GESTE RN - HEUTE - MORGEN: Viele Grüße aus Mexiko

von Georges Lapierre, 22.06.2004, Veröffentlicht in Archipel 116

Die folgende Chronik schickte uns George Lapierre von seinem derzeitigen Wohnort, dem Bundesstaat Oaxaca. In mehreren Kapiteln (s. auch Archipel Nr. 115) schildert er das Leben in Mexiko und wirft anhand philosophischer und politischer Betrachtungen Fragen zum heutigen Europa auf.

Kevin Danaher ist einer von den sympathischen Gringos, einer der Demonstranten, die in Seattle verhaftet wurden, ein Organisator von Global Exchange . Er sagt: «Die Welthandelsorganisation ist in Wirklichkeit ein Putschversuch der Unternehmerschaft. Es geht nicht um Handel, sondern um die Macht der Unternehmer über die nationalen Regierungen, und um den Willen, die Demokratie zu umgehen.» Mir gefällt der Ausdruck: Putschversuch der Unternehmerschaft, aber das ist nichts Neues: Die französische Gegenrevolution war ein Putsch der Unternehmer, der so gut gelang, dass er ihre eigenen Erwartungen übertraf. Die totalitäre Macht der Händler, für die soziales Engagement endgültig zum Alteisen gehört, breitet sich aus. Sie bestimmt das Leben der Menschen im alten Europa, in den USA, in Kanada, in Japan…, dort, wo sie die alten Kulturen zerstört hat und die kollektive Organisation zu schwach geworden ist, um ihr einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Jetzt will sie den Warenaustausch auf Weltebene kontrollieren, und das heißt, das Leben der Menschen auf der ganzen Welt bestimmen.

Geld ist ein totalitäres Kommunikationsmittel, das alle anderen Formen der Verständigung untergräbt. Viele Kritiker des Kapitalismus bleiben auf halbem Weg stehen und sehen im Geld kein Kommunikationsmittel. Sie glauben, man könne den Kapitalismus kritisieren und mit denselben Formen der Kommunikation weiterleben, was mir absurd vorkommt. Sie fordern ein bisschen weniger Kapitalismus oder ein bisschen mehr Staat. Nur andere Formen der Verständigung, die ich «Kulturen» nenne, können als Kritik einer totalitären Kommunikationsform angesehen werden. Kultur ist in meinen Augen eine Form von Gesellschaftsleben, das auf Staat und Geld verzichten kann oder innerhalb derer sowohl Staat als auch Geld nur noch eine marginale Rolle spielen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der moderne Staat erst mit dem Kapitalismus und dem Geld als dominierendes Kommunikationsmittel entsteht.

Traditionelle Kulturen

In einer noch nicht allzu entfernten Vergangenheit gab es in Frankreich Kulturen – die bäuerliche Kultur und die Kultur der Arbeiterviertel - die eine Zeit lang widerstanden haben oder denen es gelungen ist, sich in Bezug auf das dominierende Kommunikationsmittel neu zu konstituieren. Um damit aufzuräumen, musste der Staat schwere Geschütze auffahren: Polizeirepression und zwei Weltkriege. Der erste Weltkrieg hat auf besonders effiziente Weise das Problem der bäuerlichen Welt geregelt – durch die Leere.

Die «Kritiker» von heute benützen oft, um nicht zu sagen immer, den Begriff «global» (global denken, die Globalisierung, usw.). Ich muss dabei immer an einen Frosch denken, der sich aufbläst… um größer zu werden, als der Ochse?

Diesem Begriff fehlt es an Spannkraft, und er hat nichts zu tun mit der Phänomenologie des Geistes. Wir haben es zu tun mit der Bewegung einer totalitären Denkweise die, indem sie sich objektiviert, gegen sich selbst arbeitet, d.h. gegen ihre Ausdrucksformen, die Kulturen. Saturn, der seine Kinder auffrisst, letztes Stadium der Entfremdung, wenn das Denken so weit weg ist von den Menschen, dass es sich gegen sie richtet.

Widerstand

Seattle, Genua, Cancun… bieten Gelegenheit, unserer Opposition Ausdruck zu verleihen, aber auch uns zu treffen, Ideen auszutauschen, zu debattieren. Doch das eigentliche Leben spielt sich woanders ab, auf lokaler oder regionaler Ebene, im Widerstand eines Volkes, einer Gesellschaft, einer Kultur, einer Gruppe, so klein sie auch sein mag, gegen das Aussterben. Was kann eine Indigena-Gemeinde auf einer verlorenen Pazifikinsel, die langsam am Saturnismus zugrunde geht, gegen einen multinationalen Konzern ausrichten?

Wenn Widerstand eine kleine Chance haben soll, so braucht er die Solidarität der Kulturen, ein horizontales Kontaktnetz, verstärkte Beziehungen zwischen den verschiedenen Widerstandsbewegungen, eine gegenseitige Anerkennung.

Ist es das, was in unserer Epoche auf dem Spiel steht? Zwischen, wie die Zapatisten sagen, einer Welt, die sich im Krieg befindet, gegen alle Welten und einer Welt, die alle Welten beinhaltet? Zwischen einer einfärbigen, uniformierten Welt und der Vielfalt der Kulturen?

Die kulturelle Identität wird nach den Regeln einer gegebenen Gesellschaft geschmiedet. Universalität ist Universalität des Denkens: «Ich bin ein Mensch» , weil ich vom Denken des Anderen beseelt bin, vom Gedanken des Austauschs, getrieben vom Gedanken der Gegenseitigkeit. Dieses Denken, diese Universalität ist mir gegeben, weil ich die Sitten und Bräuche meines Volkes, meiner Kultur praktiziere. Und der Andere, der andere Sitten hat, kann er ebenso Mensch sein wie ich? Meistens gestehe ich ihm im besten Falle die Möglichkeit zu, eines Tages so menschlich zu werden wie ich. Jede Gesellschaft hat die Tendenz, ihre «Universalität» allem entgegenzustellen, was nicht sie selbst ist und sich keinen Deut darum zu scheren, dass andere Kulturen aussterben.

Widerstand leisten heißt eine Verwandlung jeder einzelnen Gesellschaft, eine Mutation, die die Menschen dahin bringen würde, das Menschliche, das heißt das Universelle im Besonderen und in der Vielfalt zu erkennen, die Identität im Unterschied oder in den Unterschieden.

Ist die Universalität einzigartig? Ist sie einfach oder vielfach?

Manojel-Tojel und die Kulturrevolutin

Wenn die Zapatisten von einer Welt sprechen, die mehrere Welten beinhaltet, so könnte man hier antworten, dass die Universalität mehrere Universalitäten beinhaltet. In diesem Sinn kann ich mich als Relativist bezeichnen. Diese Idee ist in unserer Epoche entstanden, aber nicht in der so genannten westlichen Welt, wo es uns schwer fällt, die Universalität der Menschheit als vielfältig zu verstehen. Das ist unser monotheistisches und hegelianisches Erbe. Die Idee kommt aus der Welt der Indios. Das ist vielleicht kein Zufall. Für die Tzotziles ist der Gott Manojel-Tojel gleichzeitig einer und mehrere.

Um dem Totalitarismus zu widerstehen, der sie zerstört, müssen die Kulturen eine neue Autonomie aufbauen, die nicht mehr auf der Unkenntnis anderer Kulturen und auf Abkapselung fußt, sondern auf Öffnung. Die Erinnerung an die Vergangenheit wieder finden, den Weg zurückverfolgen bis zu den mythischen Vorfahren aus den Legenden, aus den Bräuchen und dem Wissen der Vorfahren schöpfen, aber die Regeln neu modellieren, damit sie nicht mehr als exklusiv erscheinen. Die Völker müssen unbedingt aus dem kulturellen Ghetto ausbrechen, in dem sie sich be-, und mit dem sie sich zu oft abfinden.

Diese Art von Kulturrevolution spielt sich zur Zeit im Kleinen in Mexiko ab, die Vermischung der Kulturen der Ikoot, Tzotzil, Wixarika, Raramuri, Mixtek, Zapotek, Tojolabal, Tzeltal, Mixe... Wir stehen hier vor einem neuen, fast unbemerkbaren, lautlosen, aber rellen und wichtigen Phänomen, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten. Diese Bewegung kann zur Auflösung der Kultur führen – die Gefahr besteht – oder aber zu einer neuen Konstruktion. Sie jetzt schon beschreiben zu wollen, wäre anmaßend. Die Kulturen sind zur Veränderung gezwungen unter dem Druck des herrschenden Systems. Die zapatistische Bewegung war der Motor dieser Veränderung, dieser Öffnung der Kulturen. Sie hat die Initiative für einen Dialog zwischen den Indio-Kulturen in Mexiko ergriffen, einen nationalen Kongress der Indigenas geschaffen und die Anerkennung der Welt der Indios durch einen Teil der Mestizengesellschaft erreicht. Diese Öffnung kann man zur Zeit anhand der Kontakte zwischen der Indigena- und der Bauernbewegung auf nationaler und internationaler Ebene über die Via Campesina beobachten.

Georges Lapierre