Der folgende Artikel wurde bereits in der Berliner Wochenzeitung Freitag veröffentlicht. Wir fanden seinen Inhalt so interessant, dass wir ihn auch den Leserinnen und Lesern des Archipel zugänglich machen wollen. Es handelt sich um ein Gespräch zwischen Marina Achenbach1 und dem Filmemacher Zoran Solomun 2 über den Verlust eines einzigartigen Staates und ein Gleichnis, das in Europa bis heute nicht begriffen wird.
Vor 13 Jahren kam der Belgrader Filmemacher Zoran Solomun nach Berlin. Er wollte Abstand zur nationalistischen Entwicklung gewinnen. Sohn und Tochter brachte er mit, beide im schulpflichtigen Alter. Nach gewisser Zeit spürten sie, dem Krieg davon gelaufen zu sein. Das waren Jahre, in denen Solomun seine Kinder, wenn sie die Mutter in Belgrad besuchen wollten, nur bis Budapest bringen konnte. Selbst wollte er die Grenze nach Serbien nicht überschreiten, aus Angst, zum Militär eingezogen zu werden.
Längst sind kreuz und quer die neuen Grenzen durch das damalige Jugoslawien gezogen. Allmählich öffnen sie sich wieder für die Landsleute von einst. Wie sich alle für eine neue Staatsangehörigkeit entscheiden oder Beweise vorlegen mussten, dass sie überhaupt ein «Heimatrecht» hatten, war scheußlich. Man könnte alles, was in Jugoslawien unter dem Zeichen der Nationalstaatsbildung geschah, als Geschichte eines Irrsinns beschreiben. Die meisten haben es hinter sich gebracht. Nur in Serbien mit seinen vielen Flüchtlingen, den albanischen Dörfern im Süden, der internationalisierten Provinz Kosovo und dem sich lockernden Bund Serbiens mit Montenegro bleibt vieles offen und ungeklärt.
Fern vom zerfallenden Land waren die Kinder von Zoran Solomun gezwungen, ihre Identität zu wechseln. Sie kamen als Jugoslawen nach Deutschland, dann galt das niemandem mehr etwas. Wer Jugoslawien kaum kannte, verlangte doch Auskunft: Was bist du? Serbe oder Kroate? Später, als viele bosnische Flüchtlinge kamen, wurden sie vor allem zu ihnen gezählt.
Zoran Solomuns Sohn lebt in Berlin inzwischen mit einer jungen Frau aus Bosnien zusammen. Beide würden das nie als etwas Besonderes betrachten und es kaum erwähnen. Dass sie unterschiedliche Geschichten hinter sich haben und weiterhin erleben, macht ihr Leben interessant, bereichert sie, trennt sie nicht.
Weil die jugoslawischen Bürgerkriege unverstanden blieben, begreifen viele bis heute auch die danach folgenden Kriege nicht: UN-Blauhelme aus aller Welt, die nichts verhindern, emsige Hilfsorganisationen, stets präsente Medien, die ihre Konsumenten zu Zeugen oder zu Komplizen machen, nationalistische Kriegsführer, die auftauchen und wieder verschwinden, absurde Allianzen ohne Bestand, Embargos und Boykotte, die Hungersnöte unter Millionen Menschen auslösen, Flüchtlingsströme, Terrororganisationen, die Hightech-Kriege der USA und ihrer Verbündeten. Vieles wiederholt sich und erinnert an die Zerstörung Jugoslawiens vor zehn Jahren - es scheint Willkür zu sein oder eine Kette von Zufällen.
Und dann entstehen manchmal Gespräche, die ein erhellendes Licht auf die verworrenen Geschehnisse werfen. Nach solchen Gesprächen bedauert man, dass kein Tonband mitlief, um andere daran teilhaben zu lassen. Immer wieder trifft man doch auf Menschen, die ein Thema ausdauernd verfolgen, nicht nur sporadisch. Aus ihrer eigenen Erfahrung und dank ihrer Lektüre kommen sie zu Erkenntnissen, die den Nebel des Halbwissens vertreiben. Es erschien mir manchmal verlockend, eine Reihe von «Gesprächen mit klugen Freunden» zu veröffentlichen, jenseits von Aktualitätsdruck und der so genannten politischen Korrektheit. Das Gespräch mit Zoran Solomun würde dazu gehören.
Lebt im Heute, blickt nicht zurück!, werden wir ständig aufgefordert, von der Werbung, aus esoterischen Gefilden. Tatsächlich kann Nostalgie dumm und blind machen, doch es gibt auch große Missverständnisse mit diesem Appell. Den berühmten Schlussstrich darf man nach Konflikten wie dem in Jugoslawien erst ziehen, wenn man zumindest begriffen hat, wie die andere Seite die Dinge sieht und wenn nichts Rachsüchtiges und Verlogenes mehr im Spiel ist.
Wirklich «heutig» ist, wer das Vergangene mit dem aktuellen Zustand verbinden kann. Einer der letzten Dokumentarfilme von Zoran Solomun heißt Der chinesische Markt . Aber dieser Markt liegt in Budapest. Die chinesischen Händler haben sich mit Lastkraftwagen auf den langen Weg gemacht und verkaufen in Budapest Textilien und andere Dinge an Menschen, die wiederum lange Wege aus Bosnien, Serbien und Albanien hinter sich gebracht haben und die Waren in ihren Städten weiterverkaufen. Sie alle finden radebrechend zu einer Verständigung. Sie sind tief erschöpft, aber beharrlich, sie tun ihre Dinge klaglos. In gewissen Grenzen können sie auf Hilfe von ihresgleichen rechnen, sie kennen diese seltsame Welt gut, die sich da herausgebildet hat. Sie sind die Umhergetriebenen, auf die niemand blickt, sie löffeln die Suppe aus, die ihnen ihre globalisierten Eliten eingebrockt haben, die an den Kategorien des Nationalismus fest halten und sich für keine Manipulation zu schade sind.
Im Gespräch: Zoran Solomun
Freitag: Vermutlich begegnet Ihnen bis heute manchmal das Bild vom aggressiven Serbien, das seine Nachbarrepubliken überfallen hat. Haben Sie das Bedürfnis, Serbien zu verteidigen?
Zoran Solomun: Mein Schmerzpunkt ist der serbische Nationalismus. Ich habe mich zwar immer als Jugoslawe und nicht als Serbe verstanden - aber in Belgrad bin ich aufgewachsen, dort habe ich studiert, das ist meine Stadt, meine Identität, neben anderen. Darum hat mich der serbische Nationalismus mehr getroffen als der kroatische, slowenische, muslimische oder albanische. Ich habe die serbischen Tschetniks (einst monarchistische Kämpfer - d. Red.), Milosevic´ und seine Manipulationen aus tiefster Seele gehasst. Aber die Vorstellung, der ich in Deutschland begegne, die Serben seien wild und gewalttätig, finde ich scheußlich. Solcherart Feindproduktion betreibt Europa immer.
Erleben Sie es, dass man Sie zu den «bösen Serben» zählt?
Nein, böse sind inzwischen irgendwie alle, auch die Kroaten, die Muslime, Kosovaren. Was vorherrscht, ist ein Nicht-Begreifen. Das war auch währ end der Kriege in Jugoslawien die Botschaft aller Politiker-Reden und Medien-Berichte: man kann es nicht verstehen. Den Grund dafür habe ich erst allmählich herausgefunden. Man hätte hier, um die Entwicklungen auf dem Balkan zu durchschauen, viele Kategorien, die in Westeuropa selbstverständlich und positiv sind, in Frage stellen müssen.
Sie meinen, Westeuropa hat den nötigen kritischen Blick auf sich selbst verweigert. Der Gerechtigkeit halber sollte man erwähnen, dass es sich wegen seines zögerlichen Eingreifens der Schwäche geziehen hat.
Ich meine etwas ganz anderes: Man wollte die nationalen Kategorien nicht antasten. Für Westeuropäer gehört das Nationale zur Natur wie die Bäume oder die Luft. Sie wissen es nicht einmal. Es steckt tief in ihrem Denken. Sie glauben an nationale Eigenschaften, als wären das uralte Unterschiede zwischen den Menschen. Als ich 1990 nach Deutschland kam - aus einem Jugoslawien, in dem der Nationalismus aufblühte - sah ich hier im Supermarkt eine Packung mit zehn «deutschen Eiern» und habe laut gelacht. Auf dem Balkan wäre so etwas ein Witz gewesen. Früher zumindest. So weit gingen dort die nationalen Identifikationen nicht.
Hätten die Westeuropäer angesichts der Kriege in Jugoslawien das nationale Denken verurteilt, das sich auch in der so überzeugend klingenden Formel vom «Selbstbestimmungsrecht der Völker» verbarg, hätten sie über ihren eigenen Nationalismus reden müssen. Um das zu vermeiden, haben sie betont: Es geht in Jugoslawien um alte Rechnungen aus dem Zweiten Weltkrieg oder aus der Zeit des Berliner Kongresses Ende des 19. Jahrhunderts.
Stimmte an diesen Erklärungsversuchen nichts?
Triebfeder in Jugoslawien waren ganz und gar heutige Interessen von Eliten, die eine privilegierte Stellung behalten oder erringen wollten. Dafür haben sie die Nationalismen fabriziert, die etwas Virtuelles hatten - schnell für den sofortigen Gebrauch hergestellt. Das war und ist sehr sichtbar, wenn man es sehen will.
Ja, man sieht oft nicht, was völlig offen abläuft: Kassandra ist nicht nur deswegen eine Prophetin, weil sie in die Zukunft schaut, sondern weil sie ausspricht, was sich vor aller Augen abspielt. Haben Sie und andere in Jugoslawien den Nationalismus in seinen Anfängen erkannt?
Zwischen 1980 bis 1990 ließ sich im Fernsehen und auf der Straße beobachten, wie Nationalismus und dann Krieg produziert wurden. Das lief offen ab, eine geplante Produktion, ein Schritt nach dem anderen. Es begann mit einer Krise im Kosovo Anfang der achtziger Jahre, als die Arbeiter dort - die serbischen wie die albanischen - zu Recht unzufrieden waren und streikten. Die Politiker begannen, die serbischen Arbeiter, eine Minderheit, zu bestechen - mit Wohnungen oder besseren Jobs. Eine Spaltung auf nationaler Basis. Dann gab es keine Streiks mehr, sondern eine separatistische, albanische Bewegung. Die Kosovo-Krise von 1981 diente der Armee Jugoslawiens dazu, wieder eine Legitimation zu finden.
1999 diente wiederum der im Kosovo entfachte Krieg der NATO zu ihrer Legitimierung, die sie nach Auflösung der Sowjetunion schwinden sah. Weshalb fürchtete die jugoslawische Armee 1981 um ihr Existenzrecht?
Ich kann es vielleicht anhand der Geschichte meines Vaters erklären. Er wurde in einer der ärmsten Gegenden Bosniens geboren, in einer Bauernfamilie mit elf Kindern. Sozial engagierte Leute brachten ihn und andere nach Belgrad in eine Lehre. Auch in der Stadt liefen sie barfuss, so arm waren sie, es gibt ein Foto davon.
Diese jungen Männer wurden von der Kommunistischen Partei angesprochen, als 1941 die deutschen Truppen einmarschiert waren. Die Partei sagte meinem Vater, der 19 war: Geh in dein Dorf und organisiere den Widerstand. Er wusste nicht, wie man schießt oder eine Truppe zusammenhält. Und was hat er getan? Zuerst hat er seine Familie mobilisiert, seine Schwester, zwei Brüder. Die gingen in den Wald, andere folgten. Nach einem Jahr erst hörten sie von Tito. Am Ende des Krieges, nach vier Jahren, zählte diese Armee 800.000 Mann, alle in Uniform, streng und gut organisiert. Mein Vater blieb in der Armee und wurde Offizier.
Die Armee wurde nach dem Krieg halbiert ...
... aber sie blieb eine der größten der Welt und war ein sozialer und wirtschaftlicher Faktor. Sie vergab Wohnungen und Renten, für sie arbeiteten ganze Industrien. Die Legitimationskrise kam, als die internationalen Spannungen abnahmen, und Jugoslawien mit einer wirtschaftlichen Depression zu kämpfen hatte. Die Armee suchte eine Lösung für sich, und die einzige, auf die ein solcher Apparat kommen kann, ist Krieg. So wurde ein Krieg produziert, im Kosovo 1980, 1981.
Begannen damit die Manipulationen mit dem nationalen Denken?
Damit begann der Nationalismus, seine Aggressivität zu zeigen. Die Weichen dafür wurden schon 1968 gestellt. Ich habe das intensiv miterlebt. Studenten besetzten in Belgrad die Uni. Die jugoslawischen Kommunisten waren schockiert, dass es eine spontane Opposition gegen sie gab und sie trotz ihres großen Geheimdienstes nichts davon wussten. Sie fühlten sich gefährdet. Da war ein Knick.
Inwiefern?
Weil die Regierung nach 1945 zunächst ungeheuer erfolgreich war. Das Wachstum lag über Jahre bei zehn bis zwölf Prozent. Mit ihrer Disziplin und ihrer Idee, die noch sehr unverbraucht war, haben die Kommunisten Millionen Menschen alphabetisiert. Die Absage an Stalin 1948 und die Arbeiterselbstverwaltung ab 1953 hatten aus Jugoslawien etwas Besonderes gemacht, ein Land, das experimentierte und tatsächlich neue Wege suchte, auch wenn die Kommunisten immer die Kontrolle über alles ausübten. Aber dann zeigte sich 1968 diese oppositionelle Energie. Ich war 15. Ich sah die Universität, das ganze Gebäude mit roten Tüchern behängt und mit einem großen Bild von Karl Marx.
Weil wir heute alle Skeptiker sind, möchte ich doch fragen, ob sich in den Studentenprotesten wirklich ein politischer Wille ausdrückte oder dies geliehen war, da solche Aktionen 1968 einen westlichen Appeal hatten?
Natürlich haben die Studenten Ideen entlehnt, aber sie waren links, sie wollten den Sozialismus reformieren, die Selbstverwaltung zu einer echten machen. Sie waren gegen die sogenannte rote Bourgeoisie, wollten Gerechtigkeit. Die Dichterin Desanka Maksimovic - später leider auch eine serbische Nationalistin - trat auf und sagte: «Junge Leute, merken Sie sich, was Sie jetzt fühlen. Sie werden das ganze Leben davon zehren.» Eine solche Energie gab es in Jugoslawien nie wieder, höchstens eine Ahnung davon, als im Winter 1996/97 die Belgrader drei Monate lang täglich gegen Milosevic demonstrierten. Aber das war keine Bewegung mit sozialen Visionen. 1968 stiegen in Bosnien Arbeiter in Züge und wollten die Studenten unterstützen. Da haben die Kommunisten eingegriffen und mit Militär und Polizei die Züge gestoppt. In Belgrad haben sie auch mit auffahrenden Panzern die Studenten auseinandergetrieben.
Gleich danach wurde der jugoslawische Studentenbund aufgelöst, der die Basis der Proteste war. Statt dessen wurden Studentenbünde Serbiens, Kroatiens, Mazedoniens - also separat in den einzelnen Republiken - gegründet. Das nannte sich Dezentralisierung und war eine Teilung nach nationalen Kriterien.
Fortsetzung in der nächsten Nummer