Mani(1) ist in der iranischen Diaspora in Zürich aufgewachsen. Aus Angst vor Konsequenzen hat sie sich bisher allerdings nicht zu den Protesten geäussert. In ihrem offenen Brief(2) teilt sie uns ihre Überlegungen über die iranische Revolution mit und darüber, was wir tun können, um diese zu unterstützen.
Jîna Amini wurde am 16. September 2022 ermordet. Sie war eine junge Frau aus der westiranischen Stadt Saqqez, gerade zu Besuch in Teheran, als sie von der Sittenpolizei darauf hingewiesen wurde, dass sie ihr Kopftuch nicht angemessen tragen würde. Aus diesem Grund wurde sie auf die Polizeistation mitgenommen, wo sie kurze Zeit später zusammenbrach und plötzlich verstarb. Offiziell heisst es, dass sie unter Vorerkrankungen litt, die zum Tod geführt hätten. Sehr viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie mittels Schlägen auf den Kopf in Polizeigewahrsam umgebracht wurde. Dieser Vorfall war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und eine Protestwelle auslöste, wie sie die islamische Republik seit ihrer Gründung nicht gesehen hat.
Ich habe lange zur Situation im Iran geschwiegen. Um genau zu sein, mein ganzes Leben lang. Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr einreisen könnte. Noch mehr Angst hatte ich aber davor, nicht mehr ausreisen zu können. Wenn man wie ich in der iranischen Diaspora aufwächst, dann wächst man mit Geschichten von Doppelbürger·inne·n auf, die im Gefängnis gelandet sind, weil sie sich trauten, über Missstände im Iran zu schreiben. Damit bringt man nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch die eigene Familie, die dort lebt. Diese könnte jederzeit verhört und dazu gezwungen werden, sich von «Vaterlandsverrätern» zu distanzieren. Aus diesem Grund vermied ich es bisher, mich öffentlich zur Regierung und der politischen Situation im Iran zu äussern. Angesichts der aktuellen Gewaltexzesse kann ich aber nicht länger schweigen. Ich möchte nicht länger in meiner Ohnmacht gefangen sein und zusehen, ohne aktiv zu werden, weil ich mich ständig um meine Familie sorgen muss.
Es geht um mehr als das Kopftuch
Die erste Frage, die mir Personen hier in der Schweiz jeweils stellen, wenn wir auf den Iran zu sprechen kommen, ist, ob ich ein Kopftuch tragen muss, wenn ich meine Familie besuchen gehe. Meistens bleibt das die einzige Frage. In meiner Familie tragen viele das Kopftuch freiwillig. Alle sind aber der Meinung – wie die meisten Iraner·innen –, dass Frauen nicht vorgeschrieben werden darf, wie sie sich zu kleiden haben. Die jetzigen Proteste sind deshalb selbstverständlich feministische Proteste gegen Kleidervorschriften. Die patriarchale Unterdrückung von Frauen und (gender-)queeren Menschen geht aber weit über den Kopftuchzwang hinaus und betrifft alle Lebensbereiche. Beispielsweise zählt die Stimme einer Frau vor Gericht nur halb so viel wie die eines Mannes.
Die Proteste richten sich aber auch gegen die jahrelange Unterdrückung von religiösen und ethnischen Minderheiten, die Verfolgung von politischen Aktivist·inn·en, gegen ihre Folter und Tötung. Auch die Misswirtschaft und Abschottung sowie unwürdige Arbeitsbedingungen tragen dazu bei, dass die jetzigen Demonstrationen seit über drei Monaten nicht abreissen.
Bestimmt habe ich es mir auch bis zu einem gewissen Grad einfach gemacht, indem ich bisher nicht über die Situation im Iran geschrieben und mich auch auf Social Media nicht dazu positioniert habe. Obwohl ich selbstverständlich eine klare Position vertrete. Ich habe mich bis anhin auch deshalb nicht positioniert, weil es nicht einfach ist, an vertrauenswürdige Informationen heranzukommen. Die iranische Regierung sorgt dafür, dass in kritischen Momenten der Internetzugang eingeschränkt oder komplett eingestellt wird. Besonders in den Regionen, die von Minderheiten bewohnt werden, wie etwa Kurdistan, Belutschistan oder Khuzestan werden so die schlimmsten Gräueltaten verschleiert. Auch Jîna Amini stammte aus Kurdistan.
Durch diesen Mangel an Information erfahren wir in der Schweiz auch erst im Nachhinein davon, wenn an Demonstrationen im Iran geschossen wurde oder gar ganze Gebiete bombardiert wurden. Neben dem Gebrauch von Munition werden Vergewaltigungen als Abschreckungstaktik eingesetzt und bevorzugt gegen Frauen und Kinder eingesetzt. Bisher weiss man von über 400 Toten, davon über 50 Kinder und Jugendliche. Weitaus mehr wurden verletzt. Jedes Mal, wenn ich denke, dass die Gewalt ein Ausmass erreicht hat, dass nicht mehr zu überbieten ist, erreichen mich neue, noch schockierendere Nachrichten.
Protestaktionen und Streiks
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Rückhalt, den das Regime in der Gesellschaft noch geniesst, verschwindend gering ist. Der Unmut ist in allen Gesellschaftsschichten gross. Schüler·innen und Studierende protestieren und streiken genauso wie etwa Arbeiter·innen der Ölfirmen. Während es in Teheran immer wieder Momente der Ruhe gibt, kennen einige der Randregionen, die schon lange unterdrückt werden, seit drei Monaten nichts als den Ausnahmezustand. So auch Saqqez, die Herkunftstadt von Jîna Amini, in der hauptsächlich Menschen aus der Arbeiter·innenklasse leben. Politische Aktivist·inn·en und Streikende im Iran halten uns dazu an, die Aufmerksamkeit nicht zu verlieren. Druck von aussen – von der Strasse und den sozialen Medien – kann einen Beitrag dazu leisten, das Regime im Iran zu beeinflussen. Es ist daher wichtig, dass die Menschen im Iran nicht in Vergessenheit geraten. Auch wenn die mediale Aufmerksamkeitsspanne generell sehr gering ist, selbst bei lebensbedrohenden Umständen und revolutionären Protesten.
Tausenden politischen Gefangenen wird im Moment mit Exekutionen gedroht. Es herrscht die begründete Angst, dass diese ausgeführt werden, sobald die Welt wieder wegschaut. Unter den Gefangenen, denen der Tod droht, sind auch die beiden Journalistinnen, die die Ermordung von Jîna Amini publik gemacht haben.
Gegen die Ohnmacht und das Vergessen
Was können wir also als Einzelne tun, um den Menschen im Iran zu helfen? Der Zahlungsverkehr in den Iran ist extrem eingeschränkt oder gar komplett blockiert, was die finanzielle Unterstützung der Menschen vor Ort erheblich erschwert. Das ist eine Folge von jahrelangen Sanktionen. Trotzdem gibt es einige Organisationen, die nicht im Iran ansässig sind und zum Beispiel Demonstrationen organisieren, an die man Geld spenden kann: Da wären beispielsweise Freeiran.ch in der Schweiz oder Feminista.Berlin in Deutschland. Es ist ebenfalls möglich, politisch aktiven Menschen im Iran einen VPN(3) zu kaufen, um ihnen einen unabhängigen Internetzugang zu ermöglichen. Eine Organisation, die ein solches VPN-Projekt unterhält, ist zum Beispiel Disco Teheran. Für Leute, die technisch versiert sind, gibt es auch die Möglichkeit, selbst Proxy-Anbieter·in zu werden, damit Menschen vor Ort verschlüsselt kommunizieren können und nicht Gefahr laufen, ins Visier der Sicherheitskräfte zu gelangen. Proxies sind Programme, die dabei helfen können, Internet-Sperren zu umgehen.
Während ich allgemeinen Sanktionen sehr kritisch gegenüberstehe, da sie meist die Zivilbevölkerung und damit die Falschen treffen, erachte ich gezielte Sanktionen als sinnvoll und zielführend. Das bedeutet, dass sich Politiker·innen in der Schweiz dafür einsetzen müssen, Konten von Menschen, die wichtige Rollen im iranischen Regime einnehmen, einzufrieren und diese Menschen ausserdem mit Einreisesperren in die Schweiz zu belegen. So kann gezielt Druck auf die Machthabenden ausgeübt werden. Und dazu braucht es Druck auf unsere Politiker·innen.
Wer kann, sollte deshalb unbedingt an Solidaritätskundgebungen und Demonstrationen in der eigenen Umgebung teilnehmen. Einerseits werden so Menschen in der Schweiz auf die Situation im Iran aufmerksam, andererseits ist es für die Menschen im Iran unglaublich wichtig zu sehen, dass sie nicht vergessen werden und ihre Revolution auch im Ausland unterstützt wird.
Wer selbst auf Social Media aktiv ist, kann Inhalte teilen, damit die Revolution nicht in Vergessenheit gerät. Ozo Ozar informiert aus Berlin sowohl auf Instagram als auch auf Tiktok über die aktuelle Situation. Ozi ist vor einigen Jahren aus Teheran nach Deutschland gekommen. Auch die Journalistin Danirla Sepehri informiert vertieft über Themen wie die Revolutionsgarde oder das Frauengefängnis in Qarchak. Das «Collective for Black Iranians» macht aufmerksam auf Streiks und Proteste sowie auf jene Menschen, denen die Todesstrafe droht, wie etwa Niloofar Hamedi und Elham Mohammadi, die als Erste über die Ermordung von Jîna Amini berichtet haben. Um auch im digitalen Raum Druck aufzubauen, kann man Politiker·innen in Beiträgen taggen, um sie auf spezifische Posts aufmerksam zu machen.
Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass die mutigen Menschen, die im Moment ihr Leben riskieren, um gegen ein unmenschliches Regime zu protestieren, erfolgreich sind und ich eines Tages in ein freies Land einreisen kann, um meine Familie wieder in die Arme schliessen zu können.
Mani am 4. Januar 2023
Name von der Redaktion geändert
Dieser offene Brief wurde bereits am 06.01.2023 in «Das Lamm» veröffentlicht und von der Autorin und der Lamm-Redaktion zur Publikation an den Archipel weitergegeben.
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