Frauen nach der Ausgangssperre

von Collectif *, 02.08.2020, Veröffentlicht in Archipel 294

«Die Ausgangsbeschränkungen und die Zeit danach binden die Frauen noch mehr an den familiären und häuslichen Bereich: Nichts hat sich geändert, alles hat sich verschärft.» Mit diesem Satz haben in ganz Frankreich mehrere Bewegungen am 8. Juni 2020 zu einem feministischen Aktionstag aufgerufen. Hier sind ihre Forderungen, die auch weiterhin und für andere Länder gelten.

Wir werden uns nie daran gewöhnen, unsere Toten zu zählen. Die Art, wie das Ende der Ausgangssperre organisiert wurde, zeigt, dass es unseren Regierenden nicht mehr um die Begrenzung der Todesfälle geht, sondern dass die Wirtschaft Vorrang hat. Die Zahl der Toten soll ebenso unbedeutend werden wie die der Frauen, die von ihren Ehemännern ermordet werden, der Kinder, die von ihren Vätern getötet werden, der Migrant·inn·en, die im Mittelmeer ertrunken sind, der Opfer von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten oder der Opfer von Polizeigewalt.

Die Toten werden in Kauf genommen, weil der Profit an erster Stelle steht und kapitalistische, sexistische, rassistische, extraktivistische und ökozide Ausbeutung rechtfertigt, ohne Rücksicht auf unsere Gesundheit. Die Krise verstärkt die Ungleichheiten je nach Herkunft, Geschlecht und Klasse. Frauen stehen an vorderster Front. Die prekärsten und ärmsten Arbeit-nehmer·innen sind am stärksten von der Krankheit bedroht: Beschäftigte in Krankenhäusern, Supermärkten und in der Lebensmittelindustrie, Hauspfleger·innen und Sozialarbeiter·innen. Die am meisten verachteten und die am schlechtesten bezahlten Berufe sind die weiblichen – dennoch gelten sie heute als systemrelevant. Auch im nationalen Bildungswesen stehen Frauen an vorderster Front. Instandhaltungsarbeiter·in-nen, Kindergärtner·innen, Betreu-er·innen von Kindern mit Behinderung, Lehrer·innen: Sie alle sind mit grotesken Arbeitsbedingungen konfrontiert. In den Haushalten schliesslich sind es ebenfalls die Frauen, die hauptsächlich für Erziehungs- und Haushaltsaufgaben zuständig sind. Die Ausgangsbeschränkungen und die Zeit danach binden die Frauen noch mehr an den familiären und häuslichen Bereich: Nichts hat sich geändert, alles hat sich verschärft.

Die aktuelle Gesundheitskrise, gefolgt von einer globalen Wirtschaftskrise, führt bereits zu weit verbreiteter Prekarität und Wellen von Entlassungen. Arbeitslose, Saisonarbeiter·innen, Gelegenheits-arbeiter·innen, Prostituierte und Menschen, die sich als Sexarbei-ter·innen bezeichnen, sehen ihr Einkommen schwinden. Letztere sind dem Virus oft schutzlos ausgesetzt, weil es sich nicht alle leisten können, ihre Tätigkeit einzustellen und sie daher diese unter extrem gefährlichen Bedingungen weiterhin ausüben.

Die drohende Massenarbeitslosigkeit wird als Erpressung genutzt, um die Wirtschaftsunternehmen wieder anzukurbeln. Dies erhöht das Übertragungspotenzial des Virus und geschieht unter Missachtung des Lebens von Menschen, deren Gesundheit gefährdet ist: chronisch Kranke, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen. Bei Personen, die in medizinisch-sozialen Einrichtungen wie z.B. Behinderten-, Alters- oder Kinderheimen untergebracht sind und deren Situation auf den Entscheidungen der Verantwortlichen beruht, führt dies häufig zu einer Verschärfung ihrer Isolation.

Der Abbau öffentlicher Dienstleistungen und die Zerstörung des Solidarsystems der Kranken-, Renten- oder Arbeitslosenversicherung, die darauf abzielen, die Kosten für Lohnarbeit zu senken, bewirken, dass wir nicht in der Lage sind, auf die Gesundheitskrise und die drohende Wirtschaftskrise zu reagieren. In einem solchen Kontext kann eine Tendenz zum Rückzug in die Familie die Marginalisierung der Schwächsten und Isoliertesten verstärken: Menschen mit Behinderungen, LGBTQI-Personen, Migrant·inn·en, Alleinerziehende, isolierte ältere Menschen.

Aber der Staat fährt fort mit der Unterdrückung, die sich insbesonders auf das Personal von Krankenhäusern und Entbindungskliniken auswirkt. Sie werden nach wie vor schlecht behandelt und entlohnt. Er fährt fort, Geflüchtete ohne Papiere auszuweisen und die Revolten in Gefängnissen und in Arbeitervierteln niederzuschlagen. Dies wird umso deutlicher, weil Regierungen auf der ganzen Welt auf diese Krise mit repressiven, unterdrückenden und drastischen Massnahmen reagieren. Der Gesundheitsnotstand erlaubt es dem Staat, das Arbeitsgesetz zu kippen, und seiner Polizei, gegen Proteste vorzugehen und rassistische Gewalt zu intensivieren. Angesichts dieser neuen globalen, gesundheitlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Krise mobilisiert sich die gesamte feministische Bewegung und lässt sich von internationalen feministischen Streiks und Widerstandskämpfen inspirieren.

Unsere feministischen, antikapitalistischen und solidarischen Forderungen

Wir werden uns nicht stillschweigend von denjenigen die Massnahmen des «Nachher» diktieren lassen, deren einziges Ziel es ist, das kapitalistische Modell um jeden Preis zu retten. Wir fordern eine militante und feministische Aufhebung der Ausgangssperre. Wir fordern, dass systemrelevante Tätigkeiten, die sehr oft von Frauen ausgeübt werden, ihrem Nutzen entsprechend mehr wertgeschätzt, sozial aufgewertet und besser bezahlt werden. Wir fordern die Anerkennung der gesundheitlichen Folgen unserer Arbeit und eine Erhöhung der Löhne, vor allem in feminisierten Berufen: gleicher Lohn für Frauen und Männer und kürzere Arbeitszeiten.

Die Zerschlagung der öffentlichen Dienste und des Arbeitsgesetzes muss sofort beendet werden. Wir kämpfen für einen kostenlosen und qualitativ hochwertigen öffentlichen Sektor, der die Betreuung von Kleinkindern sicherstellt, Abhängigkeiten berücksichtigt, für Verpflegung und Sauberkeit sorgt. Wir kämpfen für Aufgabenteilung bei den häuslichen Arbeiten.

Wir fordern eine Aufstockung der öffentlichen Budgets für Forschung, Beschäftigung, massive Neueinstellungen von Krankenhauspersonal und Sozialarbeiter·inne·n sowie die Wiedereröffnung von Krankenhäusern, Serviceleistungen und Betten, die abgebaut wurden. Wir fordern freien und schnellen Zugang zu jeglicher Gesundheitsversorgung, wir verteidigen das Recht auf Abtreibung, und wir fordern eine Verlängerung der Frist für Abtreibung in allen ihren Formen.

Wir fordern dringend Wohnraum für Menschen, die stark von sozialer und wirtschaftlicher Gewalt betroffen sind: Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind, Geflüchtete, obdachlose Frauen, Prostituierte und Menschen, die sich als Sexarbeiter·innen bezeichnen, Migrant·inn·en mit oder ohne Papiere, marginalisierte LGBTQI-Personen; alle Menschen, die in staatlichen Institutionen nicht berücksichtigt werden. Um der Gewalt an Frauen und Kindern entgegentreten zu können, fordern wir ein Budget und konsequente Massnahmen, die seit vielen Jahren von feministischen Organisationen laut und deutlich verlangt werden. Wir fordern Geschlechter- und Sexual-erziehung, die für den Aufbau einer egalitären Gesellschaft unerlässlich ist, um Herrschaftsverhältnisse abzubauen.

Wir stellen unseren feministischen Kampf in das Netz der internationalen Bewegung und all der Kämpfe, die von Italien bis Rojava, von Spanien bis Südkorea und Chile, von Polen bis Mexiko oder Argentinien die Stärke und Vitalität des feministischen Kampfes demonstrieren. In einem globalen Klima der Rezession, des Rückzugs auf Nationalismus, der Zunahme rassistischer, sexistischer, LGBTQI-phober und frauenfeindlicher Bewegungen sind wir zwangsläufig internationalistisch! Es ist unerlässlich, dass wir uns kollektiv organisieren, sowohl lokal als auch über die Grenzen hinweg.

Der Feminismus verfügt über eine starke politische Handlungskraft und spielt eine wichtige Rolle für die Gesellschaft, die wir wollen: Unsere feministischen Kämpfe sind wesentlich und müssen Teil der ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Transformationen einer Gesellschaft sein, die frei von allen Beziehungen der Ausbeutung, Vorherrschaft und Unterdrückung ist. Der feministische Streik, der bereits während der Mobilisierungen vom 8. März eingesetzt wurde, muss zu einem mächtigen Aktionsmittel werden. In den letzten Monaten sind überall spontan Netzwerke der Solidarität und gegenseitigen Hilfe entstanden, die zeigen, dass die Selbstorganisation eine wesentliche Speerspitze der Gesellschaft ist, die wir anstreben. Unsere feministischen Bewegungen vereinigen sich und rufen zu einer nationalen feministischen Koordination auf.

  • Erstunterzeichnende Organisationen: Assemblée Féministe Toutes en Grève 31, Collages féminicides Rouen, Collages féminicides Toulouse, Collectif Bavardes, Collectif des Colleuses 73, Collectif Droit des Femmes 14, Collectif Émancipation, Colleurses Grenobles, Droit des femmes Rouen, FASTI, Féministes Révolutionnaires Nantes, Kurdische Frauen von Toulouse, Femmes Solidaires 76, GAMS Haute Normandie, Groupe féministe Fougères, GRAF, Marseille 8. März, Marseille Féministe, Nous Toutes (05, 35, 38, 54, 76), planning familial 06. Um der Koordination beizutreten oder für Fragen: huit.juin.feministe(a)protonmail.com