GESTERN - HEUTE - MORGEN: Die Russische Revolution von 1917

von Jean-Marie Chauvier, 02.06.2010, Veröffentlicht in Archipel 154

Der folgende Text ist der zweite Teil der in der letzten Ausgabe begonnenen Artikelreihe von Jean-Marie Chauvier, Journalist und Spezialist für Russland und die ehemalige Sowjetunion. Wir werden die folgenden Teile in den nächsten Nummern des Archipel veröffentlichen.

Im April kommt es zur ersten Regierungskrise. Grund dafür sind die Kriegsführung und die damit verbundene Verstimmung der westlichen Bündnispartner. Der Auslöser ist eine Erklärung des liberalen Ministers Miljukow, von der Partei der Konstitutionellen Demokraten, in der er die Russen an ihre Kriegsverpflichtungen erinnert.

Die Anarchisten und die «Zimmerwalder» 1, Bolschewiki und Pazifisten verbreiten Friedensideen und rufen zur Verbrüderung der feindlichen Armeen in den Schützengräben auf. Fraternisierungen dieser Art finden im März und April 1917 zwischen russischen und österreichisch-ungarischen Soldaten statt – zur großen Entrüstung der französischen und englischen Alliierten sowie der gemäßigten Sozialisten, die für eine Weiterführung des Krieges eintreten.

«Proletarier Europas!», heißt es im Zimmerwalder Manifest 2, «Mehr als ein Jahr dauert der Krieg. Millionen von Leichen bedecken die Schlachtfelder, Millionen von Menschen wurden für ihr ganzes Leben zu Krüppeln gemacht. Europa gleicht einem gigantischen Menschenschlachthaus.» Nach Ansicht seiner Verfasser «begraben» die für diesen Krieg verantwortlichen Kapitalisten «auf den Stätten der Verwüstung die Freiheit des eigenen Volkes mitsamt der Unabhängigkeit anderer Nationen.»

Die Zimmerwalder Dissidenten prangern die sozialistischen Parteien an, die für die Kriegskredite gestimmt und sich im Schlepptau ihrer nationalen Bourgeoisien dem «Burgfrieden», d.h. dem kriegerischen Patriotismus, angeschlossen haben. Sie fordern «einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen» und «das Selbstbestimmungsrecht der Völker». Sie rufen die Arbeiter auf, «den tatkräftigen Kampf für den Frieden gleichzeitig in allen Ländern aufzunehmen (…) für die Erlösung der unterdrückten Völker wie der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf.» Das Manifest schließt mit den Worten: «Arbeiter und Arbeiterinnen! Mütter und Väter! Witwen und Waisen! Verwundete und Verkrüppelte! Euch allen, die ihr vom Kriege und durch den Krieg leidet, rufen wir zu: Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg, Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!»

Mehrere Russen gehören zu den Unterzeichnern des Zimmerwalder Manifests, darunter Lenin. Er wollte noch einen Schritt weiter gehen: bis zum Bruch mit der II. Internationale und zur Schaffung einer III. – kommunistischen – Internationale, die im Jahr 1919 das Licht der Welt erblicken wird.

In der Zwischenzeit verbreiten Anarchisten, Bolschewiki und Pazifisten solcherart Propaganda in den Schützengräben. Und in diesem Sinne stellt sich Lenin vor, den Krieg in die Revolution umzuwandeln. Das wird ihm in Russland den Vorwurf einbringen, ein Verräter oder gar ein Deutscher Agent zu sein. Aber für immer mehr Soldaten nimmt die Idee von Zimmerwald Gestalt an, wird zur Konkretisierung der nachfolgenden Zeilen aus einer Strophe der Internationalen 3:

«Die Könige benebeln uns

mit Rauch.

Friede unter uns, Krieg den

Tyrannen!

Bestreiken wir die Armeen!

Gewehre in die Luft, sprengen wir die Reihen!»

Lenins «Aprilthesen» Die leninistischen Bolschewiki bewirken eine Neuverteilung der Karten im politischen Kräftespiel Russlands. Warum unterscheiden wir hier zwischen «Bolschewismus» und «Leninismus», die üblicherweise im gleichen Atemzug genannt werden?

Die Bolschewiki sind der äußere linke Flügel der russischen Sozialdemokratie. Aber sie sind damals, in der ersten Hälfte des Jahres 1917, keine Verfechter einer gewaltsamen sozialistischen Revolution. In ihrem Manifest vom Februar 1917 ist nicht vom Sozialismus die Rede, sondern von Rechten und Freiheiten, vom Achtstundentag und einer verfassungsgebenden – in allgemeinen, freien Wahlen gewählten – Nationalversammlung. Die Bolschewiki sind für die demokratische Republik. Sie unterscheiden sich also nicht in der Zielsetzung von den anderen Sozialisten, sondern nur in ihrem Bestreben, der Bourgeoisie die Führung des revolutionären Prozesses aus der Hand zu nehmen.

Im April kehrt Lenin – wie viele andere russische Emigranten – aus dem Exil zurück und löst ein politisches Erdbeben auch innerhalb seiner eigenen Partei, den Bolschewiki, aus. Auf seiner Heimreise hat er Deutschland, dank einer Abmachung mit dem Deutschen Reich, an Bord des berühmten plombierten Wagons durchquert, der vom Schweizer Sozialisten Fritz Platten reserviert und bezahlt wurde. An der Endstation, dem Rigaer Bahnhof von Petrograd, wird ihm ein triumphaler Empfang bereitet. Zu diesem Zeitpunkt macht er seine «Aprilthesen» bekannt, in denen er für den Bruch mit der Regierung und für die sofortige Beendigung des Krieges eintritt.

Es bräuchte keine parlamentarische Demokratie – so Lenin – sondern eine «Sowjet»- d. h. eine Räterepublik, ein basisdemokratisches System, mit Sowjets im ganzen Land, die sich aus Delegierten der Fa-brik- und Landarbeiter sowie aus Bauernvertretern zusammensetzen. Lenin übernimmt auch anarchistische Ideen, wie die Auflösung der Polizei, der Armee (eine Volksarmee, also das bewaffnete Volk, soll anstelle des stehenden Heeres treten) und des Beamtenkorps. Die Beamten sollen von den Sowjets gewählt werden und auch jederzeit wieder von ihnen abberufen werden können, ihre Gehälter den Durchschnittslohn eines Facharbeiters nicht überschreiten.

Im Agrarprogramm greift Lenin Forderungen der Sozialrevolutionäre und der bäuerlichen Bewegung für die Landreform auf: Verstaatlichung des Bodens, der den Bauernsowjets zur Verfügung gestellt wird. Die Sozialrevolutionäre verstehen sich als Sprecher aller Bauern (die sie auch tatsächlich repräsentieren), während sich Lenin (der auf dem Land überhaupt keinen Einfluss hat), auf die Kleinbauern und Landlosen bezieht – ein Unterschied, der nach dem Oktober Bedeutung haben wird.

Lenin spricht sich für die sofortige Fusion aller russischen Banken zu einer Nationalbank – unter Aufsicht der Sowjets – aus. Er präzisiert, dass es nicht um die Einführung des Sozialismus geht, sondern lediglich um die Kontrolle der Arbeiter über die Produktion und die Verteilung der durch sie geschaffenen Güter. Diese Programmänderung Lenins wurde als Zustimmung zu Trotzkis Theorie von der «Permanenten Revolution» interpretiert. Jedenfalls bedeutet sie den Bruch mit den gemäßigten Sozialisten ebenso wie mit zahlreichen Bolschewiki, die bei der Februaretappe stehen bleiben und die bürgerlich-demokratische Revolution festigen wollten. Im April 1917 gibt Lenin die Parole aus: «Es lebe die Sozialistische Revolution». In einer Ansprache vor Matrosen ruft er zur «Sozialen Revolution» auf. Die Wörter «Sozialismus» und «sozial» tauchen nun immer häufiger in seinen Reden auf. Offensichtlich rechnet er mit einer internationalen Revolution, dem einzig möglichen Rahmen für die Umsetzung des Sozialismus. Im Bewusstsein der Avantgarde der Arbeiterklasse verheißen diese Appelle die Hoffnung, dass der große Tag nicht mehr weit und der Sozialismus zum Greifen nahe sei.

Die Verbreitung pazifistischer Ideen erschüttert die Position des Außenministers Miljukow. Er gerät unter wachsenden Druck der Bündnispartner Russlands, deren Kriegspropaganda eine Protestwelle auslöst.

Am 21. April wird eine Großkundgebung in Petrograd um ein Haar vom Kosakengeneral Kornilow niedergeschlagen. Aber die Truppen weigern sich, auf die demonstrierenden Arbeiter zu schießen. Eine Koalitionsregierung wird gebildet. Der Präsident an ihrer Spitze bleibt Fürst Lwow, Miljukow hingegen wird am 2. Mai entlassen. Am 5. Mai steht die Koalition. Drei gemäßigte Sozialisten werden in die Regierung aufgenommen: Tschernow (Landwirtschafts-), Tsereteli (Post-), und Kerenski (Kriegsminister). Es wird also ein Kompromiss gefunden zwischen den von der Wendung der Ereignisse erschrockenen Liberalen und Kerenski, der versucht, diese Ereignisse mit einer breiten «patriotischen Mobilisierung» zu kanalisieren. Nicht ohne psychologischen Erfolg: Angesichts der deutschen Angriffe lässt sich die Fortsetzung des Krieges tatsächlich als eine «Verteidigung der Revolution» darstellen. Die Bolschewiki (nicht alle!), Gegner dieser Politik des «revolutionären Defensivismus», bleiben in der Minderheit. Delegationen europäischer Sozialisten – darunter eine belgische mit De Brouckère, De Man und Vandervelde – bereisen im Mai und Juni Russland, um im Namen des Marxismus und der Arbeitersolidarität den «russischen Patriotismus» zu wecken. Bei einem Besuch der Truppen an der Südwestfront, wo es bereits vermehrt zu Desertionen kommt, schlagen De Man und Vandervelde dem sozialrevolutionären Politkommissar von Galizien, Boris Sawinkow, vor, aufgegriffene Deserteure als abschreckendes Beispiel erschießen zu lassen, was Sawinkow ablehnt.

Mai-Juni: Die Krise des Regimes Während die politische Krise zumindest oberflächlich entschärft ist, spitzt sich die soziale Krise zu:

Auf dem Land besetzen Landlosen- und Bauernkomitees die Güter. Die Spekulationsgeschäfte der Händler und Börsenmakler treiben den Getreidepreis in die Höhe und lösen Hamsterkäufe aus. Die damit verbundene Verteuerung verstärkt den Unmut in den Städten. Die Versorgungslage hat sich seit dem Februar noch verschlimmert.

In der Industrie und im Transportwesen wirken sich Rohstoffknappheit und die durch den Krieg bedingte Desorganisation zunehmend aus, während der Arbeitseifer in der Produktion nachlässt. Lohnerhöhungen, Forderungen und Streiks versetzen eine Unternehmerschaft in Schrekken, die geglaubt hatte, mit der Februarkrise leicht fertig werden und schnell zur Tagesordnung übergehen zu können.

Die Basis ist gespalten. Die Sowjets werden mehrheitlich von Sozialrevolutionären und Menschewiki dominiert. Aber der Einfluss der Bolschewiki wächst: in den Zentren des Bergbaus und der Metallverarbeitung und vor allem innerhalb der Fabrik- und Soldatenkomitees, die man als die «zweite Sowjet-Welle» bezeichnet. Diese aufstrebende Bewegung, stellt die etablierten Führungsspitzen der sozialistischen Parteien und der Sowjets in Frage.

Im Mai formiert sich die Konterrevolution. Zu den Unruhen auf dem Land kommen noch antijüdische Pogrome in Bessarabien und Nischni-Nowgorod. Die Presse bauscht anarchische Zustände und Desertionen auf. «Diese Kampagne der Rechten», schreibt Marc Ferro, «zielte darauf ab, die Revolution in Verruf zu bringen, indem sie ihre Exzesse übertrieb und die Verantwortung dafür den Bolschewiki und Anarchisten –’lauter Juden’ – zuschob. Die Rechte stützte sich vermehrt auf organisierte Kräfte wie die Kirche, die Kosaken, den Offizierskongress…» Anfang Juni tagt der Kosakenkongress und schließt sich dieser ersten großen reaktionären Welle seit dem Februar an.

Noch scheint das Februarregime eine Chance zu haben. 20 Millionen Menschen beteiligen sich an den Wahlen der Sowjets. Die Resultate zeigen eine Zustimmung für die neue sozialistisch-liberale Koalition: Von 1.090 gewählten Delegierten sind 285 Sozialrevolutionäre, 248 Menschewiki und – erst an dritter Stelle – 105 Bolschewiki. Der erste Kongress der Sowjets, vom 3. bis zum 24. Juni, steht unter dem enormen Erwartungsdruck seiner Wähler. Erschüttert von der rasanten Entwicklung der Ereignisse, tritt die Zerrissenheit des Kongresses offen zutage. Die soziale Krise wütet, die Ablehnung des Krieges erfasst immer breitere Kreise, ein Innehalten ist offensichtlich nicht mehr möglich. An der Basis – in den Fabrik-, Quartier-, und Soldatenkomitees – wächst die Opposition gegen die «institutionellen Sowjets». Die «zweite Sowjet-Welle» rollt zu Gunsten der Bolschewiki. Auf einer Großdemonstration am 18. Juni zeigt sich, welche Popularität die Leninsche Losung: «Alle Macht den Räten» inzwischen gewonnen hat. Die Sowjet-Prominenz fühlt sich überrumpelt, ihre Legitimität, die Kerenskis und die der Regierung stehen auf dem Spiel. Der 18. Juni kündigt den Zerfall des Februarregimes an, oder – anders ausgedrückt – ist der Anfang vom Ende der jungen russischen Demokratie zugunsten einer gewaltsamen Lösung. In weniger als fünf Monaten, von Februar bis Juni, scheint die demokratische Revolution ihr Potential erschöpft zu haben. Die Hoffnung auf eine parlamentarische Demokratie ist – wie manche sagen werden, mangels einer gefestigten Bourgeoisie – bereits zerstört. Aber gefestigt oder nicht, die Bourgeoisie und ihre Verbündeten, die gemäßigten Sozialisten, konnten die Erwartungen der Bevölkerung – Land und Frieden – nicht erfüllen. Nur die Bolschewiki, die linken Sozialrevolutionäre und die Anarchisten waren in der Bewegung präsent. Die erste Phase der Russischen Revolution ermöglicht genau genommen, dass diese Erwartungen zum Ausdruck kommen. «Pausenlos spontane Versammlungen «schreibt Konstantin Paustowski, «in wenigen Monaten sagt Russland alles, was es während Jahrhunderten verschwiegen hat».

  1. In Zimmerwald, einem Dorf in der Nähe von Bern, versammelten sich im September 1915 Sozialisten und Pazifisten, die in Opposition zu den sozialistischen Führungsspitzen der II. Internationale standen, weil diese ihr Versprechen gebrochen hatten, gegen den Krieg einzutreten.

  2. Quelle: Wikipedia, «Manifest internatsional noi sotsialisticheskoi konferentsii v Tsimmervalde, 15. 9. 1915» (Das Zimmerwalder Manifest). In: Trotzki, «Voina i Revolyutsiya» (Krieg und Revolution), 1922, Band .II, Seiten 52 – 55. Deutscher Text nach: Angelica Balabanoff, «Die Zimmerwalder Bewegung 1914 – 1919», Leipzig (Hirschfeld) 1928, Seiten 17 – 20.

  3. Es handelt sich um die ersten vier Zeilen der 5. Strophe aus dem Originaltext der Internationale von Eugène Pottier (1871), die in der bekanntesten und bis heute am weitesten verbreiteten deutschen Nachdichtung von Emil Luckhardt (1910) nicht berücksichtigt wurde. Im vorliegenden Text wurde eine nicht reimende, sinngemäße Übersetzung vorgenommen.

Die Konterrevolution im Sommer? «Die Konterrevolution steht in Kürze bevor. Die Vorbereitung der Konterrevolution geht zügig voran und zum Glück kann sie auf Stützpunkte und Unterstützung in der Bauernschaft zählen, der sie die Landverteilung versprochen hat – womit mittlerweile alle einverstanden sind. Dabei sollen die Großgrundbesitzer nicht enteignet werden.

Die Bauern sind von den Forderungen der Arbeiter nach dem Achtstundentag und Lohnerhöhungen brüskiert. Diese Verärgerung zwischen den beiden Klassen, nährt ihren gegenseitigen Hass.

Die Idee der Konterrevolution wird von den großen und kleinen Geschäftsleuten der großen und kleinen Städte befürwortet. Außerdem hält ein Großteil der Studenten in allen wichtigen Städten eine Diktatur für nötig. Die Kräfte, auf welche sich die Konterrevolution stützen kann, setzen sich zusammen aus den Offizieren und den Kadetten der Militärakademien, den vor kurzem aus der Armee entlassenen Unteroffizieren, den Kosaken bzw. den loyalen Kosakeneinheiten, von denen einige in der Umgebung von Petrograd stationiert sind.

Die neue Armeeführung – inklusive des Gouverneurs von Petrograd (General Kornilow), der seine Absichten aber verbirgt – hat noch größere diktatorische Tendenzen als die vorherige.

Moskau steht an der Spitze der Bewegung. Es mangelt nicht an Geld. Man sagt, dass die Konterrevolution bedeutende Finanzmitteln von den Franzosen und Engländern erhalten hat. Die Banken hätten ebenfalls große Summen gegeben.»

Auszüge aus den Notizen von M. de Maleizy, Geheimagent der französischen Militärmission in Petrograd; veröffentlicht in «Svobodnaïa Mysl», Moskau, September 1997.