Verschärfung der Konflikte in ihrer Aufeinanderfolge und parallel dazu die Art und Weise, wie mit der Frage von Migration umgegangen wird, lässt keinen Zweifel am Ernst der Lage. Vielleicht erreichen wir heute das Ende eines Jahrhunderte dauernden Prozesses, in dem der westliche Kapitalismus seine Raubzüge und Brandschatzungen profitabel beherrscht hatte und sich im Hinterland verschanzen konnte? Die Abertausenden, welche vor den verschiedenen Kriegsszenarien fliehen, können nicht mehr verwaltet oder zurückgehalten werden, es sei denn, wir wollen in die düstersten Kapitel unserer Geschichte zurückkehren. (…) Dennoch wird von den Regierungen bereits viel in diese Richtung unternommen. Europa würde gerne seine Lagerpolitik in den so genannten sicheren Drittstaaten ausbauen. Der türkische Präsident Erdogan fordert einen hohen Preis und sollte dieser gezahlt werden, würden sich hunderttausende Menschen in Auffanglagern in der Türkei wiederfinden, ohne Hoffnung auf Bewegungsfreiheit. (…)
Weitere Projekte dieser Art gibt es in der Ukraine und in Nordafrika. Es ist höchste Zeit, sich dagegen aufzulehnen und von diesem Moment der Geschichte zu profitieren. Betroffen sind wir alle. Die Frage der Bewegungsfreiheit in Ventimiglia, Calais, Mineo und überall ist von enormer Bedeutung, sie ist das Herz aller Bemühungen, diese Zeiten menschlicher zu gestalten. Diejenigen, die sich gegen Rassismus und Faschismus engagieren, können nicht tatenlos den wachsenden Stacheldraht an den militarisierten Grenzen hinnehmen. Sich gegen Umweltzerstörung aufzulehnen und dabei zu akzeptieren, dass ausschließlich Waren problemlos reisen dürfen, ist unmenschlich. Wieso akzeptieren wir, dass Berge durchbohrt werden, um Container noch schneller von A nach B zu bringen und dass zur gleichen Zeit Menschen an unseren Grenzen sterben? Wer sich gegen die Präkarisierung des Lebens wehrt, gegen soziale Ungerechtigkeit, Armut und gegen eine europaweite Austeritätspolitik, kann nicht übersehen, dass die Verdammten dieser Erde, die vor unserer Türe stehen, die Vorboten eines Tsunamis sind, der, früher oder später alle mit sich reissen wird. Bewahren wir uns den Wunsch nach Menschlichkeit und den Sinn für Solidarität. (…)
Genua, Oktober 2015*
* Dieser Artikel wurde von Menschen aus dem NoBorder Umfeld in Genua geschrieben. Hier erscheint er etwas gekürzt. Die Originalfassung auf Italienisch ist zu lesen unter: La Rete No Border – Genua