FRANKREICH / ITALIEN: Ein harter Winter an der Grenze

von Enrico Bonadei, RIB, 15.11.2025, Veröffentlicht in Archipel 352

Das Engagement für Geflüchtete an der französisch-italienischen Grenze geht weiter, und zwar in einem Umfeld, das feindseliger ist denn je. Die Abschiebungen auf dem Alpenpass von Montgenèvre an der französisch-italienischen Grenze zwischen Briançon und Oulx haben im Herbst 2025 wieder zugenommen.

Der französische Staatsrat[1] hatte mit seiner Entscheidung vom 2. Februar 2024 die Praxis dieser Abschiebungen nach Italien für rechtswidrig erklärt. Dieser Beschluss hatte bewirkt, dass die Rückführungen gestoppt wurden – mit der Idee, dass dieser Abschiebestopp endgültig sein würde. Leider handelte es sich aber nur um eine vorübergehende Aussetzung, die bis zum November desselben Jahres dauerte. Kurz nach der Ernennung von Bruno Retailleau zum Premierminister wurden die Rückführungen fast systematisch wieder aufgenommen. Was die Behörden früher als «Einreiseverweigerung» nach Frankreich bezeichneten, wird heute als «Rückübernahme» nach Italien verkauft. Das steht eher im Einklang mit den Abkommen von Chambéry, die sich mit «der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Polizei- und Zollangelegenheiten» befassen. Die an der Grenze eingesetzten Polizeikräfte wurden ab Mai 2025 durch mehrere Dutzend Beamte von den Spezialeinsatzkräften der «Compagnies Républicaines de Sécurité» verstärkt.

Die Atempause ist vorbei

Die Überwachung der Grenze durch Drohnen wurde von der Präfektur des Departements Hautes-Alpes im Rahmen der Militäroperation «Sentinelle» genehmigt. Und der Einsatz des Systems «Border Force», das im Februar 2023 unter der Regierung von Elisabeth Borne geschaffen wurde, ist seit der Regierung Bayrou auf alle Grenzen Frankreichs ausgeweitet worden. Auch wenn diese «Grenzstreitkraft», die Polizei, Gendarmerie, Armee und Zoll vereinen soll, derzeit eher eine Ankündigung als konkrete Realität ist, muss man feststellen, dass alle diese Ordnungskräfte zwischen Briançon und Montgenèvre bereits mit dem gemeinsamen Ziel zusammenarbeiten, den Militarisierungsgrad dieser Grenze zu erhöhen.

Die Bürger·innen-Initiative «Tous Migrants» sammelt regelmässig Berichte über Polizeigewalt und Rechtsverletzungen. Seit einigen Monaten ist eine Rückkehr bestimmter Praktiken zu beobachten, wie Verfolgungsjagden auf Flüchtende in den Bergen und damit einhergehende Verletzungen und Gefährdungen, die zwischen Februar und November 2024 nicht mehr gemeldet worden waren. «Das Schlimmste ist jedoch, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung permanent verweigert wird, selbst für sehr schutzbedürftige Menschen, die ärztliche Hilfe oder zumindest eine Untersuchung durch Fachpersonal benötigen. Wir reden hier zum Beispiel von schwangeren Frauen, die abgewiesen bzw. abgeschoben werden, von nicht beachteten Erkrankungen, ganz zu schweigen von den unwürdigen Bedingungen im Gewahrsam der Grenzpolizei vor der Abschiebung, auch für Kinder», sagt eine Mitarbeiterin des Vereins.

Abschiebung im Morgengrauen

Zusätzlich zu den verschärften Grenzkontrollen wird der Zugang zu Rechten mit jeder neuen Gesetzesänderung für alle Ausländer·innen komplizierter, auch für diejenigen, die seit Jahren einen regulären Aufenthaltsstatus haben und trotzdem immer längere und komplexere Formalitäten durchlaufen müssen, um ihre Aufenthaltsgenehmigungen zu verlängern. Ausserdem werden für mehrjährige Aufenthaltsgenehmigungen und für die Einbürgerung immer höhere Französischkenntnisse verlangt. Nach den rassistischen Razzien, welche die Regierung Retailleau Ende Juni dieses Jahres organisiert hatte, und nach der Jagd auf Ausländer·innen, die in den Gefängnissen unter einem Ausweisungsbescheid (OQTF)[2] standen, wollte das Departement Hautes-Alpes nicht zurückstehen und organisierte am 11. September einen beunruhigenden Ausweisungsversuch. Im Morgengrauen an diesem Tag wurde ein Ehepaar aus der Elfenbeinküste und ihre beiden kleinen Kinder in der Notunterkunft von Gap festgenommen, wo sie vorübergehend untergebracht waren. Sie sollten am selben Vormittag nach Italien abgeschoben werden, ohne jegliche rechtliche Grundlage und ohne nachvollziehbare Logik (warum Italien?). Die Abschiebung wurde mit der OQTF begründet, welche die Familie bei der Ablehnung ihres Asylantrags erhalten hatte und gegen die sie sofort Rechtsmittel einlegte. Dadurch war jede Abschiebungsmassnahme rechtlich ausgesetzt. Nur dank der starken Mobilisierung mehrerer solidarischer Initiativen auf beiden Seiten der Grenze konnte die Familie nach Gap zurückgebracht werden, zutiefst traumatisiert, aber entschlossen, Klage gegen die Präfektur einzureichen.

Viele Familien und Frauen mit Kindern

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Faschisierung der Institutionen und der öffentlichen Meinung organisieren sich die in der französischen Grenzstadt Briançon und ihrer Umgebung aktiven Kollektive und Vereine für die Wiederaufnahme ihrer Winteraktivitäten zur Unterstützung der Geflüchteten, die immer gefährlichere Wege in Kauf nehmen müssen, um an einen sicheren Ort zu gelangen. Die nächtlichen Streifzüge («maraudes»), um Geflüchtete in Bergnot zu finden, werden dank der gemeinsamen Aktion des Kollektivs RDRM (Réduction des Risques en Montagne, ehemals Collectif Maraudes), der Vereine Tous Migrants und RIB (Réseaux Inter Briançonnais) und der NGO Médecins du Monde bald wieder aufgenommen.

Das «Refuge Solidaire» in einem ausgedienten Sanatorium in Briançon bietet weiterhin bedingungslose Aufnahme für die Schutzsuchenden. Nach dem drastischen Personalabbau aufgrund des Finanzierungsrückgangs im Frühjahr 2025 scheint der Verein nun eine relativ stabile Arbeitsweise gefunden zu haben. Im September und Oktober wurde die Unterkunft jedoch durch die Ankunft von Menschen, die hauptsächlich aus dem Horn von Afrika (Eritrea und Äthiopien), aber auch aus dem Sudan und dem Maghreb kamen, weit über ihre Kapazitäten hinaus beansprucht. Zudem sind seit dem Frühjahr ausserordentlich viele Familien und alleinstehende Frauen mit kleinen Kindern zu verzeichnen.

«Die Atmosphäre verändert sich, wenn Kinder im Haus sind», so die Mitarbeiterin von «Tous Migrants»: «Natürlich freut sich niemand darüber, dass Kinder eine solche Unterkunft benötigen. Aber man kann feststellen, dass die Spannung, die an diesem Ort herrscht, doch ein wenig nachlässt, wenn Kinder da sind.» Auf die Frage, ob der Zugang zu Rechten für Familien und alleinstehende Frauen oder Frauen mit Kindern einfacher ist, lässt die Antwort keinen Zweifel: «Nein, es ist eine Qual! Selbst der Zugang zu Notunterkünften unter der Notfallnummer 115 ist nicht selbstverständlich. Und für diejenigen, die nach Paris oder Calais gehen, ist es so gut wie sicher, dass es keine Unterkunftsmöglichkeit gibt.»

Im Laufe der letzten Saison hat das «Collectif Maraudes» einen internen Diskussions- und Umgestaltungsprozess eingeleitet, der neben der Umbenennung in RDRM auch zu einer Erweiterung seiner Aktionen geführt hat.

Erweiterte Aktivitäten

Es werden regelmässig Einsätze organisiert, um die zwischen Briançon und dem Grenzpass Montgenèvre gelegenen Pfade und Wege, die vor allem nachts von flüchtenden Menschen nach der Grenzüberquerung benützt werden, neu zu befestigen und instand zu halten. Ausserdem wurde eine Hotline eingerichtet, auf der die Menschen in Not Hilfe rufen können, ohne dass die Polizei eingeschaltet wird. Die neue Strategie des Kollektivs zielt darauf ab, eine grössere Anzahl von potentiellen Helfer·innen zu erreichen, indem es zusätzlich zu den nächtlichen Streifzügen auch Tagesaktivitäten anbietet. Gleichzeitig will das Kollektiv eine Vorgehensweise finden, welche die Autonomie der Flüchtenden weitestgehend respektiert, um vom «Syndrom des weissen Retters» wegzukommen.

Enrico Bonadei, Réseaux Inter Briançonnais, RIB*

*Der Verein RIB stellt den Aktivist·innen des Kollektivs RDRM eine Wohnung und ein Auto zur Verfügung. Ausserdem unterstützt er logistisch und finanziell das Refugium «Chez Marcel» in Briançon. RIB bietet Hilfe durch eine Kasse für Notfälle an und hat zur Gründung der Zeitschrift «Ravages – Chroniques de lutte à la frontière franco-italienne» beigetragen.

  1. Der franz. Staatsrat (Conseil d’État) ist das oberste Verwaltungsgericht und ein Beratungsgremium der Regierung in Rechtsfragen. Die Entscheidung vom 2.2.2024 und der damit verbundene freie Reiseverkehr führte dazu, dass die Migrant·innen die Grenze gefahrlos passieren konnten. Sie wurden dadurch nicht etwa zu einem Sicherheitsrisiko für Frankreich, wie immer behauptet wird, um das restriktive Grenzregime zu rechtfertigen.

    1. OQTF= L›Obligation de Quitter le Territoire Français (dt. «Die Verpflichtung, das französische Territorium zu verlassen»), franz. Ausweisungsbescheid