FRANKREICH: Staatliche Überwachung in Dijon

von Hannah F., EBF, 13.03.2023, Veröffentlicht in Archipel 323

Im Oktober 2022 fanden die Bewohner·innen der besetzten Gärten «Les Lentillères» und des selbstverwalteten Kulturzentrums «Les Tanneries» in der französischen Stadt Dijon versteckte Überwachungskameras vor diesen beiden Orten. Ihrer Ansicht nach handelt es sich um ein Werk der französischen Polizei.

Anhand von privaten Fotos sowie Aufnahmen aus dem Internet lässt sich belegen, dass diese Kameras seit mindestens 2019 immer wieder über Zeiträume von mehreren Monaten montiert waren. Die Apparate bestanden aus einer Kamera mit schwenkbarem Objektiv und einer Antenne zur Datenübertragung und wurden über die Strommasten versorgt.

«Wir sind schockiert, aber nicht überrascht» erklärten die Betroffenen in einer Pressemitteilung. mit der sie sich an befreundete Kollektive, Vereine und Unterstützer·innen wandten. So auch an uns, das Europäische BürgerInnen Forum (EBF). «Ohne sein Wissen gefilmt zu werden, stellt eine echte Gewalt dar, ebenso wie die unerwartete Nachricht, dass seine alltäglichen Bewegungen ausgewertet, intime Momente beobachtet und sein Alltagsleben von der Polizei beobachtet wird.» Wir vom Europäischen BürgerInnenforum engagierten uns während der letzten Jahre immer wieder mit Menschen aus den beiden Kollektiven. Zuletzt gab es eine Zusammenarbeit mit den Tanneries beim Empfang der Delegation von Zapatistas und dem Congreso Nacional Indígena (CNI). Auch die besetzten Gärten Lentillères, ein vielfältiger Lebens- und Schaffensraum, sind ein Ort, mit dem wir uns immer wieder austauschen. Sei es bei der Besetzung 20101, zum Thema Saatgut, bei verschiedenen sozialen Kämpfen oder bei der Konstruktion eines Gemeinschaftshauses im Jahr 2022. [2]

«Wir leben in einer Zeit der Überwachung,»

schreiben unsere Freund·innen in ihrer Pressemitteilung, «in einer Zeit, in der die Videoüberwachung im öffentlichen Raum unter dem Vorwand der mangelnden Sicherheit immer alltäglicher wird, weitet das Innenministerium ihren Einsatz in einer getarnten, illegalen und gezielten Form aus. Während uns das eine wie das andere empört, ist die monatelange versteckte und illegale Überwachung des Lebensraums von mehreren hundert Menschen (Anwohner·innen, Nachbar·innen, Nutzer·innen, …) ein weiterer Schritt in Richtung einer Welt, in der jede Handlung und Geste dem Blick der Polizei unterliegt.»

Auf Nachfrage bestätigten die Betroffenen, dass einen Monat nach Veröffentlichung der Pressemitteilung weder Innenministerium noch Polizei Stellung dazu genommen haben. Über die Gründe der Überwachung kann also nur spekuliert werden. In der Pressemitteilung ist zu lesen: «Die Orte, die wir mit Leben füllen, unser politisches Engagement und der dadurch wachsende Widerstand stören die Regierung. Wir sind uns dessen bewusst, aber dies rechtfertigt Spionagepraktiken nicht, genauso wenig wie das Eindringen in unser politisches Engagement und in unsere Intimsphäre. Wie geht es dann weiter? Hausdurchsuchungen, um eine Acetonflasche als unwiderlegbaren Beweis dafür zu finden, dass Sprengstoff in Vorbereitung war? Eine Fahrradpumpe als Schlagstock? Unsere Bibliotheken werden durchwühlt, um ein Buch über die Geschichte der zapatistischen Revolution in die Hände zu bekommen? All das passt zu der aktuellen Regierungspraxis, Opposition gegen ihre Politik in eine kriminelle Handlung, eine kriminelle Vereinigung oder sogenannten «Ökoterrorismus» umzumünzen und zu degradieren. Wir kommunizieren, um diese Praktiken anzuprangern, um sie sichtbar zu machen und um die Freiheiten zu verteidigen, die wir glücklicherweise gewonnen haben, die aber immer mehr bedroht werden. In den letzten Jahren hat die Regierung immer wieder versucht, verschiedene ‚Fälle‘ an den Pranger zu stellen: Der jüngste und bezeichnendste Fall ist derjenige aus Bure (Widerstand gegen das Atomendlager CIGEO, Anm. d. Red.) mit dem Vorwurf einer‚ kriminellen Vereinigung‘. Unter deren Deckmantel wurden 16 Jahre lange Abhöraktionen durchgeführt, 85.000 Gespräche abgehört und 29 Personen und Orte verwanzt. Letztendlich wurden alle Angeklagten vom Vorwurf der kriminellen Vereinigung freigesprochen[3].» Die Umweltzerstörung und die Folgen der Überwachung müssen sie trotzdem tragen. Nun hat die Staatsanwaltschaft vor dem Kassationsgericht in Paris förmlich Einspruch gegen den Freispruch eingelegt. Wir werden im Archipel über das weitere Verfahren berichten.

Auch der Sprecher des Kollektivs «Bassines Non Merci», Julien Le Guet, wurde überwacht. Das Kollektiv ist Teil der Kampagne «Les soulèvements de la terre». Für 2023 sind Massendemonstrationen und Aktionen gegen den angekündigten Baubeginn des grössten derzeit in Planung befindlichen Wasserbeckens in Sainte-Soline im Departement Deux-Sèvres geplant. (Diese Megabecken sind eine weitere Stufe der Eskalation für eine industriellen Landwirtschaft, die auf Monokulturen und Umweltvergiftung aufbaut, Anm. d. Red.). Ende Januar 2023 fand ein Automechaniker einen Tracker unter Le Guets Auto, mit dem die Strafverfolgungsbehörde, die zweifelsohne hinter dem Einbau dieses Geräts steckt, ihn in Echtzeit geolokalisieren konnte.[4] Die Vorkommnisse in Dijon sind also keine Einzelfälle.

Unsere Welt ist schöner!

«Was auch immer geschieht,» schreiben die Nutzer·innen der Lentillères und Tanneries in der Pressemitteilung, «wir sind bereit, auf jeden Versuch, unsere Kollektive zu kriminalisieren, zu reagieren – über Medien, juristisch und politisch. Wir werden uns nicht einschüchtern lassen!

Wir werden weiterhin andere Wege zur Autonomie aufbauen und mit Leben füllen! Und da unsere Welt viel schöner und fröhlicher ist als ihre», luden sie am 18. Februar 2023 zu einer «festlichen Versammlung und einem Maskenball gegen die staatliche Bespitzelung ein».

Noch am Freitag, dem 17. Februar, war unklar, ob und wie viele Menschen sich der Versammlung anschliessen würden, da für den 18. Februar ein Versammlungsverbot für den gesamten Innenstadtbereich und ein verstärktes Polizeiaufgebot vom Präfekten festgelegt wurde. Die Organisator·innen hielten aber an der Versammlung in der Innenstadt fest: «Ein Verbot hält uns nicht auf», schrieben sie. «Man wirft uns vor, dass wir diese Versammlung nicht angemeldet haben, aber warum sollten wir diejenigen, die uns ausspioniert haben, um Erlaubnis bitten? Was wir geplant haben, ist ein festlicher Moment, ein Maskenball, um gegen ihre beschissene Welt zu tanzen und uns angesichts des Eingriffs in unser Leben zusammenzutun, sich einander zu unterstützen und Mut zu geben».[5] So fanden sich nach Angaben der Organisator·innen trotz Verbot über 300 Menschen auf dem zentral gelegenen Platz «François Rude» ein. Ausser einigen Taschendurchsuchungen hielt sich die Polizei im Hintergrund. Maskiert hörten die Versammelten den Redebeiträgen anderer Aktivist·inn·en und Gruppen zu wie z.B. der Liga für Menschenrechte oder der Gruppe Saccage24, welche die ökologischen und sozialen Schäden anprangern, die die Olympischen Spiele 2024 in Paris verursachen. Die Versammlung entschied sich, begleitet von einer Batucada, durch die Innenstadt zu tanzen, um lauthals gegen die Überwachung zu protestieren und Menschen einzuladen, sich dem Maskenball anzuschliessen. Gegen 16 Uhr wurden elektronische Geräte vor dem Bürgermeisteramt deponiert – als Symbol für den Unmut der Betroffenen.

«Wir sind sehr zufrieden mit der Demonstration, vor allem, dass wir uns nicht haben einschüchtern lassen und weiter an dem Aufruf festgehalten haben», berichtete uns eine der Organisator·inn·en: «Die Versammlung, das Tanzen und die Solidaritätsbekundungen haben uns Kraft gegeben.

Hannah F.

  1. «Rettet den Acker!» in Archipel 182

  2. www.reporterre.net/Quartier-libre-les-Lentilleres-de-Dijon-veulent-le-rester

  3. «Widerstand im öffentlichen Interesse» in Archipel 318 sowie «Der Staat braucht linke Übeltäter» in Archipel 303

  4. www.lessoulevementsdelaterre.org/blog/un-traceur-gps-retrouve-sous-le-vehicule-du-porte-parolede-bassines-non-merci

  5. www.dijoncter.info/rassemblement-le-18-a-14h-contre-la-surveillance-policiere-4371

Was können wir tun?

Die Betroffenen bitten, Zeugenaussagen von ähnlichen Überwachungsfällen dem Kollektiv «Stop surveillance» (Stopp Überwachung) in Dijon unter der Adresse stopsurveillance@riseup.net zu melden. Mit dieser zentralen Sammlung wollen sie weitere Öffentlichkeit schaffen.

Des Weiteren hat die «Union Syndicale Solidaires 21» Vereine, Kollektive und Personen eingeladen, die mit «Les Lentillères» und «Les Tanneries» in Verbindung stehen, um die Überwachung anzuprangern. Am 15. Februar wurde ein Unterstützungsschreiben veröffentlicht. Es kann weiterhin unterzeichnet werden, auch international:

www.framaforms.org/tribune-contre-la-surveillance-politique-au-quartier-libre-des-lentilleres-et-a-lespace-autogere-des