GESTERN-HEUTE-MORGEN: Die Machnowtschina

von Caroline Meijers, Undervelier, 15.12.2021, Veröffentlicht in Archipel 309

Vor 100 Jahren wurde die anarchistische Bewegung Machnowtschina in der Ukraine (1917-1921) von der sowjetischen Regierung unter Lenin und Trotzki blutig beendet. Heute ist dieser politische und soziale Versuch, ein Land anarchistisch selbst zu verwalten, beinahe in Vergessenheit geraten.

Nestor Machno – Bauer und Anarchist

«Ich bin ein Bauer und wurde in Guliai-Polje, einer Ortschaft in der Region Jekaterinoslaw in der Ukraine, geboren. Meine Eltern waren zunächst Leibeigene und später freie Bauern. Nach den Erzählungen meiner Mutter war ihr Leben unter der Leibeigenschaft entsetzlich. Noch als Kind wurde sie zweimal mit Ruten geschlagen. [...]» (1)

Diese Worte stammen von Nestor Machno, einem armen Bauern aus der Ukraine, der zu «Batko Machno» wurde, was auf Ukrainisch «Väterchen Machno» bedeutet. Der Titel wurde ihm nicht wegen seines Alters verliehen, sondern wegen seines militärischen Genies, seines Mutes, seiner Unbestechlichkeit und seiner Treue zu den anarchistischen Ideen. Diese Ideen setzte er, zusammen mit seinen Freunden von der anarchistisch-kommunistischen Bauerngruppe Guliai-Polje, in einem Gebiet von der Grösse halb Frankreichs zwischen den Flüssen Don und Dnepr in der Ukraine, in die Praxis um – bis die sowjetische Rote Armee unter Lenin (2) und Trotzki diese Bewegung, die man «Machnowtschina» nannte, vernichtete.

Was davor geschah

Wir schreiben den 1. März 1917. Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 wird Russland eine parlamentarische Demokratie und viele politische Gefangene werden freigelassen. Machno erzählt: «Ich taumelte auf die Strasse, die Abwesenheit der Fesseln, die ich acht Jahre lang getragen hatte, waren mir ungewohnt. Eine riesige Menschenmenge erwartete uns und jubelte uns zu, indem sie rief: Es lebe die Freilassung der politischen Gefangenen!» Die meisten seiner anarchistischen Kameraden bleiben in Moskau, wo sie unter dem Zarenregime inhaftiert worden waren, aber Nestor kehrt in sein Dorf zurück, um sich wieder seiner anarchistisch-kommunistischen Bauerngruppe anzuschliessen und zu versuchen, endlich seine anarchistischen Ideale zu verwirklichen. Er ist damals 28 Jahre alt.

Gleich nach seiner Rückkehr nach Gulyai-Polje rief Nestor seine Freunde von der anarchistisch-kommunistischen Bauerngruppe zusammen und begann mit ihnen, revolutionäre Organe aufzubauen: Zunächst liessen sie ein neues Gemeindekomitee (die Verwaltungseinheit der Koalitionsregierung) wählen, das repräsentativ für die Landbevölkerung war. Im April 1917 wurde Machno zum Leiter dieses Komitees gewählt. Daraufhin gründeten sie mit den Bauern die «Union der Bauern von Gulyai-Polje» (später «Sowjet der Bauern- und Arbeiterdeputierten» genannt), zu dessen Vorsitzenden Nestor Machno gewählt wurde. Arbeiter schlossen sich der Bewegung an: Die Gewerkschaft der Metall- und Holzarbeiter in Gulyai-Polje bat Nestor, ihr bei der Gründung eines Verbandes zu helfen, sich selbst einzuschreiben und bei der Organisation eines Streiks zu helfen. Also machte man sich an die Arbeit: «Die anarchistische Gruppe schlug vor, unverzüglich Land und Besitz zu enteignen, um freie Agrarkommunen zu organisieren, wenn möglich unter Beteiligung eben dieser Pomechtschiks und Kulaken [reiche Grundbesitzer und Bauern, Anm. d. Autorin]. Wenn sie sich weigerten, sich der Familie der freien Bauern anzuschliessen, und den Wunsch äusserten, auf eigene Faust, jeder für sich, zu arbeiten, sollten sie ihren Anteil an den gesellschaftlichen Gütern, die sie besessen hatten, und die Mittel, von ihrer Arbeit zu leben, unabhängig von den Agrargemeinschaften erhalten.»(1) Dies wurde auch getan, und zwar noch vor der Oktoberrevolution 1917, in deren Folge die Bolschewiki und Sozialrevolutionäre die Abschaffung des Privateigentums verkündeten.

«Das Volk muss in seinem eigenen Haus souverän sein. Die Zeit ist endlich gekommen, um seinen jahrhundertealten Traum zu verwirklichen. Von nun an sollen das Land, die Fabriken und Betriebe den Arbeitern gehören. Die Bauern werden die Herrscher über das Land sein, die Arbeiter die Herrscher über die Fabriken und Betriebe.»(1)

Ein wahrer Volksaufstand

Um die umliegenden Dörfer davon zu überzeugen, dem Beispiel von Gulyai-Polje zu folgen, reisten Nestor und seine Freunde von Dorf zu Dorf, besuchten aber auch die Fabriken in den Städten. Überall, wo sie hinkamen, stiessen ihre Ideen auf Begeisterung und Zustimmung, und die Bauern und Arbeiter emanzipierten sich in einem Akt der Autonomie und Selbstbestimmung von ihren Chefs und Grundbesitzern. Gulyai-Polje wird zum Zentrum eines wahren Volksaufstandes in der Ukraine. Den Anarchisten gelingt es, die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung von ihren Ideen zu überzeugen – auf Kosten der Bolschewiki und der Sozialrevolutionäre, die erfolglos versuchen, die Bevölkerung zum Beitritt in ihre politischen Parteien zu bewegen.

«Seit Ende August hatten die Bauern uns verstanden und zersplitterten ihre Kräfte nicht mehr auf die verschiedenen politischen Gruppierungen, die nicht in der Lage waren, etwas Entscheidendes und Dauerhaftes zu erreichen. Und je besser sie uns verstanden, desto mehr glaubten sie an sich selbst, an die Rolle, die ihnen in der Revolution zukam: das Recht auf Privateigentum an Land abzuschaffen, es zu kollektivem Eigentum zu erklären und dann, nachdem sie sich mit den Proletariern in den Städten geeinigt hatten, jede Form von Privilegien und jede Möglichkeit der sozialen Herrschaft abzuschaffen.»(1)

Die Unterstützung dieser Aktionen für die Enteignung und Kollektivierung des Landes durch eine ländliche und zudem teilweise analphabetische Bevölkerung mag überraschen. Sie lässt sich durch mehrere Faktoren erklären, von denen der wichtigste sicherlich die unermüdliche Propagandaarbeit der anarchistisch-kommunistischen Bauerngruppe von Gulyai-Polje ist, die bereits seit 1905 aktiv war. Makhno war damals 16 Jahre alt.

Bewaffneter Widerstand

Im August 1917, nach der Offensive der sogenannten «weissen», also der zaristischen russischen Generäle gegen die laufende Revolution, wurde in Gulyai-Polje ein «Komitee zur Verteidigung der Revolution» gewählt, mit Nestor Machno als Vorsitzendem. «Es wurde sofort beschlossen, die gesamte Bourgeoisie der Region zu entwaffnen und ihre Rechte auf den Reichtum des Volkes – Land, Fabriken, Druckereien, Veranstaltungsräume und andere Staatsbetriebe – abzuschaffen. Denn um dem Vormarsch von Kornilow [weisser General, Anm. d. Autorin] Einhalt zu gebieten, musste zuerst die bürgerliche Herrschaft beendet werden [...].

Ich wurde mit einem riesigen Ruf begrüsst: ‘Es lebe die Revolution! Es lebe ihr treuer Verteidiger, unser Freund Genosse Machno!’ Ich spürte, dass ich diese Jubelrufe nicht verdient hatte; deshalb verlangte ich Ruhe und bat die Demonstranten, mir zuzuhören. Doch die Menge hob mich auf ihre Schultern und rief immer wieder: ‘Es lebe die Revolution! Es lebe Genosse Machno!’ Als sie sich beruhigt hatten, fragte ich sie, warum sie die Arbeit niedergelegt hatten und warum sie zum Komitee zur Verteidigung der Revolution gekommen waren. ‘Wir sind gekommen, um uns ihm zur Verfügung zu stellen’, sagten sie, ‘und wir sind nicht die Einzigen.’ ‘Es gibt also Schiesspulver in den Pulvermagazinen?’ ‘Ja, das gibt es, und zwar in grossen Mengen!’»(1)

Die Machnowtschina, die das gleichnamige Lied inspirierte, war eine echte Aufstandsarmee, die bis zu 29.000 Kämpfer an der Front und 200.000 Mann in der Reserve hatte, weil es nicht genug Waffen gab(4). Diese Armee wurde im September 1918 mit der Unterstützung der Bevölkerung von Gulyai-Polié gegründet, die Nestor erneut zu ihrem – diesmal militärischen – Führer wählte. Sie kämpfte erfolgreich gegen die Offensiven der Weissen Armeen und der deutsch-österreichischen Armeen sowie gegen die ukrainischen Nationalisten von Petljura und die Kosaken am Don sowie diejenigen von Kuban und Tejek, die sich den Weissen Armeen angeschlossen hatten.

Doch sobald die Gefahr der konterrevolutionären Armeen gebannt war, wandten sich die Bolschewiki gegen die Bewegung der Machnowisten, um die Ukraine unter ihre Kontrolle zu bringen. Ab Januar 1920 versuchten sie, die Machnowtschina zu enthaupten, indem sie einige von Machnos engsten Gefährten eliminierten. Dank der Unterstützung der Bevölkerung hielten die Machnowisten fast zehn Monate lang gegen die zahlenmässig und waffentechnisch weit überlegene Rote Armee stand. Ihr Kampf endete jedoch im August 1921, nachdem die meisten von ihnen massakriert worden waren. Auch die Zivilbevölkerung zahlte einen hohen Preis: «Pjotr Archinow, der Memorialist der Machnowtschina und Augenzeuge dieses Vernichtungskrieges, schätzt für das Jahr 1920 nach den gemässigsten Berechnungen die Zahl der von den bolschewistischen Behörden erschossenen oder verstümmelten Bauern auf fast zweihunderttausend!»(3)

Warum so viel Hass?

Das erklärte Ziel der herrschenden Bolschewiki mit Lenin an der Spitze war es, an der Macht zu bleiben, koste es, was es wolle. In diesem Sinne ist klar, dass die libertären Anhänger der Machnowtschina, die die Selbstbestimmung der Bauern und Arbeiter auf ihrem Land und in ihren Fabriken forderten, diesen absoluten Machthunger der Bolschewiki behinderten. Für sie waren die Bauern und Arbeiter «nicht reif», um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Die Bolschewiki hatten es aber nicht nur auf Anarchisten abgesehen; alle andere politische Strömungen, darunter die Sozialrevolutionäre, ihre früheren Verbündeten, wurden von der Macht verdrängt und ihre Vertreter verfolgt oder sogar beseitigt.

Um die Vernichtung der Machnowtschina zu legitimieren, griffen die Bolschewiki auf eine bewährte Methode zurück: Verleumdungskampagnen in der Presse, in denen Machnos Mitstreiter des Banditentums, des Alkoholismus, der Plünderungen, des Antisemitismus, der Gewalt gegen Frauen usw. beschuldigt wurden. Der Vorwurf, der Machno am meisten empörte, war der des Antisemitismus, weshalb wir ihm zu seiner Verteidigung das Wort erteilen: «Jüdische Bürger! In meinem ersten Appell an die Juden, der von der französischen Zeitung Le Libertaire veröffentlicht wurde, bat ich euch, sowohl die Bürgerlichen als auch die Sozialisten und sogar Anarchisten wie Yanovsky, die alle von mir als Pogromisten sprachen und die Befreiungsbewegung der ukrainischen Bauern und Arbeiter, die ich anführte, des Antisemitismus bezichtigten, mir genaue Fakten zu nennen: Wo und wann haben ich oder die oben genannte Bewegung solche Taten begangen? [...] Bisher ist mir keine derartige Antwort bekannt. [...] Ausserdem spielten in dieser Bewegung revolutionäre Kampfeinheiten, die aus jüdischen Arbeitern bestanden, eine führende Rolle.» Auch die Forschungen von Tscherikover, der sich auf die Erforschung der Verfolgung und Pogrome gegen Juden in der Ukraine spezialisiert hat, kommen zu dem Schluss, dass es in der Machnowtschina keinen Antisemitismus gab: «Es ist unbestreitbar, dass sich von all diesen Armeen, einschliesslich der Roten Armee, die Machnowtschina am besten gegenüber der Zivilbevölkerung im Allgemeinen und der jüdischen Bevölkerung im Besonderen verhalten hat.»(3)

Uns bleibt nur zu wünschen, dass dieses konkrete Experiment der Selbstverwaltung, das in einem Gebiet, acht Mal so gross wie die Schweiz, mit mindestens zwei Millionen Menschen durchgeführt wurde, uns als Beispiel dient.

Ein Beispiel für die Möglichkeiten, die wir haben, wenn wir den Mut und die Entschlossenheit aufbringen, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ein Beispiel, das uns zeigen soll, dass der Mensch nicht von Natur aus egoistisch und gleichgültig ist, dass er zu grossen Dingen fähig ist! Hut ab vor Nestor Machno, Semjon Karetnik, Petja Ljuty, Alexej Martschenko, Fedor Schtschus, Wassili Kurilenko und all den anderen, die ihren Willen, ihre anarchistischen Ideen in die Tat umzusetzen zu einem Grossteil mit dem Leben bezahlten – die meisten von ihnen wurden nicht einmal 30 Jahre alt.(4)

Caroline Meijers, Geschichte und Philosophie Studierende

  1. Dieses und alle weiteren mit 1 gekennzeichneten Zitate stammen aus der Feder Machnos und sind Auszüge aus seinen Memoiren, die es leider nur auf Französisch gibt: Nestor Makhno, «Mémoires et écrits», 1917-1932, Verlag Ivrea, Paris, 2009
  2. «Erinnerungen an Vladimir Iljitsch Lenin», Band XXXV, Seite 488.
  3. Alexandre Skirda, Nestor Makhno, «Le cosaque libertaire», 1888-1934, les Éditions de Paris, 1999.
  4. 90 Prozent der Anhänger der Machnowitschina-Bewegung wurden umgebracht. Machno selber überlebte und ging nach Paris ins Exil, wo er am 16. März 1934 in ärmsten Verhältnissen an Tuberkulose starb.

Kasten:

«Machnowtschina, Machnowtschina Deine Fahnen sind schwarz im Wind Sie sind schwarz von unserem Schmerze Rot vom Blute, das hier rinnt

Lenin hat im Frühling beschlossen dass die Ukraine an Deutschland geht Doch im Herbst hat die Machnowtschina die Deutschen in den Wind verweht»

Machnowtschina, Machnowtschina Die Armee unserer Partisanen Aus der Ukraine wollen wir vertreiben Für immer alle Tyrannen!»

Dieser Text von Etienne Roda-Gil leiht sich das musikalische Thema eines russischen bolschewistischen Liedes, «Die Partisanen» von T. Aturov, um der Machnowtschina zu huldigen.