Noch immer, nach mehr als zweihundert Jahren, sind wir vom schönen Schein der bürgerlichen Aufklärung geblendet. Die Geschichte der Modernisierung schwelgt in Metaphern des Lichts. Die strahlende Sonne der Vernunft soll die Finsternis des Aberglaubens durchdringen und die Unordnung der Welt sichtbar machen, um die Gesellschaft endlich nach rationalen Kriterien zu gestalten.
Die Dunkelheit erscheint nicht als die andere Seite der Wahrheit, sondern als das negative Reich des Teufels. Schon die Humanisten der Renaissance polemisierten gegen ihre Feinde, indem sie diese als "Dunkelmänner" bezeichneten. "Mehr Licht!" soll Goethe 1832 auf dem Totenbett gerufen haben. Als Klassiker war er einen stilvollen Abgang schuldig.
Die Romantiker sträubten sich gegen dieses kalte Licht der Vernunft und wandten sich auf eine synthetische Weise wieder der Religion zu. Statt der abstrakten Rationalität propagierten sie einen nicht weniger abstrakten Irrationalismus. So schwelgten sie statt in Metaphern des Lichts in Metaphern der Dunkelheit. Novalis schrieb seine "Hymne an die Nacht". Aber diese bloße Umkehrung der aufklärerischen Symbolik ging eigentlich am Problem vorbei. Die Romantiker konnten die verdächtige Einseitigkeit der Aufklärung nicht überwinden, sondern sie besetzten nur den anderen Pol der Modernisierung und wurden so wirklich zu "Dunkelmännern" einer reaktionären, klerikalen Denkweise.
Aber die Symbolik der Modernisierung kann auch genau umgekehrt kritisiert werden: als paradoxe Unvernunft der kapitalistischen Vernunft selbst. Denn merkwürdig: Die aufklärerischen Metaphern des Lichts riechen geradezu nach angebranntem Mystizismus. Die Vorstellung einer überirdisch glänzenden Lichtquelle, wie sie die Idee der modernen Vernunft nahelegt, erinnert an die Beschreibungen der vom Glanz Gottes erhellten Reiche der Engel, und auch aus den religiösen Systemen des fernen Ostens kennen wir den Begriff der "Erleuchtung". Obwohl das Licht der aufklärerischen Vernunft ein irdisches ist, hat es trotzdem einen seltsam transzendentalen Charakter angenommen. Der himmlische Glanz eines schlechthin unbegreifbaren Gottes hat sich nämlich bloß säkularisiert zur monströsen Banalität des kapitalistischen Selbstzwecks, dessen Kabbalistik der irdischen Materie in der sinnlosen Anhäufung des ökonomischen Werts besteht. Das ist nicht Vernunft, sondern höherer Irrsinn; und was da leuchtet, ist der Glanz der Absurdität, der weh tut und die Augen blendet.
Erben der Aufklärung
Die irrationale Vernunft der Aufklärung will das Licht total machen. Dieses Licht ist aber keineswegs bloß ein Symbol im Reich des Gedankens, sondern es hat eine harte sozialökonomische Bedeutung. Gerade in dieser Hinsicht ist es fatal, daß der Marxismus und die historische Arbeiterbewegung sich als die wahren Erben der Aufklärung und ihrer gesellschaftlichen Metaphorik des Lichts verstanden haben. In der "Internationale", der Hymne des Marxismus, heißt es über die wunderbare sozialistische Zukunft: "Dann scheint die Sonne ohn’ Unterlass". Ein deutscher Karikaturist hat diese Zeile wörtlich genommen und zeigt im "Reich der Freiheit" schwitzende Menschen, die zur glühenden Sonne hinaufstarren und stöhnen: "Drei Jahre scheint sie jetzt schon und geht nicht mehr unter".
Das ist nicht bloß ein Witz. In gewisser Weise hat die Modernisierung tatsächlich "die Nacht zum Tag gemacht". In England, das bekanntlich Schrittmacher der Industrialisierung war, wurde die Gasbeleuchtung schon im frühen 19. Jahrhundert eingeführt und verbreitete sich bald über ganz Europa. Ende des 19. Jahrhunderts löste das elektrische Licht die Gaslampen ab. Es ist längst medizinisch nachgewiesen, daß die Verkehrung von Tag und Nacht durch das flächendeckende kalte Licht der künstlichen Sonnen den biologischen Rhythmus des Menschen stört und zu psychischen und körperlichen Schäden führt. Warum dann die gewaltige planetarische Beleuchtung, die heute den letzten Winkel erfasst hat?
Karl Marx, selber ein Erbe der Aufklärung, hatte ganz richtig festgestellt, daß der rastlose Aktivismus der kapitalistischen Produktionsweise "maßlos" sei. Diese Maßlosigkeit kann aber im Prinzip keine Zeit dulden, die "dunkel" bleibt. Denn die Zeit des Dunkels ist auch die Zeit der Ruhe, der Passivität, der Kontemplation. Der Kapitalismus verlangt dagegen die Ausdehnung seiner Aktivität bis an die äußersten physikalischen und biologischen Grenzen. Zeitlich sind diese Grenzen bestimmt durch die Drehung der Erde um sich selbst, also durch die vollen 24 Stunden des astronomischen Tages, der eine helle (der Sonne zugewandte) und eine dunkle (von der Sonne abgewandte) Seite hat. Die Tendenz des Kapitalismus ist es, die aktive Sonnenseite total zu machen und den gesamten astronomischen Tag zu besetzen. Die Nachtseite stört diesen Drang. Die Produktion, Zirkulation und Distribution der Waren soll also "rund um die Uhr" laufen, denn "Zeit ist Geld". Zum Begriff der "abstrakten Arbeit" in der modernen Warenproduktion gehört daher nicht nur ihre absolute Verlängerung, sondern auch ihre astronomische Abstraktifizierung.
Ein neues Maß für Raum und Zeit
Dieser Vorgang ist analog zur Veränderung der Raummaße. Das metrische System wurde vom Regime der französischen Revolution 1795 eingeführt und verbreitete sich ähnlich schnell wie die Gasbeleuchtung. In Deutschland fand der Übergang zu diesem System 1872 statt. Die am menschlichen Körper orientierten Raummaße (Fuß, Elle usw.), die so vielfältig differenziert waren wie die menschlichen Kulturen, wurden vom abstrakten astronomischen Maß des Meters abgelöst, der dem vierzigmillionsten Teil des Erdumfangs entsprechen soll. Diese abstrakte Vereinheitlichung des Raummaßes entsprach dem mechanistischen Weltbild der Newton'schen Physik, das wiederum Vorbild wurde für die mechanistische Ökonomie der modernen Marktwirtschaft, wie sie Adam Smith (1723-1790), der Begründer der Nationalökonomie, analysiert und propagiert hatte. Das Bild des Weltalls und der Natur als einer einzigen großen Maschine befand sich in Koinzidenz mit der ökonomischen Weltmaschine des Kapitals, und eine gemeinsame Form der physikalischen und der ökonomischen Weltmaschine wurden die astronomischen Maße. Das gilt aber nicht nur für den Raum, sondern auch für die Zeit. Dem astronomischen Meter, dem Maß des abstrakten Raums, entspricht die astronomische Stunde, das Maß der abstrakten Zeit; und dies sind auch die Maße der kapitalistischen Warenproduktion.
Erst diese abstrakte Zeit machte es möglich, den Tag der "abstrakten Arbeit" in die Nacht hineinzuschieben und die Zeit der Ruhe aufzufressen. Die abstrakte Zeit konnte von den konkreten Dingen und Verhältnissen abgelöst werden. Die meisten alten Zeitmesser, z.B. Sand- oder Wasseruhren, zeigten nicht an, "wieviel Uhr es ist", sondern sie waren auf konkrete Vorgänge geeicht, um deren "angemessene Zeit" zu zeigen. Man könnte sie viel-leicht mit einer Eieruhr vergleichen, die durch einen summenden Ton angibt, wann ein Ei hart- oder weichgekocht ist. Die Quantität der Zeit ist hier nicht abstrakt, sondern auf eine bestimmte Qualität orientiert. Die astronomische Zeit der "abstrakten Arbeit" dagegen ist losgelöst von jeder Qualität. Der Unterschied wird auch deutlich, wenn wir z.B. in mittelalterlichen Urkunden lesen, dass die Arbeitszeit der Knechte auf großen Landgütern "von Sonnenaufgang bis Mittag" dauern sollte. Das bedeutet, daß die Arbeitszeit nicht nur absolut kürzer war als heute, sondern auch relativ, indem sie je nach Jahreszeit variierte und im Winter kürzer war als im Sommer. Die abstrakte astronomische Stunde dagegen erlaubte es, unabhängig von der Jahreszeit und den körperlichen Rhythmen einen Arbeitsbeginn "um 6 Uhr" festzusetzen.
Die Zeit der Uhren
Deswegen ist die Epoche des Kapitalismus auch die Zeit der "Wecker", der Uhren also, die mit einem schrillen Signalton die Menschen aus dem Schlaf reißen, um sie an die künstlich erleuchteten "Arbeitsplätze" zu treiben. Und war erst einmal der Arbeitsbeginn in die Nacht vorverlegt, dann konnte umgekehrt auch das Arbeitsende nach hinten in die Nacht hineingeschoben werden. Diese Veränderung hat auch eine ästhetische Seite. Wie die Umwelt durch die abstrakte betriebswirtschaftliche Rationalität gewissermaßen "entstofflicht" wird, indem die Materie und ihre Zusammenhänge sich den Kriterien der Rentabilität unterwerfen müssen, so wird sie durch dieselbe Rationalität auch entdimensioniert und entproportionalisiert. Wenn uns alte Gebäude manchmal irgendwie schöner und behaglicher vorkommen als moderne, und wenn wir dann feststellen, dass sie gleichzeitig im Vergleich zu den heutigen "funktionalistischen" Gebäuden irgendwie unregelmäßig zu sein scheinen, dann ist das darauf zurückzuführen, dass ihre Maße Körpermaße und ihre Formen oft landschaftlich angepasst sind. Die moderne Architektur dagegen verwendet astronomische Raummaße und "dekontextualisierte" Formen, "losgelöst" von der Umgebung. Das gilt aber ebenso für die Zeit. Auch die moderne Architektur der Zeit ist entproportionalisiert und dekontextualisiert. Nicht nur der Raum ist häßlich geworden, sondern auch die Zeit
Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde sowohl die absolute als auch die relative Verlängerung der Arbeitszeit durch die Einführung der abstrakten astronomischen Stunde noch als Folter empfunden. Lange Zeit wehrten sich die Menschen verzweifelt gegen die mit der Industrialisierung verbundene Nachtarbeit. Vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang zu arbeiten, galt geradezu als unmoralisch. Wenn im Mittelalter Handwerker aus Termingründen einmal nachts arbeiten sollten, mussten sie üppig verpflegt und fürstlich entlohnt werden. Nachtarbeit war ein seltener Ausnahmefall. Und es gehört zu den "großen" Leistungen des Kapitalismus, dass es ihm gelungen ist, die Zeitfolter zum Normalmaß der menschlichen Tätigkeit zu machen.
Daran hat sich auch durch die Verkürzung der absoluten Arbeitszeit seit dem Frühkapitalismus nichts geändert. Im Gegenteil, die sogenannte Schichtarbeit hat sich im 20. Jahrhundert immer mehr ausgedehnt. Durch einen Zwei- oder sogar Dreischichtbetrieb sollen die Maschinen möglichst durchgehend laufen, unterbrochen nur durch kurze Pausen für Einstellung, Wartung und Reinigung. Auch die Öffnungszeiten der Läden und Kaufhäuser sollen möglichst dicht an die 24-Stunden-Grenze herangeschoben werden. In Deutschland hatten wir in diesem Jahr eine Auseinandersetzung um die gesetzliche Ladenschlusszeit, die bis dahin auf 18.30 Uhr festgesetzt war und seit dem 1. November 1996 auf 20 Uhr verlängert wurde. In vielen Ländern gibt es wie in den USA überhaupt keine gesetzlich festgelegte Ladenschlußsszeit und an zahlreichen Geschäften prangt das Schild: "24 Stunden durchgehend geöffnet". Seit die mi-kroelektronische Kommunikationstechnologie den Fluss des Geldes globalisiert hat, geht auch der Finanztag der einen Erdhälfte nahtlos in den der anderen über. "Die Finanzmärkte schlafen nie", so sagt es die Werbung einer japanischen Bank.
Weniger schlafen?
Das Licht der Aufklärungs-Vernunft ist die Beleuchtung der Nachtschicht. In demselben Maße, wie die Konkurrenz total wird, verwandelt sich der äußere, gesellschaftliche Imperativ auch in einen inneren Zwang des Individuums. Der Schlaf wird ebenso zum Feind wie die Nacht, denn solange man schläft, verpasst man Chancen und ist den Angriffen der anderen hilflos preisgegeben. Der Schlaf des marktwirtschaftlichen Menschen wird daher kurz und flach wie der eines wilden Tieres, und zwar umso mehr, je "erfolgreicher" dieser Mensch sein will. Die fremdbestimmte Arbeitsqual der mechanischen Nachtschicht erscheint auf der Ebene des Managements als "freiwilliger" Verzicht auf Schlaf. Es gibt sogar schon Management-Seminare, auf denen Techniken der Schlaf-Minimierung geübt werden können. Allen Ernstes behaupten heute Schulen des Self-Managements: "Der ideale Business-Mann schläft nie", genau wie die Finanzmärkte.
Die Unterwerfung der Menschen unter die "abstrakte Arbeit" und ihr astronomisches Zeitmaß ist aber nicht möglich ohne eine ebenso totale Kontrolle . Allseitige Kontrolle wiederum erfordert ebenso allseitige Beobachtung , und Beobachtung ist nur im Licht möglich: ungefähr so, wie die Polizei beim Verhör eine blendende Lampe auf das Gesicht des Delinquenten richtet. Nicht umsonst hat das Wort "Aufklärung" im Deutschen eine militärische Nebenbedeutung, nämlich "Auskundschaften des Feindes". Und eine Gesellschaft, in der jeder dem anderen und sich selbst zum Feind wird, weil alle dem gleichen säkularisierten Gott des Kapitals dienen müssen, wird mit logischer Notwendigkeit zu einem System der totalen Beobachtung und Selbstbeobachtung.
In einem mechanischen Universum muss auch der Mensch eine Maschine sein und maschinell bearbeitet werden. Das Licht der Aufklärung hat ihn dafür zugerichtet und "durchsichtig" gemacht. Der französische Philosoph Michel Foucault zeigt in seinem Buch "Überwachen und Strafen" (1975), wie diese totale "Sichtbarkeit" zur historischen Falle geworden ist. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts übte der Kapitalismus die totale Beobachtung noch durch eine "Pädagogik des Zuchthauses" ein, wie sie der liberale "Nützlichkeits-Philosoph" Jeremy Bentham (1748-1832) als ein ausgeklügeltes System der Organisation, der Bestrafung und sogar der Architektur für Gefängnisse, Fabriken, Büros, Krankenhäuser, Schulen und Erziehungsheime entwickelt hat.
Die marktwirtschaftliche Öffentlichkeit ist keine Sphäre der freien Kommunikation, sondern eine Sphäre der Beobachtung und der Kontrolle. Das erinnert an die negative Utopie "1984" von George Orwell. War diese Kontrolle in den totalitären Diktaturen eine äußerliche durch den bürokratischen Staats- und Polizei-Apparat, so ist sie in der Demokratie zur verinnerlichten Selbstkontrolle geworden, ergänzt durch die kommerziellen Medien, in denen sich die Scheinwerfer der Konzentrationslager in die Lichter eines ungeheueren Rummelplatzes verwandelt haben. Hier wird nicht frei diskutiert, sondern gnadenlos ausgeleuchtet. In der kommerziellen Demokratie hat sich dieses System so verfeinert, daß die Individuen ganz von selber den kapitalistischen Imperativen gehorchen und gewohnheitsmäßig der eingeätzten Spur folgen wie programmierte Roboter.
Der Marxismus wurde im Gegensatz zu seinem eigenen sozialen Anspruch ein Protagonist der "abstrakten Arbeit", indem er dem mechanistischen Denken der Aufklärung und ihrer perfiden Symbolik des Lichts verfiel. Alles, was am Marxismus despotisch war, entstammt dem aufklärerischen Liberalismus. Umgekehrt verbündeten sich die Romantiker, die der dunklen Seite der Wahrheit zu ihrem Recht verhelfen wollten, nicht mit der sozialen Emanzipation, sondern mit der politischen Reaktion. Nur wenn Nacht, Schlaf und Traum aus dieser reaktionären Gefangenschaft befreit werden, können sie zu Parolen einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik werden. Widerstand gegen den totalen Markt beginnt vielleicht dort, wo die Menschen sich rücksichtslos das Recht nehmen, erst einmal gründlich auszuschlafen.
Robert Kurz