In Bandar Anzali, einer kleineren Stadt am iranischen Ufer des Kaspischen Meers, wurde ein junger Autofahrer, nachdem er durch Hupen an den Freudenbekundungen über die Niederlage des eigenen Landes bei der Fussball-Weltmeisterschaft teilgenommen hatte, am selben Abend durch die «Sicherheits»behörden erschossen.
Der klare Jubel über das Unterliegen der «eigenen» Mannschaft drückt vor allem einen Gedanken aus: Von den Herrschenden im eigenen Land trennt uns unendlich viel mehr, als wir mit ihnen gemeinsam hätten.
Der junge Mann war einer von rund 475 Menschen1, die seit Ende September 2022 aus politischen Gründen, aufgrund von Unmutsbekundungen im Zusammenhang mit der laufenden Protestbewegung im Iran vom Staatsapparat zu Tode kamen. Daneben wurden im selben Zeitraum rund 18.000 Menschen festgenommen. Die erste Vollstreckung eines Todesurteils, das in diesem Zusammenhang ausgesprochen wurde, fand am 8. Dezember in Teheran statt. Die derzeitige Protest- oder Umwälzbewegung begann in der zweiten Septemberhälfte, nachdem am 16. September der Tod der drei Tage zuvor in Teheran festgenommenen 22jährigen iranisch-kurdischen Studentin Mahsa Amini bekannt geworden war. Über die Verstorbene wurde bekannt, dass ihre Familie ihr den kurdischen Namen Jina geben wollte, ihr dies jedoch durch die Behörden verboten wurde. Die so genannte Moralpolizei – auf Persisch «Gascht-e erschad», ungefähr «Orientierungspatrouillen» – hatte die junge Frau am 13. September aus einem Auto im Stadtverkehr herausgegriffen, weil sie ihr Haupthaar angeblich in der Öffentlichkeit nicht züchtig genug verhüllt hatte.
Aufgrund der aufflammenden Proteste, die nach der Veröffentlichung des «Falls» Jina Amini2 im ganzen Iran ausbrachen, geriet das Regime massiv unter Druck. Am 3. Dezember verkündete Generalstaatsanwalt Mohammed Dschafar Montazeri bei einer Pressekonferenz, die Sittenpolizei sei angeblich «aufgelöst». Dies stellt ein symbolisches Zugeständnis dar, wurde aber auf breiter Front mit Misstrauen aufgenommen, und dies zu Recht. Dies löst natürlich als solches keines der Probleme. Die formal aufgelösten Einheiten von «Gascht-e erschad» waren nur eine unter mehreren Strukturen, die den offiziellen Auftrag hatten bzw. haben, notfalls mit Gewalt und Zwang durchzusetzen, was die Regimeideologie als allgemeinverbindliche Moral definiert.
Autoritäre Remoralisierung
Diese Struktur wurde 2005 unter dem damals frisch gewählten Mahmud Ahmedinedjad gegründet. Doch den Verhüllungszwang für Frauen verkündete der ideologische Anführer der so genannten «Islamischen Revolution», Ayatollah Ruhollah Khomeini, am 6. März 1979, also nur gut einen Monat, nachdem der zuvor (zunächst im Irak und später in Frankreich) exilierte Kleriker und Ideologe am 1. Februar 1979 in den Iran zurückgekehrt und im Triumphzug vom Flughafen Teheran durch die Stadt gezogen war.
Abgeordnete des «Medschlis», des iranischen Einkammerparlaments – der früher als Oberhaus dienende Senat wurde aufgelöst –, kündigten Anfang Dezember 2022 eine «Überarbeitung» der Gesetzgebung in diesen Fragen an. Näheres dazu war bei Redaktionsschluss nicht festgelegt. Eine Tatsache steht jedoch mit Bestimmtheit fest: Dieses Regime kann, solange es existiert, keine Bekleidungsfreiheit zulassen, ebenso wie eine generellere Freiheit der individuellen Lebensgestaltung. Dies wäre schlicht mit seiner politisch-ideologischen Natur unvereinbar.
Die Essenz, der politische Wesenskern der Ideologie dieses Regimes – und dies weitgehend unabhängig von seiner personellen Besetzung, auch wenn es graduelle Unterschiede, Abstufungen bei der Brutalität ihrer Umsetzung gibt – liegt in der Vorstellung, eine bedrohte «kulturelle Identität» müsse mit allen Mitteln repariert bzw. wiederhergestellt werden. Die Veränderung familiärer Strukturen oder der Mentalität jüngerer Generationen wird durch diese Ideologie als der Ausfluss äusserer Aggression wahrgenommen. Die auf ökonomischer Ebene tatsächlich existierende imperialistische Dominanz wird durch die Regimeideologie nicht wahrgenommen: Die wirtschaftliche Durchdringung, die Vormachtstellung ausländischer Kapitalinteressen wurde durch die so genannte «Islamische Revolution» ab 1979 zu keinem Zeitpunkt beendet; lediglich wurden US-amerikanische Akteure verdrängt und zunächst durch bundesdeutsche und japanische Kapitalinteressen ersetzt, während an den Hochschulen marxistisch geprägte Lehrkräfte gegen z.T. in den USA geschultes, nicht kapitalkritisches Personal ausgetauscht wurden. Statt jedoch diese reale Dominanz zu analysieren, wofür diese Ideologie keinerlei Instrument besitzt, wird eine halluzinierte «kulturelle Aggression und Unterwanderung» bekämpft.
Verknüpft wird dieser Kernpunkt islamistischer Programmatik mit einem Gerechtigkeitsversprechen, das darauf beruht, dass verbreitete Unmoral für Korruption sorge, welche wiederum die Quelle der wichtigsten gesellschaftlichen Missstände und Ungerechtigkeiten darstelle. Das Programm der autoritären Remoralisierung der Gesellschaft werde diesen also Abhilfe verschaffen.
Aufgrund der sozialen Begleitmusik, aber auch der Ausnutzung religiöser Gefühle und der Empathie für die «Märtyrer», die der iranische Islamismus während des Krieges mit dem Irak bis in die späten achtziger Jahre hinein reichlich produzierte,3 verfügt das neue Regime anfänglich über eine echte, breite Massenbasis. Diese zerfiel jedoch sehr schnell. «Dank» des Kriegszustandes – der Iran-Irak-Krieg kostete insgesamt bis zu einer Million Toten – konnte das Regime sich jedoch ab circa 1981 durch eine Notstandsdiktatur und patriotische Appelle an der Macht halten.
Auch innerhalb der Organe der Diktatur wich die anfänglich starke ideologische Motivation in Teilbereichen dem zynischen Gefallen an Machtmissbrauch und Korruption. Nicht alle, aber einige, die im Dienste dieses Regimes stehen, agieren eher aus Opportunismus und Vorteilnahme, während anfänglich geteilte Überzeugungen enttäuscht wurden und irgendwann verflogen. Dem Verfasser dieser Zeilen wurde 1992 in einem Haus in Teheran türkisches Dosenbier und Weisswein aus Benzinkanistern aufgetischt. Das wäre normalerweise für den Gastgeber hochgefährlich. Es stellte sich im Laufe des Abends heraus, dass der Hausherr einen Mitgliedsausweis der «Pasdaran» (Revolutionswächter), der ideologischen Prätorianergarde des Regimes, in der Tasche hatte. Beim illegalen Alkoholhandel war er jedoch nicht weit von der Quelle entfernt.
Wie weiter?
Mehrere Perspektiven sind heute denkbar. Eine mögliche Entwicklung läuft auf einen definitiven Zusammenbruch des Regimes, begünstigt auch durch innere Widersprüche in den teilweise morsch gewordenen Organen, hinaus. Es würde nicht durch Sozialismus abgelöst, sondern durch eine mehr oder minder instabile bürgerliche Demokratie, die aber mit starken sozialen Bewegungen konfrontiert wäre.
Der Minimalkonsens unter denen, die dieses Regime endlich abschaffen wollen – das sind über drei Viertel der Bevölkerung – ist die Wiedererlangung individueller Freiheitsrechte, da deren Unterdrückung den Kern der Ideologie und der Praxis der bestehenden Diktatur bildet. Nicht die Klassenfrage. Doch beide sind miteinander verstrickt und verwoben. Denn wer es sich finanziell leisten kann, weicht heute im realen Leben so oft wie möglich in Ausweichräume aus, im Sommer in Dubai, im Winter in den Skigebieten am Damawand (nördlich von Teheran), wo die Überwachung gering ausfällt. Doch wer arm ist, kann dem staatsoffiziellen Zwangsmoral-Terror nicht entrinnen. Es gab Perioden, in denen diese Frage gegenüber der dringlichen Frage des ökonomischen Überlebens im Alltag in Teilen der Unterklassen als relativ sekundär gelten konnte. Dem ist längst nicht mehr so.
Im «Fall Amini» erleben alle Teile der iranischen Gesellschaft symptomatisch die Auswüchse eines Staatsterrors, denen sie über Klassen- und Schichtengrenzen hinweg längst leid sind. Vor allem aber gingen dieser Protestbewegung andere im Winter 2017/18 sowie 2019/20 voraus, bei denen es um ökonomische Fragen wie Preiserhöhungen für Grundbedarfsgüter ging – die Repression forderte im zweitgenannten Falle rund 1500 Tote – und die in die jetzige Explosion der Unzufriedenheit mit einflossen. Sozioökonomische Aspekte und individuelle Freiheitsrechte lassen sich deswegen kaum noch auseinanderdividieren.
Vorstellbar wäre jedoch auch ein Putsch aus einem Flügel der bewaffneten Staatsorgane, falls sich etwa die «Pasdaran» aufspalten sollten. An ihnen hängt ein riesiges Wirtschaftsimperium, das ihre Mitglieder bewahren möchten, eventuell um den Preis, das Regime und seine Ideologie oder Teile davon zu opfern. Nun ist ein Teil dieser Elitetruppe der Diktatur fanatisiert und ideologisiert, doch längst kritisieren ältere Kommandanten – die es sich aufgrund ihres Status oder ihres potenziell gefährlichen Wissens um die Korruption von Offiziellen leisten können – in von ihnen kontrollierten Medien oder Blogs offen am Regime herum. Das reicht vom Bemängeln von dessen «Inkompetenz» bis hin zu «Dialog»forderungen gegenüber den Protestierenden. Eigeninteressen, welche die längerfristige Bewahrung der eigenen Errungenschaften betreffen, spielen dabei natürlich eine Hauptrolle.
Sei ein künftiges Regime nach der «Islamischen Republik» nun selbst autoritär oder demokratisch verfasst: Es wird damit umgehen müssen, dass es mit Massenbewegungen konfrontiert ist. Dabei geht es um den Wunsch nach einem Minimum an individueller Selbstbestimmung, aber auch um soziale Interessen. Darüber hinaus spielen jedoch auch die nationalen Minderheiten, die im Vielvölkerstaat Iran fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, eine wichtige Rolle. Dass Mahsa Amiri Kurdin war und nach ihrem Tod zur Leitfigur der neuen Protestbewegung wurde, mit der sich nun Viele identifizieren, schwächte den in der Gesellschaft durchaus vorhandenen persischen Chauvinismus gegen nationale wie konfessionelle, da mehrheitlich sunnitische, Minderheiten. Im iranischen Kurdistan ebenso wie im südöstlich gelegenen Balutschistan, wo die staatliche Repression jeweils besonders krass wütete, liegen Zentren des Protests.
Bernard Schmid, Autor und Anwalt*
*Unser Freund Bernard Schmid lebt in Paris und arbeitet für verschiedene deutsche und französische Zeitungen. Diesen Artikel schrieb er auch für die Monatszeitung «Konkret».
So viele waren es bei Redaktionsschluss dieses Artikels am 9. Dezember 2022.
Die Journalistin Nilufar Hamidi von der iranischen Zeitung «Sharq» («Osten», «Orient») wurde deswegen am 22. September festgenommen und bis zum 26. September 2022 waren es bereits achtzehn Presseschaffende.
1980 griff die irakische Diktatur unter Saddam Hussein (mit damaliger Rückendeckung durch die USA und Frankreich) den durch die vorherige Revolution destabilisierten Iran an, doch spätestens ab 1983 hatte der Iran militärisch die Oberhand gewonnen und führte den Krieg aus eigenem Antrieb bis 1988 fort.